Ein ereignisreiches Jahr geht zu Ende. Wie unterschiedlich die netzpolitischen Themen in den vergangenen zwölf Monaten waren, zeigt bereits der Blick auf den Jahresanfang.
Denn noch weit bis in das erste Quartal hinein prägt das Thema Corona unsere Berichterstattung, etwa hinsichtlich der dahinsiechenden Luca-App oder der dauerüberlasteten Hotlines der Corona-Warn-App. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine Ende Februar führt dann online zu Zensur, Propagandaschlachten und Informationskontrolle sowie zu Cyberangriffen, Falschinformationen und digitalem Astroturfing; auf dem Schlachtfeld kommen zudem vermehrt Drohnen zum Einsatz.
Im April einigt sich die EU auf das wichtigste netzpolitische Vorhaben der jüngeren Vergangenheit: auf den Digital Services Act und den Digital Markets Act. Zu einem richtigen „Plattformgrundgesetz“ reicht es zwar nicht. Aber immerhin rüttelt die EU nicht an den Haftungsprivilegien für Online-Dienste oder führt weitreichende Überwachungspflichten ein. Da hätte enorm viel schief gehen können, siehe Chatkontrolle.
Im Spätsommer demonstrieren die Menschen im Iran gegen das dortige Regime – auch und gerade im Netz. Teheran überwacht das Internet daher engmaschig, schaltet weite Teile davon ab, und eine deutsche Tarnfirma unterstützt den Iran mutmaßlich dabei. Die Übernahme Twitters durch Elon Musk Ende Oktober verwandelt die Plattform dann in Zeitlupe endgültig in ein Höllenfeuer, das die ungezügelte Hetze von rechts nährt. Der positive Nebeneffekt: Alternative Plattformen wie Mastodon erhalten massiven Zulauf – mit langfristigen Folgen, deren Tragweite derzeit noch nicht genau abzusehen sind.
Der Herbst beschert uns dann eine hitzige Debatte um die Aktionen der „Letzten Generation“ – eine Diskussion, die vor allem unsere Innenminister:innen gefährlich radikalisiert. Währenddessen richtet Katar in heruntergekühlten Stadien die Fußballweltmeisterschaft aus. Das Emirat präsentiert sich als guter Gastgeber und hackt WM-Kritiker:innen, späht systematisch Fußballfans aus und agiert als Handlanger des iranischen Regimes.
Das erste Jahr der Ampel-Regierung
Wie ein roter Faden durch das gesamte Jahr zieht sich ein anderes vertrautes wie leidiges Thema: die Digitalpolitik der Bundesregierung.
Dass sie sich als Koalition des digitalen Aufbruchs versteht, hat Rot-Grün-Gelb von Anfang an überdeutlich gemacht. Bereits der Koalitionsvertrag enthält ein zentrales Kapitel mit dem Titel „Moderner Staat, Digitaler Aufbruch und Innovationen“, und erstmals gibt es mit Volker Wissing (FDP) – zumindest dem Titel nach – einen Bundesdigitalminister. Auch wenn Wissing vor allem für digitale Infrastruktur zuständig ist, keimt damit zu Jahresbeginn die Hoffnung auf, dass nicht länger Blockchain, Flugtaxis und ähnliche Hirngespinste, sondern die nachholende Digitalisierung des ganzen Landes auf der Regierungsagenda steht.
Zunächst aber herrscht eine ganze Weile Funkstille bei dem „Querschnittsthema Digitalisierung“ (O-Ton beliebiger Bundesregierungsvertreter:innen), bevor netzpolitik.org dann im August den Entwurf der Digitalstrategie leakt. Unter der Überschrift „Gemeinsam digitale Werte schöpfen“ bekräftigt die Bundesregierung darin einmal mehr ihren Willen für „einen umfassenden digitalen Aufbruch“ und entfacht eine Menge alter Leuchttürme. Damit will sie vor allem der Wirtschaft den Weg ins digitale Zeitalter weisen, die Zivilgesellschaft geht bei alledem glucksend unter. Diesen Eindruck können weder der Ende November einberufene Beirat noch das Schaulaufen von Bundesminister:innen, Bitkom und Business auf dem all- und daher auch diesjährigen Digitalgipfel aus der Welt schaffen.
Unterm Strich bleibt zum Jahresende der Eindruck, dass die Digitalpolitik der Ampel sich im Kern kaum von jener der 16 Merkel-Jahre unterscheidet: etliche Willensbekundungen inmitten eines anhaltenden Zuständigkeitschaos bei weiterhin fehlendem Digitalbudget. Weil aber die Ampel verspricht, die Zivilgesellschaft bei der Digitalisierung einbeziehen zu wollen, diese Zusage aber nicht einhält, fällt die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit noch deutlicher ins Auge als zuvor. Was bleibt, ist die Gewissheit, dass wir nach wie vor einen sehr langen Weg vor uns haben und dabei nur die grobe Laufrichtung kennen.
Selbst die Dauerbaustelle Internetversorgung – die Voraussetzung aller Digitalisierung – liegt derzeit brach. Zwar gibt es immerhin eine neue Gigabitstrategie aus dem Hause Wissings. Die setzt jedoch vor allem auf Kontinuität und auf die Hoffnung, dass die Industrie schon genug investieren wird, um den hinkenden Ausbau flott zu machen. Einfach auf Autopilot schalten reicht indes nicht, musste der Digitalminister im Herbst lernen: Auf einen Schlag waren die Fördertöpfe leer, seitdem stockt die Förderung neuer Ausbauprojekte. Das bringt viele Länder bis heute auf die Palme: Nicht nur, weil das ihre eigene Planung über den Haufen wirft, sondern auch weil sie fürchten, dass nun die Potentialanalyse durch die Hintertür kommt – die sie doch gerade erst aus der Gigabitstrategie hinausverhandelt haben. Besonnenes Regierungshandeln, soviel ist sicher, sieht anders aus.
Anlasslose Massenüberwachung I: Chatkontrolle
Dass sich die Digitalpolitik der Bundesregierung auf vertraute Weise zäh anfühlt, dafür ist auch ein Konflikt verantwortlich, der sich im Laufe des Jahres zuspitzt – und zwar zwischen Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP).
Vor allem ein Thema führt dabei immer wieder zu Streit: die anlasslose Massenüberwachung. Oder genauer: die Einführung der Chatkontrolle und die ewige Wiederkehr der Vorratsdatenspeicherung.
Wird die Chatkontrolle verabschiedet, droht damit europaweit eine umfassende anlasslose Massenüberwachung. Sie wäre ein massiver Angriff auf die Privatsphäre von rund 500 Millionen Menschen. Konkret plant die EU-Kommission ein Gesetz zur Bekämpfung sexuellen Missbrauchs von Kindern. Den entsprechenden Gesetzesentwurf haben wir im Mai geleakt. Demnach will die EU Social-Media-Plattformen und Messengerdiensten dazu verpflichten, Millionen Nachrichten auf Anzeichen von möglichem Kindesmissbrauch zu scannen.
Das Vorhaben würde eine gewaltige Überwachungsinfrastruktur etablieren und ist ein fundamentaler Angriff auf die private, verschlüsselte Kommunikation sowie auf die Integrität unserer Endgeräte. Diese Sicht teilen Datenschutzbehörden, Tech-Konzerne, Kinderschutz-Organisationen, der UN-Menschenrechtskommissar, der CCC, der Deutsche Anwaltverein, Software-Entwickler:innen sowie zahlreiche EU- und Bundestagsabgeordnete. Protokolle aus EU-Verhandlungen zeigen zudem, dass auch die EU-Mitgliedstaaten geteilter Meinung sind. Zudem haben mehr als 100.000 Menschen eine Petition gegen die Pläne der EU-Kommission unterzeichnet.
Doch Ylva Johansson, zuständige EU-Innenkommissarin und treibende Kraft hinter dem Ganzen, stellt bislang auf stur. Sie verteidigt die Ausspähung weiter und verweist bei jeder Gelegenheit auf den vermeintlichen Schutz von Kindern. Dabei vermittelt sie allerdings mitunter den Eindruck, nicht genau zu wissen, wovon sie eigentlich spricht.
Die Bundesregierung im offenen Streit
Das Thema Chatkontrolle spaltet auch die Bundesregierung. Sowohl Digitalminister Volker Wissing als auch Justizminister Marco Buschmann lehnen die Pläne ab. Sie zeigen Bundesinnenministerin Nancy Faeser Ende August in einem Brief „rote Linien“ auf. Das Schreiben haben wir auf netzpolitik.org veröffentlicht.
Seinen vorläufigen Höhepunkt erfährt der koalitionsinterne Streit Mitte Dezember, als wir ein Positionspapier des BMI zur Chatkontrolle publizieren. Das Papier bestätigt: Die Innenministerin will, dass Chatnachrichten pauschal durchsucht werden dürfen – und damit den Koalitionsvertrag brechen. Nur einen Tag später leaken wir den Entwurf eines Positionspapiers der Bundestagsfraktionen von FDP und Grünen, mit dem diese die SPD und die Bundesregierung zum Einlenken gegen die Chatkontrolle zwingen wollen.
Unsere Veröffentlichungen tragen dazu bei, den Stein endlich ins Rollen zu bringen: Nur zwei Tage später scheint die Bundesregierung sich einig – zumindest, wenn man einem Tweet von Justizminister Buschmann glauben darf. Er schreibt am 15. Dezember auf Twitter: „Nach einem guten Gespräch mit meiner Kollegin @NancyFaeser kann ich klar sagen: Die Bundesregierung ist sich einig, dass wir klar gegen die Chatkontrolle sind. Eine anlasslose Überwachung privater Kommunikation hat im Rechtsstaat nichts zu suchen.“
Demnach hat Nancy Faeser ihre Position nach monatelangen Auseinandersetzungen in der Koalition und zahlreichen Ausweichmanövern geräumt. Das zeichnete sich kurz zuvor ab, als sie sich öffentlich mehr oder weniger unverständlich gegen die Pläne der EU aussprach, private Chats zu überwachen. Netzpolitik.org wirkt.
Doch für Entwarnung ist es noch zu früh. Denn mehr als genug Anlässe für eine Massenausspähung fände das BMI in einem 15-minütigen Brainstorming-Meeting. Und ausgerechnet Innenministerin Faeser höchstpersönlich würde eine Ablehnung der Chatkontrolle in Brüssel durchsetzen müssen. Bevor aber der sprichwörtliche Bock zum Gärtner gemacht wird, heißt es daher zunächst abwarten. Spätestens Ende Januar soll angeblich ein neues Positionspapier zur Chatkontrolle vorliegen und – hoffentlich – auch den Weg auf netzpolitik.org finden.
Anlasslose Massenüberwachung II: Vorratsdatenspeicherung
Das ist aber nur der eine Streit um anlasslose Massenüberwachung. Der andere spielt sich vorrangig in Berlin ab – auch wenn er einmal mehr auf europäischer Ebene entfacht wurde. Die Rede ist von der Vorratsdatenspeicherung.
Im September erklärt der Europäische Gerichtshof die anlasslose Massenspeicherung von Verbindungs- und Standortdaten zum wiederholten Male für grundsätzlich illegal. Nur mit erheblichen Einschränkungen und anlassbezogen ist es laut EuGH erlaubt, Daten zu erheben und zu speichern. Das Urteil kommt wenig überraschend, ist aber ein weiterer Sargnagel für die Massenausspähpläne und daher auch enorm wichtig.
Der EuGH macht zudem klar, dass die sogenannte Quick-Freeze-Lösung rechtlich möglich ist. Für dieses Verfahren mit Richter:innenvorbehalt setzt sich auch Bundesjustizminister Marco Buschmann ein. Es sieht vor, dass Telekommunikationsanbieter:innen auf richterliche Anordnung Daten für einen bestimmten Zeitraum speichern müssen. Ermittlungsbehörden können diese dann mit einer weiteren Bestätigung durch ein Gericht anfordern. Eine ähnliche Regelung hatte im Jahr 2010 schon Buschmanns Vorvorvorvorgängerin, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), vorgeschlagen. Digital- und Netzpolitik ist ein Hamsterrad.
Ende Oktober legt Buschmann dem Bundeskabinett einen Entwurf für das sogenannte Quick-Freeze-Verfahren vor, den wir ebenfalls auf netzpolitik.org veröffentlichen. Das Verfahren entspricht den Vereinbarungen des Koalitionsvertrags von SPD, Grünen und FDP. Dort steht klar geschrieben, dass es keine anlasslose Datenspeicherung mehr geben soll.
Doch das sehen bekanntlich nicht alle so. Aus Sicht Nancy Faesers schafft der Luxemburger Richterspruch neue rechtliche Ausspähmöglichkeiten, um gegen Gefahren für die nationale Sicherheit und schwere Straftaten vorzugehen. Selbst Klimakleber:innen sollten sich nicht in allzu sicher wähnen. Faeser stellt sich damit klar in die Tradition konservativer Amtsvorgänger und gegen die unmissverständlichen Vereinbarungen des Koalitionsvertrages.
Die Fronten bei diesem Thema werden sich voraussichtlich weiter verhärten. Aktuellen Medienberichten zufolge erwägt Bundesjustizminister Buschmann, den Koalitionsausschuss einzuschalten, um im Streit über die Vorratsdatenspeicherung eine Entscheidung zu seinen Gunsten herbeizuführen. „Wir wollen eben nicht 83 Millionen Menschen in Deutschland anlasslos unter Generalverdacht stellen“, begründete Buschmann dabei seine Überlegungen.
BKA erfolgreich verklagt, FinFisher in die Insolvenz getrieben
Ein weiteres Thema, das uns durch das gesamte Jahr begleitet, sind die Staatstrojaner. Im Frühjahr kommt es dabei zu einer thematischen Staffelübergabe – von FinFisher zu Pegasus.
Ein Staatstrojaner, der uns bereits seit einer gefühlten Ewigkeit verfolgt, stammt aus dem Hause FinFisher. Dass deren Produkte unter anderem vom Bundeskriminalamt eingesetzt werden, wissen wir spätestens seit dem Jahr 2013. Damals haben wir den Deal des BKA mit FinFisher enthüllt. Und seit diesem Jahr haben wir aber auch um Einblick in jene Verträge gekämpft, die dieser Vereinbarung zugrunde liegen.
Seitdem haben wir einen langen Atem bewiesen: Die Vergabeunterlagen der Ausschreibung veröffentlichen wir 2014, den ersten Vertrag dann im Jahr 2015. Bereits damals haben wir das Bundeskriminalamt verklagt. Und als das BKA uns vor drei Jahren wieder nur eine extrem geschwärzte Version hat zukommen lassen, müssen wir dies erneut tun. Anfang August dieses Jahres bekommen wir dann endlich recht: Das Verwaltungsgericht Wiesbaden entscheidet, dass das Bundeskriminalamt uns nicht genug Einblick in den Staatstrojaner-Vertrag mit FinFisher gegeben hat. Die freigeklagte Version des Vertrags veröffentlichen wir ebenfalls.
Doch das ist nicht der einzige Erfolg unserer Arbeit. Denn bereits im März melden drei Unternehmen der Firmengruppe FinFisher Insolvenz an. Im Zuge von Ermittlungen wegen möglicher illegaler Exporte des Trojaners pfändete die Staatsanwaltschaft München zuvor deren Konten. Dass FinFisher ins Visier der Ermittlungsbehörden gerät, verdankt sich auch unseren jahrelangen Recherchen und Veröffentlichungen. Netzpolitik.org wirkt.
Pegasus: Der neue Kopf der Hydra
Das Geschäft mit Staatstrojanern gleicht jedoch einer Hydra. Denn kaum ist FinFisher erledigt, nimmt nur wenige Wochen später, im April dieses Jahres, der Pegasus-Ausschuss im Europaparlament seine Arbeit auf. Er will den Handel und den Einsatz von Staatstrojanern durchleuchten. Für uns ist das die thematische Staffelübergabe von einem Trojaner zum nächsten.
Die bisherigen Erkenntnisse rund um Pegasus sind schlichtweg skandalös. Zusammengenommen unterhält oder unterhielt die israelische NSO Group, die den Trojaner vertreibt, Geschäftsbeziehungen zu 14 EU-Staaten – mehr als die Hälfte der Mitgliedsländer. Weltweit setzen insgesamt rund 50 Länder den Staatstrojaner ein. Ins Visier geraten auch in Europa Oppositionelle, Journalist:innen und Menschenrechtsaktivist:innen.
Am 14. November veranstaltet der Ausschuss eine Anhörung. Unser Redaktionskollege Andre Meister darf an diesem Tag als Sachverständiger zur Lage in Deutschland sprechen. Wir haben Andres Statement, das inoffizielle Transkript der Anhörung und das Video auf netzpolitik.org veröffentlicht.
Staatstrojaner gefährden nationale und europäische Sicherheit
Obendrein haben wir dem Europaparlament in den vergangenen Wochen einen gewaltigen Haufen Arbeit abgenommen. Denn wir haben sämtliche Anhörungen des Pegasus-Ausschusses automatisiert verschriftlicht und die Wortprotokolle auf netzpolitik.org veröffentlicht. Eigentlich ist dies Aufgabe des Parlaments, aber dem war es offenkundig zu teuer, dies zu tun. Also haben wir es gemacht – und werden es auch weiter machen, bis der Ausschuss seine Arbeit beendet. Die Transkripte sind ein unglaublicher Fundus, der auch dem Parlament seine Arbeit erleichtert. Und auch die eine oder andere Firma und Regierung sähe es vermutlich lieber, wenn diese Aufklärungsarbeit nicht so leicht zugänglich wäre. Netzpolitik.org wirkt.
Halten wir an dieser Stelle kurz inne und ziehen ein Zwischenresümee. Wir sind ein vergleichsweise kleines Team von knapp 20 Personen und verfügen nur über begrenzte Ressourcen. Welches andere Medium aber veröffentlicht so beharrlich, langfristig und detailliert solche Recherchen und Berichte, wie wir das tun? Wir belassen es zudem nicht dabei, Texte zu schreiben, sondern klagen im Zweifel auch auf Herausgabe von Informationen, gehen gegen Unternehmen vor, die das Recht brechen, und klären mit unserer Expertise Abgeordnete über Missstände auf. Wie wir dabei vorgehen, zeigen wir euch im Rahmen unserer aktuellen Spendenkampagne in sieben Videos und persönlichen Einblicken.
PimEyes: Angriff auf die Anonymität
Ein anderes Thema, dass die EU gegenwärtig umtreibt, ist der AI Act. Das Gesetzesvorhaben, dessen Eckpunkte derzeit in Brüssel diskutiert werden, soll „Künstliche Intelligenz“ europaweit grundlegend regulieren. Aber wie so oft: Während im Hintergrund eine rechtliche Einhegung neuer Technologien verhandelt wird, schaffen Tech-Plattformen wie PimEyes bereits handfeste Fakten.
PimEyes ist eine Bildersuchmaschine für Gesichter. Dafür durchforstet sie das Netz massenhaft nach öffentlich zugänglichen Fotos und erfasst die biometrischen Daten von Gesichtern. Das Ergebnis ist eine Datenbank von nach eigenen Angaben mehreren Hundert Millionen Gesichtern – und damit ein umfassender und wahrscheinlich rechtswidriger Angriff auf unser aller Anonymität. Wer bei PimEyes ein Gesicht hochlädt, bekommt identische oder ähnliche Gesichter angezeigt, inklusive Link zu den Fundstellen im Netz. So lassen sich auch fremden Gesichtern Namen zuordnen. Im Juli 2020 legen Recherchen von netzpolitik.org erstmals das Missbrauchspotential von PimEyes offen.
Im Mai 2021 leitet der Datenschutzbeauftragte Baden-Württembergs, Stefan Brink, auch aufgrund unserer Berichterstattung ein Verfahren gegen PimEyes ein. Tatsächlich ist es mit Blick auf die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) fraglich, ob PimEyes biometrische Daten ohne vorheriges Einverständnis verarbeiten darf – zumal unsere Recherchen zeigen, wie Männer mit PimEyes fremden Frauen nachstellen wollen. Stalking by Design darf man das wohl getrost nennen.
Dem widerspricht Giorgi Gobronidze entschieden. Er ist seit Anfang 2021 neuer Eigentümer und CEO von PimEyes, das seinen Sitz auf den Seychellen hat. Anders als sein Vorgänger suchte Gobronidze selbstbewusst die Öffentlichkeit. In seinem ersten ausführlichen Interview im vergangenen September erklärt er gegenüber netzpolitik.org, warum er die Technologie für ungefährlich hält.
Auch die baden-württembergische Datenschutzbehörde hat er damit offenkundig nicht überzeugt. Sie hat vor wenigen Tagen das weltweit erste Bußgeldverfahren gegen PimEyes eingeleitet. Das Unternehmen droht damit erstmals mit einer Strafe belegt zu werden. Netzpolitik.org wirkt.
Cookie-Banner: Mit Dark Pattern gegen Verbraucherrechte
Apropos Datenschutz und Strafe: Wer im Netz surft, kommt an nervige Cookie-Banner kaum vorbei. Viele Webseiten versuchen, mit künstlichen Hürden und Design-Tricks an die Datenschutz-Einwilligung ihrer Nutzer:innen zu gelangen. Im September haben wir die 100 reichweitenstärksten Websites hierzulande systematisch untersucht und analysiert, wie viel Mühe Nutzer:innen investieren müssen, um sie möglichst trackingfrei aufzurufen.
Das Ergebnis unserer Recherche ist ernüchternd: Gerade einmal vier der 100 Seiten machen das Ablehnen von Cookies genau so leicht wie das Akzeptieren. 77 versuchen in ihren Cookie-Dialogen, mit farblich hervorgehobenen Buttons – sogenannte Dark Patterns – die Nutzer:innen zur Zustimmung zum Tracking zu bewegen.
Erst durch Berichterstattung wie die unsere, Kampagnen von NGOs und Widersprüchen von Datenschutzbehörden, Hunderten von Abmahnungen und fetten Bußgeldern setzen sich DSGVO-konforme Einwilligungsdialoge mehr und mehr durch. Netzpolitik.org wirkt.
Ausblick: Was kommt 2023 auf uns zu?
Werfen wir zum Ende des Jahres noch einige Schlaglichter auf die sich abzeichnenden Entwicklungen und Ereignisse im nächsten Jahr.
Beim Thema Chatkontrolle darf und kann es keine Entwarnung geben. Hier ist noch weitgehend offen, ob und wie die europaweite Überwachung kommt. Bundesregierung und EU-Kommission könnten sich allerlei Anlässe einfallen lassen, um die Massenüberwachung zu legitimieren und einzuführen. Spätestens Ende Januar sollten wir mehr wissen: Dann kommt das neue Positionspapier zur Chatkontrolle – und wir können es kaum erwarten.
Der Konflikt Vorratsdatenspeicherung vs. Quick-Freeze respektive Faeser vs. Buschmann geht Anfang 2023 in die nächste Runde. Ob die Koalition hier eine Einigung erzielt, die dann auch noch dem Geist und Wort des Koalitionsvertrages entspricht, muss abgewartet und auch bezweifelt werden. Dafür sind die Fronten inzwischen zu verhärtet. Eine Hoffnung bleibt: Die Hinweise verdichten sich, dass Nancy Faeser als SPD-Spitzenkandidatin bei der hessischen Landtagswahl im kommenden Herbst antritt und damit ihr Amt als Innenministerin abgibt. Der Stoßseufzer der Erleichterung dürfte dann nicht nur in den FDP-geführten Ministerien zu hören sein.
Mit Spannung erwarten wir den Abschlussbericht des PEGA-Untersuchungsausschusses im Frühjahr. Die Berichterstatterin des Ausschusses, Sophie in ´t Veld, hat bereits vorab einen eigenen vorläufigen Abschlussbericht veröffentlicht. Schonungslos prangert sie darin an, wie Europa durch Spionage-Software die Demokratie untergrabe. Umso wichtiger aber wird sein, an welchen Punkten der offizielle Ausschussbericht von dem vorläufigen abweicht.
Last but not least: Die Umsetzung von Digital Markets Act (DMA) und Digital Services Act (DSA) stehen an – und das ist fast noch wichtiger als der Wortlaut der Gesetzestexte. Allein auf Deutschland kommen haufenweise Gesetzesänderungen zu, und auch die Industrie wird sich bewegen müssen. Wir bleiben an den entscheidenden Fragen dran: Gelingt das erklärte Ziel, die goldenen Messenger-Käfige von Apple und Meta zu öffnen, und machen kleinere Anbieter wie Signal oder Threema mit? Wird sich Telegram an die neuen Transparenz- und Löschpflichten halten und drohen andernfalls EU-weite Netzsperren? Wie genau wird sich das künftige Verbot personalisierter Werbung für Minderjährige durchsetzen lassen, ohne überall im Internet den Personalausweis vorzeigen zu müssen? Und wird die EU-Kommission im Fahrwasser des DMA tatsächlich einen Gesetzentwurf vorstellen, der die Netzneutralität zum Kentern bringt?
Fragen über Fragen also. Eines steht mit Blick auf 2023 allerdings jetzt schon fest: Das kommende Jahr wird ebenfalls absurde Überwachungspläne, unternehmerische Kapriolen und Überraschungs-Leaks bereithalten. Im Kampf um digitale Freiheiten werden wir weiter recherchieren, berichten und kommentieren. Denn: netzpolitik.org wirkt.
Habt Ihr das Thema Whistleblower-Schutz aus der Zusammenfassung weggelassen, weil Ihr es nicht mit dem Titel („…wirkt…“) verbindet? Aber Ihr habt die Bundestags-Abgeordneten gefragt (=erinnert), ob sie dem in Russland zum Schweigen gebrachten Edward Snowden jetzt helfen wollen (Anton Hofreiter will), Ihr habt über Julian Assange in Belmarsh berichtet, während ihn ARD und ZDF hartnäckigst verschweigen, Ihr habt analysiert, was für einen Whistleblower-Schutz-Gesetzentwurf Marco Buschmann da vorgelegt hatte, wodurch ich mich rechtzeitig zur Sachverständigen-Anhörung in den Bundestags-Rechtsausschuss als Zuhörer anmelden konnte, und die schlimmen Schwachstellen, die verpassten Chancen, klar zu sehen lernte. Bei Euch stand, was in ARD und ZDF an elementarer EU-Politik-Berichterstattung fehlte (wer welche Argumente vertritt, wenn es um geheime staatliche Überwachung geht). Meine Süddeutsche Zeitung hat Edward Snowden wohl inzwischen schon vergessen, und bei radioeins wird zwar „two songs for Julian Assange“ als Musik gespielt… – aber weder die britische „Justiz“ noch Joe Bidens Politik zur Pressefreiheit mal gründlich hinterfragt/erklärt …
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Alles Gute und viel Erfolg für 2023 ! Wie macht man das: WIRKSAM die Pressefreiheit zu verteidigen gegen das zum-Schweigen-Bringen der Fehler-Meldenden?