ÜberblickZwei Wochen Twitter-Chaos unter Elon Musk

Unter dem neuen Chef hat Twitter mächtig Federn gelassen: weniger Angestellte, weniger Nutzer*innen, weniger Werbekund*innen. Trolle und Rechtsextreme stiften Unruhe. Musk kündigt noch mehr „dummes Zeug“ an. Das Zwischenfazit.

Elon Musk; tumultartige Szenen mit Clowns in einer Cyberpunk-Stadt
Musk stiftet Chaos auf Twitter (Symbolbild) – Musk: IMAGO / UPI Photo; Bild: StableDiffusion, „chaos at cyberspace, angry people, fire, clowns, highly detailed, cyberpunk, HQ“; Montage: netzpolitik.org

Das reichste Mann der Welt hat die politisch brisanteste Plattform der Welt gekauft und sich selbst zum Chef ernannt. Die rabiate Twitter-Übernahme durch Elon Musk produziert täglich viele neue Nachrichten. Da verliert man schnell den Blick aufs Wesentliche. Deshalb ordnen wir ein: Das sind die roten Fäden nach zwei Wochen Twitter-Chaos.

1. Twitter verliert Tausende Angestellte

Wenn ein Unternehmen schrumpft, ist es ratsam, der Belegschaft ein paar Monate Zeit zu lassen. Dann könnten die Angestellten sorgfältig die Arbeit neu aufteilen, ihr Wissen dokumentieren, sich neue Jobs suchen und vor allem: den sogenannten Betriebsfrieden wahren. Elon Musk hat das Gegenteil veranlasst.

Musk hat seine neue Firma geradezu gerupft. Etwa die Hälfte der Belegschaft – mehrere Tausend Menschen – hat Musk kurzfristig feuern lassen. Medienberichten zufolge geschah das so hastig, dass Twitter kurz darauf wieder einige der Gefeuerten zurückholen wollte. Auch die Chef:innen-Etage hat Musk rausgeworfen. Weitere hochrangige Angestellte haben von sich aus hingeschmissen. Wer bleiben durfte, bekam kurzerhand das gewohnte Recht auf Home Office entzogen und sollte plötzlich vor Ort arbeiten.

Die Lage hat sich längst nicht stabilisiert. Bei Unternehmen in der Krise folgt auf eine rabiate Kündigungswelle oft eine zweite Welle von Abgängen – weil Angestellte unter den neuen Bedingungen nicht mehr bleiben wollen. Von einem „Betriebsfrieden“ dürfte bei Twitter bis auf Weiteres keine Rede sein.

2. Trolle nutzen die Schwäche von Twitter aus

Nutzer*innen haben schon immer die Grenzen von Twitter ausgereizt. Es gab Desinformation, Fake-Accounts und Online-Betrug. In einigen Fällen wurden gar Accounts von bekannten Persönlichkeiten wie Barack Obama gekapert und für Scam genutzt. Die Frage ist also nicht, ob Manipulation gelingt, sondern wie lange es dauert, bis sie auffliegt. Mit deutlich weniger Personal und blank liegenden Nerven ist Twitter derzeit ein besonders attraktives Angriffsziel.

Einen ersten Schwall an Problemen hat Elon Musk selbst verursacht, als er die Regelung zum Erlangen von blauen Haken spontan geändert hat. Jahrelang hat Twitter bei der Vergabe blauer Haken sehr geknausert. Die Haken gingen vor allem an Behörden, Unternehmen und bekannte Persönlichkeiten. Sie waren ein starkes Indiz dafür, dass ein Account keine falsche Identität vortäuscht. Auf Anweisung von Musk hat sich das geändert: Nun genügt ein Monatsabo über acht US-Dollar, um einen Haken bekommen.

Seitdem erschienen auf Twitter Fake-Accounts, die im Namen berühmter Persönlichkeiten und Unternehmen Unfug verbreiten. Als Reaktion auf die Fake-Welle hat Musk eine neue Regel eingeführt: Wer Accounts mit falscher Identität nicht als Parodie kennzeichnet, wird gelöscht. Das klappt aber nur mit Verzögerung. In der Zwischenzeit toben sich Trolle aus und posten etwa als Fake-Nintendo einen Mario mit Mittelfinger. Nach wie vor verstehen viele Menschen blaue Haken als Zeichen für Verlässlichkeit. Das erhöht die Gefahr, dass jemand auf Fake-Accounts hereinfällt.

3. Rechtsextreme nutzen die Schwäche von Twitter aus

Für Rechte und Rechtsextreme ist Twitter in den letzten Jahren zunehmend weniger attraktiv geworden. Viele Hetzer*innen haben ihre Accounts verloren, der berühmteste von ihnen: Ex-Präsident Donald Trump. Wenn einflussreiche Hass-Accounts gelöscht werden, nennt man das auch Deplatforming. Der neue Twitter-Chef Musk hält davon offenbar wenig. Er hat angekündigt, dass Trump seinen Account zurückhaben könne. Trump will das zwar derzeit nicht, die Signalwirkung ist aber folgenschwer.

„Personen, die vorher deplattformed wurden, wittern gerade die Chance zurückzukehren, und sich an denjenigen zu rächen, die sie für ihr Deplattforming verantwortlich machen: Minderheiten, Linke und Intellektuelle“, schreibt Josef Holnburger auf Anfrage von netzpolitik.org. Er ist Geschäftsführer von CeMAS, einem Zentrum zur Erforschung von Verschwörungsideologien, Desinformation, Antisemitismus und Rechtsextremismus.

Rechte Nutzer*innen wollen die, wie sie sagen, „Liberalen“ auf die Palme bringen und ärgern, wie Holnburger erklärt. „Deshalb kaufen sich auch gerade viele rechte Akteure einen blauen Haken – einfach auch, um ihren ‚Gegnern‘ zu zeigen: Seht her, wir haben gewonnen.“

So schwer ist es nun auch nicht

Es gibt erste Hinweise, dass Twitter damit nicht gut umgeht. Der US-amerikanischen NGO Common Cause zufolge reagiere Twitter derzeit deutlich langsamer auf Meldungen. Was früher in ein bis drei Stunden erledigt war, dauere nun Tage, wie die Agentur Reuters berichtet. Ausgerechnet vor den inzwischen vergangenen Zwischenwahlen in den USA hat das viele Beobachter*innen nervös gemacht.

Daraus lässt sich allerdings nicht sicher ableiten, ob die Probleme neu oder nachhaltig sind. Die Juristin Josephine Ballon von der Beratungsstelle für digitale Gewalt HateAid kommentiert das zunächst zurückhaltend: „Die Zahl der Entlassungen sagt meines Erachtens nicht zwangsläufig etwas über die Ressourcen in der Contentmoderation aus“, schreibt sie auf Anfrage von netzpolitik.org. Ein Großteil der Moderation erfolge automatisiert; hinzu kämen externe Dienstleister, deren Löscharbeiter*innen nicht direkt bei Twitter angestellt sind.

„Insgesamt litt die Qualität der Bearbeitung von Meldungen auch vor der Übernahme durch Elon Musk schon gravierende Mängel“, schreibt Ballon. Entscheidungen sind oft nicht nachvollziehbar, Meldungen nicht niedrigschwellig möglich und nach wie vor bietet Twitter keine Möglichkeit zur Beschwerde und Gegendarstellung.“ Das heißt: Nicht alles, was auf Twitter schiefläuft, hat Elon Musk kaputt gemacht.

4. Nutzer*innen kehren Twitter den Rücken zu

Während Trolle, Rechte und Rechtsextreme neue Accounts anlegen, verlassen andere Twitter. Die Analyse-Firma Bot Sentinel hat dazu eine Schätzung vorgelegt. Demnach hätten zwischen 27. Oktober und 1. November rund 877.000 Twitter-Nutzer*innen ihre Accounts deaktiviert.

Zu den politisch relevanten Twitter-Abgängen in Deutschland gehört etwa SPD-Chefin Saskia Esken. Ihr Parteikollege Kevin Kühnert hatte seinen Account bereits im September deaktiviert. Auch der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI) hat zum 9. November seinen behördlichen Account gelöscht.

Für politisch engagierte Nutzer*innen besteht der Reiz von Twitter gerade darin, dass sich dort Menschen aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft vernetzen und miteinander diskutieren. Es wäre jedoch verfrüht, in den Abgang einzelner Nutzer*innen schon einen Trend hineinzulesen. Von der politischen Bedeutungslosigkeit ist Twitter noch sehr weit entfernt.

5. Werbekund*innen wandern ab

Was Elon Musk gewiss mehr belastet als der Abgang des Bundesdatenschutzbeauftragten: Auch Werbekund*innen ist Twitter gerade zu heikel. Unter anderem der Auto-Hersteller Audi oder der Pharma-Konzern Pfizer pausieren ihre Kampagnen, wie das Wall Street Journal berichtet. Aber Twitter macht einen Großteil des Umsatzes mit Werbung – und Musk muss das Unternehmen aus den roten Zahlen holen. Allein die Zinsen für die Schulden von Twitter sind eine ernste Belastung.

Das Zurückgewinnen von verlorenen Werbekund*innen hat bei Elon Musk mit hoher Wahrscheinlich eine besondere Priorität. Ohne Zweifel wird der Faktor Geld einer der wichtigsten für die Zukunft von Twitter sein. Jüngst hat Musk durchblicken lassen, dass er auch eine Pleite von Twitter nicht ausschließe. Bei einer unberechenbaren Persönlichkeit wie Musk lässt sich allerdings grundsätzlich nichts ausschließen.

6. Mastodon bekommt Zulauf

Viele nehmen das Chaos auf Twitter zum Anlass, und legen sich einen Account bei Mastodon an. Das Netzwerk ist dezentral und nicht-kommerziell, kein Milliardär kann es kapern und Unruhe stiften. Die Anzahl monatlich aktiver Mastodon-Nutzer*innen hat einen Sprung gemacht: Von rund 380.000 Ende Oktober auf rund 1 Million am 7. November.

Mastodon mit seinen selbstverwalteten Instanzen bietet Vorteile, aber auch Nachteile. Nicht nur in Deutschland erkunden nun zahlreiche Interessierte die neuen Möglichkeiten und diskutieren, wie soziale Netzwerke für alle funktionieren und reguliert sein sollen. Die Debatte ist zwar nicht neu, doch das Chaos auf Twitter füllt sie mit neuem Leben.

Dahinter steckt die Vision, dass weltweit prägende soziale Netzwerke nicht kommerziell sein müssen. Noch lässt sich nicht abschätzen, wohin sich das Wachstum von Mastodon entwickelt. Schon jetzt ist es eine Ironie der Geschichte, dass ausgerechnet der reichste Mann der Welt die Beliebtheit einer nicht-kommerziellen Plattform fördert – und zwar indem Leute vor ihm davonlaufen.

7. Twitter ist jetzt die Bühne eines Rowdys

Wenn man von Elon Musk etwas nicht erwarten kann, dann sind es Besonnenheit und sorgfältiges Abwägen von Vor- und Nachteilen. Selbst die halbwegs sinnvolle Regel, dass sich Fake-Accounts als Parodie kennzeichnen sollen, ist wohl impulsiv entstanden – und zwar nachdem Musk selbst von Fake-Accounts imitiert wurde.

Für sehr kurze Zeit hatte Twitter neue, graue Haken für offizielle Accounts eingeführt. Offensichtlich, da blaue Haken neuerdings keine Aussagekraft mehr haben. Musk hatte das wieder verworfen; seit heute sind sie wieder da. Derzeit spekuliert der Twitter-Chef, ob künftig Geld über Sichtbarkeit auf Twitter entscheiden solle. Wer kein monatliches Twitter-Abo zahlen kann oder will, könnte mit weniger Reichweite rechnen.

Gut möglich, dass diese und andere Ideen schon nach kurzer Zeit durch neue Ideen abgelöst werden. Ein Motor für die vielen Veränderungen ist dabei Musks Persönlichkeit, die sich wohl irgendwo zwischen Visionär und Egomane verorten lässt. Besonders spannend wird, wann und wie der libertär orientierte Musk die Richtlinien von Twitter aufweichen wird, und damit die Schwelle für Hass und Hetze senken. Entsprechende Ankündigungen hat er bereits gemacht.

All das wäre weniger riskant, wenn Twitter ein experimentelles Projekt mit ein paar Hundert Nutzer*innen wäre. Doch Twitter ist ein zentraler Schauplatz der politischen Debatte, der die öffentliche Meinungsbildung beeinflussen kann. Bei Twitter ist gerade vieles im Umbruch, und sicher ist nur eines: Das geht jetzt so weiter. Musk selbst hat am 9. November getwittert: „Bitte nehmt zur Kenntnis, dass Twitter in den nächsten Monaten eine Menge dummes Zeug machen wird.“

Update, 11. November, 23:00 Uhr: Wir hatten die vielen verifizierten Accounts von Papst Franziskus für Fake gehalten – aber die sind echt. Der Papst twittert in mehreren Sprachen.

5 Ergänzungen

  1. Der Aktienkurs von Facebook Meta ist dieses Jahr um 70% abgestürzt ! Jetzt ruiniert Elon Musk Twitter !

    Herrlich, ganz ehrlich ich genieße diesen Untergang des US Amerikanischen Überwachungskapitalismus gerade sehr. Bleibt zu hoffen das sich da nun mehr und mehr sicher verschlüsselte dezentrale Alternativen entwickeln werden. Dazu muss aber halt das alte erstmal weg, was dank Musk und Zuckerzwerg ja nun geschehen kann.

  2. Bei all dem Tummelum lässt mich dieser Gedanke nicht los:

    Was wäre wenn der Reichste Mann der Welt Twitter nur übernahm um es kaputt gehen zu lassen. Um den Heimatlosen Zwitscherern dann z.B. Truth.Social an zu dienen? Oder Trump-a-Like Große Reden zu führen von einem neuen total besseren Dienst – den er natürlich selbst Tesla-Link aus dem Boden stampfen würde. [Schweine-Zyklus: Der nächste wird genau so schlimm wie der davor]

    Ist ja nicht so das er es sich nicht leisten könnte. Obwohl ich neulich las das sein (Aktien) „Vermögen“ von ca. 170 Mrd. nun auf eher 90 Mrd. $ abstürzte. Ein Scrooger McDuck würde jetzt heulend vom Bettelstab flennen an der er bald ginge. Aber Musk schätze ich nicht als Geizhals ein, eher als Verschwender und Hasardeur der Gern alles auf die Spitze treibt weil ihm niemand Grenzen setzt. Die mal überfällig wären. Nur wer sollte das tun der nicht in irgend einer Form abhängig ist? Bis jetzt hinterlässt er nur Verbrannte Erde wo er hin fasst, bei Internet/Twitter-Nutzern, durch seine Raketen und Tesla’s vielleicht auch. Unrühmlich für einen „Visionär“.

    Mich persönlich hat Twitter nie interessiert und was Millionen von „Normalen“ Leuten da zu „Zwitschern“ haben sehe ich weder als Politisch noch sonst wie relevant an.
    Es nervt einen aber schon wenn man durch einen Link dort hin verschlagen wird und nach etwas runter scrollen dieses stoppt und ein „du willst mehr, dann melde dich gefälligst an“ Banner auftaucht. Das war schon vor der Übernahme so und jetzt gibt es eben einen Grund mehr solchen Links nicht mehr zu folgen.
    Irrelevanz durch Überreizung der Geduld (nicht angemeldeter) Nutzer ist das was Twitter, Meta, FB, Google u.a. zu recht widerfährt. Und jetzt warten alle auf die nächste Sau dir durch’s Dorf getrieben wird. :-/

    1. „Was wäre wenn der Reichste Mann der Welt Twitter nur übernahm um es kaputt gehen zu lassen.“

      Der reichste Mann ist durchaus „intelligent“ und wird zumindest mit der Möglichkeit rechnen. Nicht selten haben größere Unternehmen kleinere aufgekauft, nur um Konkurrenz auszuschalten. Das wird nicht Elon Musks Ziel (+gewesen) sein, aber es birgt eben auch das Potential für andere Plattformen, am Markt zu wachsen, und das müssen nicht mal bestehende Plattformen sein.

  3. Twitter war nie eine Diskussionsplattform. Es ist ein Kurznachrichtendienst fuer die Oeffentlichkeit. Twitter kann lediglich den Lautesten eine Plattform bieten und das funktioniert ja sehr gut. Leider hat das eben auf Grund der Netzwerkeigentschaften, wenn unkontrolliert/-moderiert betrieben, erodierende Auswirkungen auf demokratisch liberale Gesellschaftsordnungen. Dieses destruktive Elemente war so bei der Monetarisierung dieses Dienstes nicht vorgesehen worden. Die Welt wird Twitter nicht vermissen. Es werden andere Plattformen entstehen oder populaer werden, wenn Twitter, welches leicht zugaenglich ist verschwinden sollte. Mastodon ist nichts fuer die Massen, dafuer es es viel zu fragmentiert.

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