Wir hatten uns so sehr auf unser neues Büro gefreut. Endlich keine Durchgangszimmer mehr. Seit März sitzen fast alle von uns verteilt im Home-Office und haben uns als Redaktion nur einmal im Sommer zu einer Klausur-Sitzung an der freien Luft gesehen. In Zahlen betrachtet haben wir nur an 52 von 254 Arbeitstagen unsere Büros in Berlin und Brüssel normal nutzen können. Jeder sogenannte „Lockdown“ stellt Teile unserer Redaktion unter eine harte Prüfung, denn immer mehr Kinder bereichern unser Leben, wollen aber auch betreut werden. Unser gemeinsamer Alltag besteht aus Chats und Videokonferenzen und das wird leider absehbar so weitergehen.
Trotzdem bleiben wir motiviert, denn die äußeren Umstände lassen nichts anderes zu. Unser Themenfeld weitet sich aus und täglich müssen wir harte Entscheidungen treffen, was wir mit unseren knappen Ressourcen bearbeiten können, und was leider liegen bleibt. Die große Koalition nutzt ihre Zielgerade, um viele neue Gesetze mit noch mehr Überwachungsmaßnahmen auf den Weg zu bringen. Und die Netzpolitik spielt noch mehr in Brüssel und Straßburg als zuvor.
Unser Output ist trotz aller widrigen Umstände gleich geblieben. 2020 haben wir bisher 1.157 Artikel mit 1.239.860 Wörtern publiziert. Darunter sind auch einige sehr lange Gesetzesentwürfe, die wir einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich machen konnten, weil die jeweiligen Ministerien offensichtlich zu wenig Platz auf ihren eigenen Servern haben. Unser festes Team besteht aus 15 Personen, die Ende November auf 11,9 Stellen verteilt waren. Dazu kommen unsere wenigen festen Freien und insgesamt 69 Gastbeiträge, die uns mit ihrer Expertise bereichern.
Wir haben bisher 23 Podcasts veröffentlicht, jede Woche erscheint unser netzpolitischer Wochenrückblick als Newsletter und wir haben seit März 163 Ausgaben unseres wochentäglichen bits-Newsletter verschickt.
Wir haben mehr Leser:innen und Spender:innen als jemals zuvor
Wir tracken unsere Leser:innen nicht, aber trotzdem haben wir Annäherungswerte, wie häufig wir gelesen werden. Und die Zahlen gehen gut nach oben. Unser Maschinenraum berichtet von rund drei Millionen IPs (im November) und einer Steigerung der monatlichen Zugriffe um über 30 % im Vergleich zum Vorjahr.
Das deckt sich auch in etwa mit steigenden Spenden-Einnahmen im Rahmen unserer freiwilligen Leser:innenfinanzierung, die uns eine kritische und unabhängige Berichterstattung ermöglicht. Im vergangenen Jahr haben wir von 7.050 unterschiedlichen Spender:innen eine finanzielle Förderung erhalten.
In diesem Jahr sind es Stand Mitte Dezember bereits 11.083, vor allem durch viele Klein-Spender:innen! Das ist eine Steigerung von über 50 %. Das ist ein bisschen unglaublich und wir haben es mehrfach nachgerechnet. Im vergangenen Jahr haben wir insgesamt rund 630.000 Euro Spenden erhalten. Stand 30. November waren wir schon bei 604.710 Euro und der Dezember ist traditionell der stärkste Spenden-Monat. Hier nochmal ein großes Dankeschön an alle, die das möglich machen und uns in unserer Unabhängigkeit stärken!
Im Moment fehlt uns noch etwas zum Erreichen unseres Spendenziels. Alles darüber hinaus können wir als Investition ins nächste Jahr mitnehmen und unsere Arbeit damit ausbauen.
Kommen wir zum inhaltlichen Part, das waren die Top-Themen des Jahres in der Netzpolitik und natürlich bei uns.
Corona in a nutshell: Warn-Apps, Polizeilisten, Desinformation und analoges Bildungssystem
Die netzpolitischen Auswirkungen der Corona-Pandemie waren selbstverständlich ein großes Thema bei uns. Wir haben die Entwicklung der Corona-Warn-App und die Debatte darum die ganze Zeit eng verfolgt, auch wenn wir irgendwann müde davon wurden, wenn alte weiße Männer mit viel Meinung aber wenig Technikkenntnis in Talkshows über den vermeintlich störenden Datenschutz schimpften. Wir haben auch Verbesserungsvorschläge formuliert. Im Sommer gab es ein sehr umfangreiche FAQ zum Thema.
Das Anlegen von Listen wurde zum Besuchen von Restaurants und Bars zu einem Volkssport, Polizeibehörden fanden das als Ermittlungsinstrument spannend. Wir nicht.
Mit den ersten Ausgangsbeschränkungen im Frühjahr wurde auch Licht auf die verschleppte Digitalisierung des Bildungssystems geworfen. Viele Eltern und Schüler:innen sind immer noch traumatisiert von den Erfahrungen und freuen sich schon auf die kommenden Wochen Home-Schooling. Es gibt aber Hoffnung: Wir haben viele engagierte zivilgesellschaftliche Initiativen vorgestellt, die datenschutzfreundliche Videoplattformen auf Basis Freier Software betreiben. Viele Versprechungen wurden von der Politik gemacht und vielleicht gibt es zum Ende dieser Pandemie etwas mehr Digitalisierung an unseren Schulen.
Wir werden alle zwangsverchipt!11 Was letztes Jahr noch fast witzig war, wurde dieses Jahr tierischer Ernst. Zumindest in Teilen der Gesellschaft und befeuert durch Plattformen wie YouTube, Telegram und Facebook. Wir haben viel zum Thema Verschwörungsmythen erklärt und recherchiert. Wir wissen immer noch nicht, wieviel Geld bei einigen Verschwörungsunternehmen landen, haben aber das System verstanden und nehmen uns für die nächste Pandemie vor, damit richtig reich zu werden. Fast schon ein Klassiker: Was tun, wenn Deine Eltern an Verschwörungsmythen glauben?
Noch viel mehr Überwachung wagen
Wir hatten es schon Ende des vergangenen Jahres befürchtet, die Realität wurde aber noch schlimmer als gedacht. Auch die aktuelle Große Koalition nutzt die Ziellinie dieser Legislatur, um möglichst viele Überwachungsgesetze auf den Weg zu bringen und frühere Rekordergebnisse noch zu toppen.
Das BND-Gesetz wurde für in Teilen verfassungswidrig erklärt, aber es kommt sofort wieder und mit nicht weniger Überwachung. Staatstrojaner gibt es bald für jede Behörde, dafür aber auch Razzien bei Staatstrojaner-Anbietern.
Verschlüsselte Kommunikation soll Hintertüren bekommen, so zumindest der Wunsch unseres Innenministeriums, das diese Idee auch im Rahmen der EU-Ratspräsidentschaft weiterverfolgt hat. Die Vorratsdatenspeicherung bleibt ein netzpolitischer Zombie, der ständig wieder auftaucht. Selbst das IT-Sicherheitsgesetz bringt mehr Überwachung, wenn es denn irgendwann mal reformiert wird. Überhaupt sollen unsere Behörden auch viel mehr hacken dürfen, was als Hackback diskutiert wird.
Es gibt neue Polizeigesetze mit mehr Überwachung, aber wenigstens Berlin hat es besser gemacht. Weniger Überwachung gibt es immer noch bei der Frage, wie geschützte Meldeadressen aus Polizeidatenbanken an Nazis gelangen konnten. Wir sprachen dazu mit der Kabarettistin İdil Baydar in unserem Podcast über Bedrohungen, Hass und Rassismus in Polizei und Gesellschaft. Und sonst können wir die vielen Einzelfälle von rechtsradikalen Chatgruppen in Sicherheitsbehörden nicht mehr zählen.
Aber auch private Akteure bauen Überwachungsmöglichkeiten massiv aus, müssen dabei manchmal nach unseren Recherchen die Europäische Union schnell verlassen, wie es das ehemalige polnische Gesichtserkennungsunternehmen Pimeyes gemacht hat. Es fehlt aber leider immer noch ein Verbot von automatisierter Gesichtserkennung im öffentlichen Raum. Julian Assange sitzt immer noch im Gefängnis und wartet auf seine mögliche Auslieferung an die USA. Das Verfahren ist ein politischer Prozess und gefährdet die Pressefreiheit.
Augen auf die europäische Ebene
In diesem Jahr lief sich die EU-Kommission warm und die europäische Ebene zeigte, dass dort die wichtigen Entscheidungen getroffen werden. Wir haben eng die fast nicht vorhandene Debatte um die Verordnung gegen Terrorpropaganda verfolgt, mit der schnelle Reaktionszeiten für Webseitenbesitzer:innen und Uploadfilter zu erwarten waren – bei einer so vagen Terrordefinition, dass auch legitimer Protest darunterfallen kann. Das Ergebnis ist auch dank unserer Berichterstattung nicht ganz so schlecht wie erwartet.
Max Schrems hat auch das Privacy-Shield abgeschossen, dafür hat die Werbeindustrie durch ihr Lobbying besseren Schutz von Verbraucher:innen gegen intransparentes Tracking im Netz im Rahmen der ePrivacy-Verordnung verhindert. Diese kann man mittlerweile auch als BER der Netzpolitik bezeichnen.
Mitte Dezember erschien dann endlich mal der Gesetzentwurf für das Digital-Dienste-Paket, das wir schon im Sommer als Plattformgrundgesetz ankündigten und die bisherige Debatte abbildeten. Das wird die zentrale netzpolitische Debatte der kommenden zwei Jahre sein. Wir werden auch den weiteren Verlauf des Gesetzesprozess sehr ausführlich verfolgen.
Plattformen gewinnen an Macht
Und da wären wir auch beim nächsten Themenblock. Die großen Plattformen sind mit ihren Infrastrukturen in diesem Jahr noch mächtiger und größer geworden. Und viele negative Effekte der Digitalisierung haben mit den Mechanismen von Facebook, YouTube, Telegram und Co. zu tun.
Wir haben belegt, wie TikTok durch Shadowbanning LGBTQ-Themen und politische Hashtags zensiert und dass die Plattform ihre eigenen Altersbeschränkungen nicht durchsetzt.
Amazon empfiehlt penetrant den Kauf von Verschwörungsliteratur mit seinen algorithmischen Entscheidungssystemen. Twitter, Facebook, YouTube und Co. taten sich im US-Wahlkampf schwer, mit den Lügen und Betrügereien von Donald Trump und Verschwörungsideologien wie QAnon angemessen umzugehen. Wir haben genau verfolgt, wie Desinformation funktioniert und welche Strategien genutzt werden sowie welche Maßnahmen die Plattformen dagegen treffen. Es gibt neue Kartellverfahren, die auch längst überfällig sind.
Dass das Thema in der realen Welt Auswirkungen hat, zeigte Anfang des Jahres das Attentat in Hanau, das befeuert wurde aus dem Netz.
Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz hat das Problem des Hasses im Netz bisher noch nicht zufriedenstellend gelöst, ein Update sollte mehr Überwachungsmaßnahmen bringen, wurde aber vom Bundespräsidenten gestoppt.
Von Urheberrechten, Netzsperren und Medienstaatsverträgen
In Deutschland trat etwas unbemerkt der Medienstaatsvertrag der Bundesländer in Kraft, der zu neuen Regeln bei der Inhalteregulierung führt. Was die konkreten Auswirkungen sind und wie dieser interpretiert wird, wird sich noch zeigen. Einige Medienanstalten knöpfen sich jetzt Porno-Plattformen wegen des mangelnden Jugendschutzes vor und holen als mögliche Regulierungsmaßnahme die alten Netzsperren aus der Mottenkiste. Es gibt aber auch Alternativen dazu.
Die EU-Urheberrechtsreform soll an nationales Recht angepasst werden. Und selbstverständlich reden wir auch wieder über Uploadfilter, mit denen voriges Jahr niemand mehr zu tun haben wollte. Dazu stehen derzeit sogar die klitzekleinen Ausnahmeregelungen für Memes vor dem Aus, es läuft also genauso wie wir und viele andere das im vergangenen Jahr vorausgesehen haben. Die Musikindustrie geht dafür mittlerweile wegen potentieller Urheberrechtsverletzungen gegen Freie Software vor. Aber auch Regierungen nutzen das Urheberrecht, um missliebige Berichterstattung auch in Deutschland löschen zu lassen.
Brandaktuelle Zahlen liegen derzeit nicht vor, aber bis zum Beweis des Gegenteils müssen wir davon ausgehen, dass der Breitbandausbau dieses Jahr genauso schleppend verlaufen ist wie in den Jahren zuvor. Dafür gab es rechtlich ziemlich große Umwälzungen, die sich wohl in den kommenden Jahren bemerkbar machen werden: Künftig soll staatliche Hilfe deutlich ausgeweitet werden, der Rechtsrahmen wurde weitflächig umgekrempelt, dafür aber das Recht auf schnelles Internet zusammengestutzt.
Dafür gibt es gleich mehrere Datenstrategien und mit der Registermodernisierung kommen wir den gläsernen Bürger:innen näher. Google betreibt weiter munter politisch-mediale Landschaftspflege, was wir in mehreren Artikeln im Rahmen unserer Recherchen zu „Medienmäzen Google“ thematisiert haben. Wir haben dank Hartnäckigkeit und Informationsfreiheitsrechten Drehtürwechsel zwischen EU-Kommission und Lobbying aufgedeckt.
Freifunk wird endlich gemeinnützig, gemeinwohlorientierter Journalismus leider noch nicht. Und generell fehlt weiterhin Rechtssicherheit für zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich im Sinne der Demokratie engagieren.
Was fehlt? Wir haben mit Rezo über seine mediale Rolle gesprochen. Wir fanden Guerilla-Werbung für einen Drogen-Shop. K-Pop-Stans haben US-Proteste im Netz aufgemischt. Leonhard Dobusch, unser Mann für das Internet im ZDF-Fernsehrat, hat in diesem Jahr 16 Kolumnen über seine Arbeit in diesem Gremium und seine Ansichten zur Debatte um die Zukunft des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks publiziert. Gut, dass er da drin sitzt.
In diesem Jahr haben wir auch mehr Kooperationen mit anderen Medien gemacht, worauf wir etwas stolz sind. Denn vernetzt mit Anderen können wir Ressourcen und Know-How zusammenschmeißen und gute Recherchen machen. Das werden wir ausbauen und freuen uns darauf.
Dieses Jahr war auch insofern besonders, weil wir noch nie so viele Drohungen erhalten haben, mit Anwälten gegen unsere kritische Berichterstattung vorzugehen. Das ist in Einzelfällen auch geschehen, aber Dank unseres großartigen Medienrechtsanwaltes Thorsten Feldmann und seinem Team von JBB haben wir keine Niederlage einstecken müssen.
Das war unser kleiner Jahresrückblick auf 2020. Wenn Ihr mehr über uns erfahren wollt, findet Ihr hier 16 Gründe, um unsere Arbeit zu unterstützen.
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