In unserer Reihe „Offene Bildungsinfrastrukturen“ wollen wir Einblicke in erfolgreiche Bildungsprojekte geben, die mit Nutzung von Open-Source-Technologien offene und datenschutzfreundliche Lösungen entwickeln. Für dieses Interview haben wir mit Steffen Haschler gesprochen, der in der Metropolregion-Rhein-Neckar am Aufbau einer eigenen Jitsi-Instanz für Schulen beteiligt ist. Die ehrenamtliche Initiative hatte Glück, dass sie schnell eine Stiftung gefunden hat, die sie unkompliziert und rasch unterstützte. So dass jetzt viele Lehrer:innen und Schulen davon im Lockdown profitieren können
netzpolitik.org: Du bist Lehrer und aktiv bei „Chaos macht Schule“. Kannst du kurz erklären, wie du da hingekommen bist und was du da machst?
Steffen Haschler: Ich bin Lehrer an einem Heidelberger Gymnasium und engagiere mich bei Chaos macht Schule, das ist ein dezentrales Bildungsprojekt im Umfeld des Chaos Computer Club. Wir setzen uns dafür ein, dass das Spannungsfeld technischer und sozialer Entwicklungen auch bei Jugendlichen ankommt. Wir wollen also Medienkompetenzen fördern und die digitale Mündigkeit von Kindern und Jugendlichen stärken. Normalerweise gehen wir dafür in Schulen und machen kleine Kurse mit den Klassen oder beraten Lehrende.
netzpolitik.org: Jetzt sind die meisten Schulen geschlossen. Wie habt ihr darauf reagiert?
Steffen Haschler: Mir ging es erst mal so, dass ich weder als Lehrer meine eigene Klasse sehen, noch mit „Chaos macht Schule“ in anderen Klassen aktiv werden konnte. Ich habe mit meinen Schülerinnen und Schülern dann recht schnell auf Videokonferenzen umgestellt. Ich finde es für das Gruppengefühl in der Klasse sehr wichtig, sich auch mal sehen zu können – insbesondere wenn die Schulschließungen wochenlang anhalten. Ich habe dafür zuerst einen der großen Anbieter genommen, was ja datenschutztechnisch eigentlich eine Katastrophe ist. Wir haben im „Chaos macht Schule“-Team dann überlegt, ob wir den Schulen nicht etwas quelloffenes und kostenfreies zur Verfügung stellen könnten – und kamen dabei auf Jitsi.
netzpolitik.org: Was habt ihr konkret unternommen, um Schulen die Nutzung von Jitsi möglich zu machen?
Steffen Haschler: Die Software selbst kann man sich einfach herunterladen, die liegt quelloffen bei Github. Und in meinem Mannheimer Club hat sich Stean sofort bereit erklärt zu helfen und hat Jitsi auf einer Virtuellen Machine auf einem Server schnell zum Laufen gebracht. Da hätten wir wahrscheinlich auch eine eigene Ressource nutzen können. Aber wir hatten das Glück, dass wir vor Ort ein Rechenzentrum haben und Matthias als Geschäftsführer hat sofort angeboten, dass wir seine Server dafür kostenfrei nutzen dürfen.
netzpolitik.org Wie funktioniert das konkret? Du nutzt eure Jitsi Umsetzung mit deinen Schüler:innen, andere Lehrer:innen tun das auch. Wie verbreitet sich das?
Steffen Haschler: Wir haben mit der Stadt Heidelberg angefangen, da wir mit ihr gut vernetzt sind. Das Amt für Schule und Bildung hat unser Angebot über seine Mailverteiler publik gemacht, genauso wie das Medienzentrum. Schnell hatten wir vor Ostern genug Testklassen und das Angebot kam gut an. Aber natürlich ging es auch um rechtliche Fragen: weil bei der Nutzung natürlich personenbezogene Daten verarbeitet werden, mussten wir entsprechende Verträge aufsetzen.
Hier kam die Hopp Foundation ins Boot und hat nicht nur bei den juristischen Dingen gestüzt, sondern beispielsweise Leute bezahlt, die professionelle Erklärvideos erstellt und Material erarbeitet haben. Für Schülerinnen und Schüler, für Eltern aber auch die Schulleitung und Lehrkräfte.
netzpolitik.org: Wie wichtig war die Hopp-Foundation um das Projekt weiter zu skalieren? Hättet ihr das auch alleine hinbekommen?
Steffen Haschler: Das ist keine einfache Frage. Grundsätzlich haben wir gemerkt, dass die Software unheimliche Last erzeugt – das wird schnell teuer. Und dass die Lehrenden wenig Erfahrung im Umgang mit solchen Technologien haben und Begleitung brauchen. Bei beidem hat uns Gepa Häusslein als Geschäftsführerin die nötigen finanziellen Mittel freigegeben und sich organisatorisch zwischen die Schulen und uns gestellt, sodass die Schulen mit der Stiftung alles abwickeln konnten. Das war eine riesige Erleichterung. Ich denke, wir hätten es ohne sie bestenfalls geschafft, Strukturen für die Heidelberger Schulen aufzubauen. Die Hopp-Foundation hat als Förderbereich die Metropolregion Rhein-Neckar – also ein recht großer Einzugsbereich über drei Bundesländer hinweg. Diese Region abzudecken, das hätten wir alleine nie geschafft, glaube ich, und auch gar nicht so groß gedacht.
netzpolitik.org: Ihr habt es jetzt geschafft, ein offenes und datenschutzfreundliches System aufzubauen, das in einer größeren Region genutzt werden kann und bietet auch Materialien für Lehrende an, die vielleicht nicht ganz so viel Digitalkompetenz haben. Wie kommt das bei der Verwaltung und bei Lehrenden an?
Steffen Haschler: Also ich glaube, dass die Heidelberger froh darüber waren. Heidelberg ist ja auch ein Schulträger und muss gucken, wie die Schulen jetzt mit dem längeren Lockdown klar kommen. Wir wollten nach Ostern etwas anbieten – auch für Lehrerkonferenzen zum Beispiel. Wir haben oft gehört, dass viele glücklich waren, dass wir uns mit unserem Know-How da eingebracht haben. Abgesehen davon, dass es noch technische Probleme gibt – auch Server-seitig, weil wir im Moment mit Überlastungen kämpfen – gab es überwiegend positives Feedback. Dass es schön ist, in der Grundschule wieder Vorlesestunden abhalten zu können beispielsweise. Und auch außerhalb haben wir Wertschätzung erfahren. Christian Klein als CEO von SAP wurde auf uns aufmerksam und nun bekommen wir kostenlos die so wichtigen und teuren Videobridges von SAP, die ausreichen werden, um alle Schulen versorgen zu können.
netzpolitik.org: Wie viele Schulen oder Klassen können im Moment im System sein und wo wollt ihr gerne ankommen?
Steffen Haschler: Wenn ich die Zahlen von heute richtig im Kopf habe, waren es 500 Teilnehmende gleichzeitig. Die saßen natürlich in unterschiedlichen Sitzungen – ich nehme mal an es sind so um die 20 bis 30, die gleichzeitig stattfanden. Wir haben im Moment 50 bis 100 Schulen, die unser Angebot grundsätzlich nutzen können. Das heißt wir haben potentiell mehrere Tausend User. Wir wissen aber auch gar nicht, was der tatsächliche Bedarf ist. Unser Angebot spricht sich ja täglich noch weiter im Kollegium herum und wird dadurch je Schule stärker nachgefragt. Gleichzeitig kommen immer mehr Schulen dazu. In der Metropolregion gibt es grob 200.000 bis 300.000 Schülerinnen und Schüler und im Idealfall wollen wir auch allen Schulen ermöglichen, teilzunehmen. Natürlich können und werden aber nicht alle gleichzeitig online gehen.
netzpolitik.org: Wie löst ihr das Problem, dass wahrscheinlich alle Lehrenden zur selben Zeit – nämlich zu normalen Schulzeiten – online gehen wollen und dass sich die Last nicht über den Tag verteilt?
Steffen Haschler: Das ist für uns natürlich ein sehr kritischer Punkt. Wenn wir unsere Pakete an die Schulen schicken, geben wir ihnen schon auch Dos und Don’ts mit. Da bitten wir sie auch, die Sitzungen wann immer möglich über den Tag zu verteilen. Ein weiteres Problem, das wir mit unserem Angebot eher noch verschärfen, ist die Bandbreite der Endgeräte und diese selbst zuhause. Wenn wir jetzt annehmen, dass zwei Kinder zuhause sind, die gleichzeitig Jitsi nutzen wollen, hat man ja im Zweifelsfall auch schon ein Problem. Aber wir hoffen, dass es sich einspielt und Schule vielleicht auch mal ein bisschen rauskommt aus den klassischen Zeitslots.
netzpolitik.org: Nun ist Jitsi wohl noch nicht die perfekte Lösung. Was empfehlt ihr Lehrenden und Eltern? Mit welcher eingesetzten Software gibt es die wenigsten Probleme und das angenehmste Jitsi-Erlebnis?
Steffen Haschler: Jitsi selbst empfiehlt Chrome, wobei wir natürlich immer Chromium als datenschutzsichere Alternative dazu sagen. Außerdem gibt es eine Jitsi-App, die aber auf der Datenschutzebene bedenklich ist, weil sie Google Analytics integriert. Deswegen haben wir gleich noch eine eigene App mit dem Namen „Digitales Klassenzimmer“ raus gebracht (Android | Apple), die man nutzen kann. Das sind im Moment eigentlich die richtigen Wege, um Jitsi gut nutzen zu können.
netzpolitik.org:: Was habt ihr noch für Wünsche, inwiefern sich zum Beispiel Jitsi weiterentwickeln sollte? Was sind Features, die euch fehlen und die den digitalen Unterricht weiter verbessern könnten?
Steffen Haschler: Ich habe mir auch Zoom, das ich selber ein bisschen nutze, und BigBlueButton angeguckt. Insbesondere BigBlueButton kommt, glaube ich, aus der universitären Lehre und hat deshalb auch schon mehr Lehrenden-Features. Was ich mir wünschen würde sind zum Beispiel Breakout-Rooms, mit denen man praktisch den Raum in kleinere Teilräume aufteilen kann. Es gibt auch den Muteall-Button, den wir zu Beginn noch gar nicht in Jitsi hatten – jetzt aber schon. Es wäre schön, ein interaktives Whiteboard zu haben und im Chat Dateien hochladen zu können. Wir haben ja mit Schulen zu tun – auch Grundschulen – und nicht Universitäten. Und die haben gar nicht so viele Funktionalitäten gewollt, wie es die bei BigBlueButton gibt. Die wollten eine simple Lösung ohne zu viele Funktionen und ohne Überfrachtung. Das allerwichtigste, wo auch bei den anderen Diensten viel Luft nach oben ist, ist aber barriereärmer zu werden. Wenn wir an Gehörlosenschulen denken oder an Schulen, wo die Schülerinnen und Schüler körperliche Einschränkungen haben, dann gibt es da eine riesige Leerstelle für die gesamte Technologie. Wir haben bereits Kontakt mit dem Jitsi-Entwicklerteam aufgenommen und werden diesen Punkt, wieder finanziell gestützt durch die Hopp Foundation – bald angehen. Da Jitsi frei ist, werden so viele andere Gruppen von unseren Entwicklungen profitieren. Darauf freuen wir uns.
netzpolitik.org:: Ihr habt innerhalb kürzester Zeit einen guten Prototypen zum Laufen gebracht, der jetzt auch schon ausgerollt wird. Wie kann man euch denn konkret unterstützen, wenn man in eurer Region wohnt und mitmachen möchte? Was sucht ihr?
Steffen Haschler: Also auf jeden Fall kann man uns einfach schreiben: zum Beispiel über unseren Webauftritt bei der Hopp-Foundation oder über den CCC Mannheim. Klar ist: Im Moment sind es Freiwillige, die die Server einrichten und pflegen. Im Moment bauen wir zum Beispiel noch eine Telefoneinwahl. Eigentlich brauchen wir immer Leute, die uns technisch ein bisschen unterstützen können. Finanziell und auch Server-seitig sieht es jetzt mit der Unterstützung der Stiftung und durch SAP total toll aus. Also würde ich sagen: Haken dran, da haben wir es richtig gut. Wo wir wirklich noch Hilfe brauchen, wäre in Hinblick auf die Hardware und den Internet-Zugang in den Elternhäusern. Da brauchen wir Hilfe, um Familien zu stützen, die jetzt an der Hardware scheitern.
netzpolitik.org:: Die Bundesregierung hat ja jetzt 150 Euro für sozial schwächere Kinder versprochen – mal gucken, wann das kommt. Würden 150 Euro für Hardware ausreichen, um ein brauchbares Gerät zu kaufen?
Steffen Haschler: Das diskutieren wir auch gerade auf der Chaos-macht-Schule-Bundesliste ganz intensiv. Persönlich glaube ich da nicht dran. Ich würde eher 300 Euro anpeilen. Die Hardware muss ja robust sein. Bei einem Lenovo-ThinkPad ist das beispielsweise gegeben, das muss ja auch kein Neugerät sein. Bei Leasingrückläufern kommt man zum Beispiel mit 250 bis 300 Euro gut hin und hat ein Gerät, das noch eine Weile hält und gut funktioniert. Es gibt zwar auch kleinere Geräte mit i3-Prozessoren, aber 200 bis 300 Euro sind trotzdem die Dimension, von der wir sprechen – nicht 150. Und dann muss man als Schulträger schon überlegen, da aufzustocken. Du kannst ja nicht sagen, wir kaufen dir jetzt für 250 Euro ein tolles Gerät. Dann bleibt die Familie ja immer noch auf 100 Euro sitzen und das ist in vielen Fällen eine zu hohe Ausgabe.
netzpolitik.org: Können Lehrer:innen, die nicht in der Region Rhein-Neckar wohnen euer Angebot auch nutzen?
Steffen Haschler: Wir haben bis Ende nächsten Schuljahres geplant und wollen das Projekt natürlich auch langfristig weiter anbieten, um auch was Positives aus dieser Pandemiezeit mitzunehmen. Allerdings hat die Hopp Foundation Förderrichtlinien, die nur Angebote für die Region Rhein-Neckar vorsehen. Im Idealfall würden wir nochmal mit SAP darüber reden, das ganze größer aufzuziehen, damit es dann jeder nutzen darf. Letztlich sind ja diese Videobridges bzw. die dadurch verursachten Kosten das Nadelöhr. Wir müssen jetzt aber erstmal gucken, wie unser Projekt skaliert. Das steht noch in den Sternen.
netzpolitik.org: Wie sieht es dann konkret für Lehrer:innen aus anderen Regionen aus? Empfiehlst du, dann einfach eine von den vielen Jitsi Instanzen, die im Netz sind, zu nutzen? Können sie trotzdem auf eure Schulungsmaterialien zurückgreifen?
Steffen Haschler: Die frei zugänglichen Instanzen im Netz sind nicht immer stabil in großen Gruppen. Da muss man dann sicherlich etwas herumstöbern. Zu unserem Material – aber gerne doch! Auch wenn es vielleicht minimale Unterschiede gibt, sind die Jitsi-Anwendungen alle sehr ähnlich. Wir versuchen auch möglichst wenig zu verändern. Da würde ich sagen, das passt. Es gibt auch von Fobizzeine kostenfreie Onlinefortbildung zum Unterrichten mit Jitsi. Außerdem kann man sich per Mail an uns wenden, wenn man noch Fragen hat. Unser Material ist frei lizensiert und kann unter CC-BY weiterverwendet werden.
netzpolitik.org: Vielen Dank für das Interview und die Einblicke. Und Euch noch viel Erfolg und Spaß am Gerät.
(Wir haben das Interview am Montag gemacht. Mittlerweile schafft die Initiative 1000 gleichzeitige Nutzer:innen in bis zu 100 parallelen Sessions. Und die neuen Videobridges kommen erst noch). Das ist beeindruckend, herzlichen Glückwunsch.
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