2015 war das Jahr der Entscheidungen rund um Netzneutralität. Doch während die US-Regulierungsbehörde FCC im Februar starke Regeln zum Schutz des offenen Internets beschlossen hat, konnten sich die EU-Institutionen nicht einmal dazu durchringen, das Wort „Netzneutralität“ in der im Oktober verabschiedeten Verordnung zu erwähnen.
Statt eines Jahresrückblicks in Buchform gibt es dieses Jahr jeden Tag im Dezember einen Artikel als Rückblick auf die netzpolitischen Ereignisse des Jahres. Das ist der fünfte Beitrag in dieser Reihe.
So ist es kein Wunder, dass der an entscheidenden Stellen schwammig gehaltene Text förmlich dazu einlädt, beliebig interpretiert zu werden. Kaum einen Tag nach der Abstimmung im EU-Parlament meldete sich etwa Telekom-Chef Timotheus Höttges zu Wort und sprach von einem „ausgewogenen Kompromiss“ – Anlass genug, um die Alarmglocken schrillen zu lassen.
Zwar sei zu bedauern, erklärte Höttges die Sicht der Industrie, dass überhaupt Regeln aufgestellt wurden, die mehr Regulierung bedeuten würden. Gleichzeitig stelle die Verordnung aber sicher, dass weiterhin „innovative Internetdienste“ entwickelt werden könnten und führte als Beispiele unter anderem Videokonferenzen und Online-Gaming an, die man künftig auf bezahlte Überholspuren auslagern könne.
Diese Auslegung erinnert frappant an die des Digitalkommissars Günther Oettinger, der nicht von ungefähr als industriefreundlich gilt. Auch er bezeichnete den Ansatz als „ausgewogen,“ Spezialdienste zuzulassen, um „Innovationsanreize“ für die europäische IT-Industrie zu schaffen.
Solche Vorstöße sind als Kampfansage an die europäischen Regulierer zu verstehen, denen die Aufgabe zufällt, innerhalb der nächsten Monate verbindliche Leitlinien zu erstellen. Diese sollen die nebulösen Passagen des Gesetztextes mit Inhalt füllen und Unklarheiten beseitigen. Beobachter gehen freilich davon aus, dass dies bloß den Ausgangspunkt für lang anhaltende Rechtsstreitigkeiten bilden wird, die auch in den USA auf der Tagesordnung stehen.
Was ist eigentlich Netzneutralität, und warum ist sie so wichtig?
Unter Netzneutralität versteht man das Prinzip, dass jedes Datenpaket gleichberechtigt behandelt wird, unabhängig vom Sender, Empfänger, dem Inhalt oder der Anwendung. Diese grundsätzlichen fairen Ausgangsbedingungen haben bislang gewährleistet, dass sich das Internet zur der Plattform entwickeln konnte, wie wir sie heute kennen.
Neue und unbekannte Anbieter müssen nicht befürchten, von Platzhirschen ausgebremst zu werden, die ihre Inhalte gerne schneller und zuverlässiger an die Nutzer ausliefern würden als die meist finanzschwächere Konkurrenz. Netzanbieter können dann auch nicht die Rolle eines Türhüters einnehmen und an beiden Stellen abkassieren: Bei den Nutzern auf der einen, und bei den Inhalteanbietern auf der anderen Seite.
Erst diese Gleichberechtigung führt zu Wettbewerb und damit zu Innovation. Ein Zwei-Klassen-Netz hingegen verwandelt das Internet in einen Markplatz, der zwangsläufig große Anbieter bevorzugt und es den Nutzern erschwert oder gar unmöglich macht, selbst darüber zu bestimmen, wo sie sich im Netz aufhalten oder mit wem sie über welche Anwendung kommunizieren.
Wie ist die europäische Regelung zustande gekommen?
Nach der ersten Lesung im EU-Parlament im April 2014, in der die Abgeordneten überraschend starke Netzneutralitätsregeln verabschiedeten, setzte der EU-Ministerrat alles daran, den Gesetzvorschlag wieder zu verwässern. Entsprechend fiel dann auch die Einigung der einzelnen EU-Mitgliedsstaaten vom März 2015 aus, die es Netzanbietern unter anderem erlaubt hätte, den Zugang zu legalen Inhalten zu behindern oder gleich ganz zu sperren.
Die folgenden Trilog-Verhandlungen, in denen sich die Kommission, das Parlament und der Ministerrat auf eine gemeinsame Position einigen mussten, waren von der traditionellen Intransparenz geprägt, die dieses Instrument mit sich bringt. Nur Interviews und gelegentliche Leaks brachten ein wenig Licht in den jeweils aktuellen Verhandlungsstand und zeigten, wie wenig die Kommission und der Ministerrat gewillt waren, sich der Position des Parlaments anzunähern.
Ein erstes Etappenziel wurde schließlich Ende Juni erreicht, unmittelbar vor dem Ende der lettischen Ratspräsidentschaft. Günther Oettinger verkündete auf Twitter die Botschaft mit den unglücklich gewählten Worten, „das Ende von Roaming und Netzneutralität“ stehe unmittelbar bevor. Nach weiteren zähen Verhandlungen nickte der wichtige Industrieausschuss (ITRE) des EU-Parlaments den Verordnungsentwurf im Juli und im Oktober ab, bevor er am 27. Oktober in zweiter Lesung das Parlamentsplenum passierte.
Abgeschlossen ist der Prozess damit jedoch noch nicht: Bis Ende August 2016 hat nun das Gremium Europäischer Regulierungsstellen für elektronische Kommunikation (GEREK) Zeit, um gemeinsam mit der Kommission verbindliche Leitlinien zu erstellen. Diese sollen unter anderem die Rahmenbedingungen für die umstrittenen Spezialdienste festlegen, die Regelungen zum Verkehrsmanagement präzisieren sowie die bislang unklar formulierten Anforderungen an den Internetzugang selbst näher definieren.
Die Schwächen der europäischen Regelung hat die Netzneutralitäts-Expertin Barbara van Schewick in einem Gastbeitrag zusammengefasst (hier im englischen Original). Welche langfristigen Folgen unterschiedliche Regulierungsansätze haben, die bis zur Fragmentierung des Internets reichen könnten, zeigt eine Studie von Ben Scott, Jan-Peter Kleinhans und Stefan Heumann, die zudem den weitgehend unregulierten Peering- und Transit-Markt als großes Problem identifiziert.
Von Internet-Taliban, staatlich diktiertem Einheitsnetz und Umweltschutz
Die öffentliche Debatte war von hemmungsloser Polemik geprägt, der man trotz aller Tragik einen gewissen Unterhaltungswert nicht absprechen konnte. Besonders in Erinnerung blieben uns die Aussagen von Günther Oettinger, der der Netzgemeinde „Talbian-artige“ Tendenzen unterstellte und davor warnte, dass Netzneutralität Leben kosten könnte. Der deutsche Branchenverband Bitkom befürchtete negative Auswirkungen auf die Umwelt und stellte zudem die gleichermaßen absurde Behauptung in den Raum, strenge Regeln zur Netzneutralität würden IPTV, also Fernsehen übers Internet, verbieten.
„Eine Umsatzbeteiligung von ein paar Prozent“ wünschte sich die Telekom Deutschland von geneigten Inhalteanbietern, um die Qualität des Internets zu sichern. Keinesfalls dürfe es zu einem „staatlich diktierten Einheitsnetz“ kommen, mahnte der Ex-Monopolist – eine Argumentation, die Günther Oettinger dankbar aufgriff und die Debatte aus seiner Sicht zusammenfasste: „Man will den Sozialismus durch die Tür der Neutralität einführen.“
Überhaupt ist es auffällig, wie oft sich die Sichtweise des EU-Kommissars mit der der Telekom-Lobby überschneidet. Überraschen sollte das freilich nicht, schließlich trifft sich Oettinger bevorzugt mit Vertretern der Industrie und schummelt bei der Lobby-Transparenz.
Blick nach außen
In den USA drehte sich alles um die Entscheidung der Regulierungsbehörde FCC, Netzbetreiber unter dem „Title II“ des Telecommunications Act als sogenannte „Common carrier“ neu einzustufen. Erst diese Re-Klassifizierung erlaubte es den Regulierern, Provider wie andere Anbieter grundlegender Infrastruktur wie Wasser oder Gas zu behandeln und gab ihnen die Werkzeuge in die Hand, Regeln zur Netzneutralität zu erlassen. Entsprechend wenden sich die laufenden Gerichtsverfahren gegen diese Neueinstufung und könnten bis vor dem Obersten Gerichtshof landen. Natürlich hält das aber Netzbetreiber nicht von Versuchen ab, die Regeln durch die Hintertür zu umgehen.
In Indien gab es in diesem Jahr zwar keine einschlägigen regulatorischen Entscheidungen, dafür aber eine äußerst erfolgreiche Kampagne, die sich gegen die Facebook-Initiative internet.org richtete. Das Projekt wollte zwar kostenlosen, aber auf einige Partnerseiten beschränkte Internetzugänge bieten, verlor aber in Folge des öffentlichen Drucks zahlreiche Kooperationspartner. Die Kampagne könnte als Blaupause für andere Länder herhalten, über denen das vermeintlich freie Facebook-Angebot schwebt.
Die Debatte darüber, welche Auswirkungen solche Zero-Rating-Modelle haben können, ist jedoch noch lange nicht beendet. Beispielsweise konnten sich die unabhängig von internet.org vertriebenen Twitter- oder Facebook-Packs am indischen Markt nicht durchsetzen, während die US-Tochter von T-Mobile mit „kostenlosen“ Musik- und Videostreaming-Angeboten experimentiert – und dabei möglicherweise unbeabsichtigt das Konzept von Datentransferlimits in Frage stellt.
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