Kollektive AktionK-Pop-Stans mischen US-Proteste im Netz auf

Bei den Protesten in den USA treten Fans von K-Pop als neue politische Akteure auf, die mit kollektiven Aktionen im Netz gegen Rassismus mobil machen. Was passiert da gerade und was hat koreanischer Pop mit Anonymous zu tun? Eine Spurensuche.

Anonymous-Maske und K-Pop-Glitzer
Anonymous trifft K-Pop. – Alle Rechte vorbehalten Fundstelle @kat0_0rina

Im Rahmen der Proteste in den USA tauchen derzeit auf Twitter unzählige Memes und Tweets mit einem K-Pop-Stan-Hintergrund auf, die für die Proteste sowie gegen Rassismus und Polizeigewalt Partei ergreifen. K-Pop-Stans sind begeisterte Fans von koreanischen Popbands. Das Wort Stan setzt sich aus Stalker und Fan zusammen. Die Szene ist Social-Media-affin und kampagnenerfahren – sie weiß wie kollektive Aktionen online funktionieren.

K-Pop-Stans setzten in der Vergangenheit ihre Accounts und Endgeräte gezielt und koordiniert ein, um etwa die Zahl von Streamabrufen oder Likes ihrer Idole in die Höhe schnellen zu lassen. Die Stan-Kultur hat sich über die (musikalischen) Grenzen Koreas hinaus verbreitet. Schon seit Längerem hat diese internationale, lebendige, bunte, queere und extrem schnelle Subkultur, deren Codes für Außenseiter oft unverständlich sind, die Ebene von Stars und Musik verlassen.

Progressive und politisch bewusste Community

Popkultur-Journalist Hyunsu Yim vom Korea Herald berichtet, dass die K-Pop-Stans schon seit Jahren eine progressive und politisch bewusste Community seien, ganz abgesehen von ihrem extrem hohen Engagement und Organisierungsgrad. Dabei setzen sie sich für viele Themen ein, von sicheren Straßen für Bangladesch bis hin zu Spenden und Charity-Aktionen in London.

Die K-Pop-Stans nutzen die in den letzten Jahren erfahrene Ermächtigung durch kollektive Aktion nun auch online bei den Protesten in den Vereinigten Staaten.

Bewertungen
Die Aktivist:innen nutzten die Bewertungen im App-Store, um die Polizei zu kritisieren. - CC-BY 4.0 Screenshot Google Play Store

Eine Aktion mit diesem Hintergrund richtete sich gegen die Polizei in Dallas. Diese hatte Bürger:innen dazu aufgerufen, Film- und Fotomaterial zur Identifizierung von Personen über die App „iWatch Dallas“ hochzuladen. Dann rief ein Twitter-Account zum Hochladen von K-Pop-Videos auf.

Nachdem die Polizei mit K-Pop-Videos und Bildern von Polizeigewalt geflutet wurde, schaltete sie das Hochladen vorübergehend ab und begründete dies mit „technischen Schwierigkeiten“. Gleichzeitig gaben die Accounts der App schlechte Bewertungen in den App-Stores. Diese kreative Protestaktion wurde von einem Account gestartet, den Buzzfeed News kontaktierte.

Auch netzpolitik.org konnte mit mehreren beteiligten Accounts mittels Privatnachrichten kommunizieren. Es gehe ihnen darum, gegen Rassismus zu kämpfen, sagen die Befragten gegenüber netzpolitik.org. Deswegen verbreiten die Accounts seit Tagen Bilder und Videos von Protesten, kritisieren Polizeigewalt, promoten Petitionen, HowTos und Infoseiten. Oder trollen alle, die für Trumps Amerika stehen.

Die K-Pop-Stans fluteten den Tweet der Polizei Dallas sowie deren App unter anderem mit „Fancams“, wie in der Szene Videos genannt werden. - Alle Rechte vorbehalten Screenshots

Und so kommt es auch, dass ursprünglich von Rechten genutzte Hashtags wie #WhiteLivesMatter oder #whiteoutwednesday aus dieser Szene heraus übernommen und damit „unbrauchbar“ gemacht werden. Auch die Polizei in Kirkland musste die Macht der Stans kennenlernen, als sie dazu aufforderte, man solle den Hashtag #calminkirkland nutzen, um Informationen zu Ausschreitungen mit der Polizei zu teilen. Die Stans fluteten den Hashtag kurzerhand mit „Fancams“, so wie in der Szene kurze Videos genannt werden.

Neue Spielart des kollektiven kreativen Ungehorsams

Auch das Hinweisportal der Polizei von Grand Rapids wurde zum Ziel der Stans. Dort sicherte man das Portal so ab, dass man eine Telefonnummer angeben musste, berichtet Newsweek.com. Schnell tauchte die Idee auf, dass man doch dort die Nummern anderer Polizeireviere eingeben solle.

Die agilen Aktionen richten sich aber nicht nur gegen Polizeien, sondern solidarisierten sich auch mit anderen Protestformen. So wurde eine Frau, die alleine gegen Rassismus demonstrierte, von den Stans hundertfach beglückwünscht.

In den Aktionen der K-Pop-Fans zeigt sich eine neue Spielart des kollektiven kreativen Ungehorsams, der früher in anderer, weniger bunter Form schon bei Anonymous zu finden war.

Anonymous-Maske mit Herzchen
K-Pop-Stans remixen die Anonymous-Kultur, zu der ihre Aktionen Ähnlichkeit aufweisen. - Alle Rechte vorbehalten Twitter @kat0_0rina

K-Pop-Fans bei Anonymous

Und so ist es nur konsequent, dass plötzlich K-Pop-Accounts große Anonymous-Accounts unterstützen. Zwei langjährige englischsprachige Accounts – @YourAnonCentral und @YourAnonNews – haben in den letzten Tagen mehr als drei Millionen Follower gewonnen. Wie viele davon aktive K-Pop-Profile sind und ob sich auch Fake-Accounts darunter befinden, lässt sich allerdings nicht abschätzen.

Klar ist jedoch: Jedes Mal, wenn einer der Anonymous-Accounts einen Tweet absetzt, erhält er derzeit innerhalb von Sekunden tausende Retweets und Likes und hunderte Kommentare, teils mit eingebetteten Gifs. Nach ein paar Minuten haben die Tweets der Accounts manchmal bereits zehntausende Interaktionen.

Vieles spreche dafür, dass diese Reaktionen maschinell generiert seien, sagt jemand aus dem Umfeld von Anonymous Deutschland, der seit Jahren dabei ist und das K-Pop-Phänomen bei Anonymous nun seit Tagen beobachtet. Nicht nur die Geschwindigkeit sei ein Indiz für Automatisierung, sondern auch die Wiederholung von Messages und animierten Bildern in den einzelnen Threads.

Automatisierung „extrem schwierig“

Florian Gallwitz, Professor für Medieninformatik an der Technischen Hochschule in Nürnberg, hält dagegen: In einer Liste von 20 verdächtigen Accounts, die Anonymous Deutschland gesammelt hat, könne er „keinen einzigen finden, der auch nur entfernt wie ein automatisierter Account aussehe“.

Die Begründung von Gallwitz: Viele der Accounts benutzten iPhone- und Android-Clients. Hier wäre es „extrem schwierig, eine realistische Interaktion automatisch zu simulieren“. Außerdem sei Twitter kryptographisch sehr solide abgesichert, man könne also nicht einfach einen Bot bauen, der so tut, als sei er die iPhone-Twitter-App.

Undurchsichtige Gemengelage

Statt um Bots könnte es sich also tatsächlich um sehr aktive Profile aus der K-Pop- und Stan-Twitter-Szene handeln, die Anonymous neues Leben einhauchen und deren Kultur nun remixen.

Möglich ist aber auch, dass neben den echten K-Pop-Stans Spammer, Trolle und sogar ganze Troll-Armeen mitmischen und teilweise nur vorgeben, etwas mit K-Pop zu tun zu haben. So versuchen derzeit zum Beispiel zahlreiche Accounts eine Verwechslung mit großen Anonymous-Accounts herzustellen, indem sie sich ähnliche Namen und Profilbilder geben und so versuchen, Follower zu gewinnen. Einer dieser neuen Anonymous-Accounts mit dem Namen @AnonNewz wurde von Twitter gesperrt. Er war bis vor Kurzem ein Fake-Account, der versucht hatte, Follower mit K-Pop-Giveaways anzuziehen.

Diese undurchsichtige Gemengelage führt zu den unterschiedlichsten Interpretationen, was dort eigentlich gerade passiert. Die Nachrichtenagentur Reuters zitiert Anonymous-Kennerin Gabriella Coleman: Sie habe von Insidern erfahren, dass alte Schlüsselfiguren aus dem Anonymous-Umfeld hinter der Aktion steckten und auch mechanische Verstärkung („mechanical amplification“) im Spiel sei. Die Fähigkeit, viele neue Accounts zu schaffen, sei dabei klassisch für Anonymous. Twitter hingegen sagte gegenüber Reuters, dass sie bei lange existierenden Accounts der Anons keine „substanzielle koordinierte Aktivität“ erkennen könne.

K-Pop-Stans schon bei der Revolte in Chile am Start

Gesichert ist, dass es zahlreiche echte K-Pop-Stans gibt, die sich politisch engagieren. Und es ist nicht das erste Mal, dass sie im Rahmen von großen Protesten auftreten. Massenproteste für eine sozialere Politik und eine neue Verfassung hätten im Jahr 2019 fast den Präsidenten von Chile gestürzt. Der brutale Einsatz von Polizei und Militär gegen die Demonstrierenden rief weltweit Empörung hervor – ein Teil dieser Empörung kam auch aus der K-Pop-Szene. Die chilenische Regierung warf im Dezember 2019 ausländischen K-Pop-Accounts sogar eine Einmischung in innere Angelegenheiten und Aufwiegelung zu Protesten vor.

Netzpolitik.org konnte im Rahmen dieser Recherche Accounts identifizieren, die sowohl in Chile wie auch jetzt bei den Protesten in den USA aktiv waren. Einer dieser K-Pop-Accounts warnt gegenüber netzpolitik.org, dem Thema Fake-Accounts zuviel Aufmerksamkeit zu schenken: „Es gibt wichtigere Themen über die jetzt berichtet werden sollte: Zum Beispiel, dass niemand wegen seiner Hautfarbe ermordet werden sollte.“

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