KW 22Die Woche, in der wir zu den Wahlunterlagen greifen

Die 22. Kalenderwoche geht zu Ende. Wir haben 15 neue Texte mit insgesamt 190.851 Zeichen veröffentlicht. Willkommen zum netzpolitischen Wochenrückblick.

Fraktal, generiert mit MandelBrowser von Tomasz Śmigielski

Liebe Leser:innen,

heute Vormittag will ich unbedingt noch die Unterlagen für die Briefwahl abholen. Dieser Newsletter muss also bis spätestens 13 Uhr ins Redigat gehen, denn dann schließt die Briefwahlstelle bei mir um die Ecke. Eben hatte ich noch einen kurzen Schreckmoment, weil ich dachte, meine Benachrichtigung verlegt zu haben. Aber alles ist okay.

Zu sagen, mir wäre vor dieser Wahl und ihren Ergebnissen etwas mulmig, ist untertrieben. Aktuellen Umfragen zufolge könnten rechte und rechtsextreme Parteien mehr als ein Viertel der Sitze im Europaparlament erringen. In Deutschland ist die AfD im Moment zweitstärkste Kraft hinter der Union.

Es ist kein Trost, dass die Parteien der rechten ID-Fraktion im Parlament – darunter die französische Rassemblement National – der AfD die Zusammenarbeit aufgekündigt haben. Eher ist es ein Zeichen dafür, wie strategisch Marine Le Pen und auch Georgia Meloni in Italien in diese Wahl gehen: Die offene Menschenfeindlichkeit der AfD-Abgeordneten ist ihnen schlicht zu plump, sie spülen ihren Extremismus lieber weich, damit sich auch die Konservativen ankuscheln können.

Unwohl ist mir auch noch wegen etwas anderem. Ich bin mir nicht mal sicher, ob alle meine Freund:innen und Bekannten zu dieser Wahl gehen werden. Es ist schon erstaunlich. Vor der Bundestagswahl hört man gefühlt schon Monate vor dem Termin auf allen Kanälen nichts als Wahlkampf-Getöse und Analysen zum möglichen Ausgang. Jetzt vor der EU-Wahl habe ich eher den Eindruck: Das ist ein Thema für Feinschmecker:innen.

Wo werden die Regeln gemacht?

Mir war selbst bis vor einigen Jahren offen gestanden nicht ganz klar, wie wichtig diese Wahlen sind. Inzwischen glaube ich: sehr wichtig. Diese Erkenntnis ist gewissermaßen ein Nebeneffekt meines Jobs. Denn ein großer Teil unserer Berichterstattung dreht sich um Dinge, die nicht in Berlin passieren oder in Bayern, sondern in Brüssel und Straßburg.

Für mich war das in der letzten Legislaturperiode zum Beispiel die KI-Verordnung der EU, die nach jahrelangem Verhandeln vor Kurzem verabschiedet wurde. Das Ding ist ein Riemen, mit dem man sich wochenlang beschäftigen kann. Denn es geht darin um sehr viel, zum Beispiel um die Frage, ob biometrische Gesichtserkennung in der EU komplett verboten verboten werden soll (nein). Oder was Sicherheitsbehörden und Frontex alles tun dürfen mit diesen Technologien (viel). Deutschland hat jetzt noch etwas Spielraum bei der Umsetzung. Die grundlegenden Weichen aber haben schon Kommission, Parlament und Rat gestellt. Der Sack ist zu.

Noch ein Beispiel: Die Richtlinie zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen, ein Meilenstein im Kampf gegen geschlechtsspezifische Gewalt. Zwar ist es nicht gelungen, einen Mindeststandard für die Bestrafung von Vergewaltigungen hineinzuschreiben (auch wegen einer Blockade Deutschlands). Aber für viele Taten, die bislang nicht im deutschen Strafrecht standen, hat die Richtlinie das erste Mal überhaupt klare Mindeststrafen eingeführt – etwa für das Teilen von Nacktbildern ohne Zustimmung.

Und da ist noch viel mehr: Welche Auflagen bekommen TikTok, Instagram oder Google verpasst? Dürfen Sicherheitsbehörden unsere verschlüsselten Nachrichten durchsuchen? Wie werden Menschen, die in Europa Schutz suchen, hier in Zukunft behandelt und wie weit darf die EU gehen, um sie wieder los zu werden? All das wurde in den vergangenen fünf Jahren von der EU verhandelt – und teils auch schon beschlossen.

Viele dieser Entscheidungen, besonders die zur Asylpolitik, haben mich furchtbar wütend gemacht. Auch die anderen Abstimmungen habe ich teils eng verfolgt. Ich erinnere mich gut daran, welche Parteien und Abgeordnete im EU-Parlament in diesen Auseinandersetzungen gekämpft haben: für die Menschenwürde, gegen die Macht der Tech-Konzerne. Wie sie manche schlimme Entscheidungen verhindern konnten und andere nicht.

Zu all den anderen Dingen, die in den vergangenen fünf Jahren in Brüssel gelaufen sind: Lest gerne diese Zusammenfassung meines Kollegen Max. Und wenn ihr noch nicht sicher seid, wo ihr euer Kreuz macht, hilft euch vielleicht sein Überblick dazu, was in den Wahlprogrammen steht.

Ich muss jetzt los, die Unterlagen abholen. Und ich hoffe, viele von euch haben das schon getan oder tun es rechtzeitig.

Ein entscheidungsfreudiges Wochenende wünscht euch

Chris


Interview zu Standort-TrackernGoogle und Apple kooperieren lieber, als ein Verbot zu riskieren

Für das Standardisierungsgremium IETF ist es neu, sich mit Themen wie Stalking zu beschäftigen. Doch bei der Diskussion um einen Standard für Standort-Tracker war genau das notwendig. Mallory Knodel sagt, die Standards-Community sollte stolz darauf sein, jetzt auch gesellschaftliche Auswirkungen miteinzubeziehen.

Lesen Sie diesen Artikel: Google und Apple kooperieren lieber, als ein Verbot zu riskieren

Anti-Terror-GesetzEuropäischer Gerichtshof für Menschenrechte kippt polnische Massenüberwachung

Die Massenüberwachung in Polen sei deutlich zu weit gegangen, urteilte heute der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. In mehreren Punkten verletze das Anti-Terror-Gesetz der inzwischen abgewählten PiS-Regierung die Menschenrechtskonvention, so das Straßburger Gericht.

Lesen Sie diesen Artikel: Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte kippt polnische Massenüberwachung

Kommerzielle DatenbergeWenn sich Geheimdienste sensible Daten aus Smartphone-Apps besorgen

Bewegungsprofile oder Hinweise auf die Religionszugehörigkeit: Geheimdienste kaufen solche sensiblen Daten zunehmend bei Datenhändlern ein. Damit unterlaufen Dienste in demokratischen Staaten jedoch verfassungsrechtliche Mindeststandards, warnt ein aktuelles Forderungspapier.

Lesen Sie diesen Artikel: Wenn sich Geheimdienste sensible Daten aus Smartphone-Apps besorgen

Systemeinstellungen#04 Unter Terrorverdacht

Früh morgens stehen Polizisten mit einem Rammbock vor der Tür des Soziologen Andrej Holm. Gleich werden sie ihn auf den Boden werfen, festnehmen, in eine Einzelzelle stecken. Und viel später wird herauskommen: alles falscher Alarm. In Episode #04 unseres Doku-Podcasts erzählen er und seine Partnerin Anne Roth, was ihrer Familie passiert ist.

Lesen Sie diesen Artikel: #04 Unter Terrorverdacht

Interview on location trackersGoogle and Apple „are hoping to avoid being banned“

AirTags can be super useful. But in women’s shelters they’re deadly. Topics such as stalking are a new thing for the standards organization IETF. But this is what was needed when discussing a standard for location trackers. Mallory Knodel says the IETF should be proud of itself to be expanding its mandate.

Lesen Sie diesen Artikel: Google and Apple „are hoping to avoid being banned“

40 Jahre FIfFGegen die unheilvolle Verflechtung von Informatik und Militär

Das Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung begleitet und kommentiert seit nun vierzig Jahren eine Fülle an Themen. Im Interview sprechen wir mit Hans-Jörg Kreowski und Rainer Rehak über Aktivismus, langlebige Mythen der Informatik und durch Technik ausgelöste gesellschaftliche Umwälzungsprozesse.

Lesen Sie diesen Artikel: Gegen die unheilvolle Verflechtung von Informatik und Militär

Staatstrojaner Wieder Russland-kritische Journalist:innen mit Pegasus angegriffen

Vor Überwachung und Repression in Russland und Belarus flüchteten Journalist:innen und Oppositionelle in die EU. Dort wurden ihrer Handys mit dem Staatstrojaner Pegasus infiziert. Das kanadische Citizen Lab hat die Infektionen nachgewiesen, doch kann keine Beweise liefern, woher die Angriffe rühren.

Lesen Sie diesen Artikel: Wieder Russland-kritische Journalist:innen mit Pegasus angegriffen

Deine Spende für digitale Freiheitsrechte

Wir berichten über aktuelle netzpolitische Entwicklungen, decken Skandale auf und stoßen Debatten an. Dabei sind wir vollkommen unabhängig. Denn unser Kampf für digitale Freiheitsrechte finanziert sich zu fast 100 Prozent aus den Spenden unserer Leser:innen.

0 Ergänzungen

Wir freuen uns auf Deine Anmerkungen, Fragen, Korrekturen und inhaltlichen Ergänzungen zum Artikel. Bitte keine reinen Meinungsbeiträge! Unsere Regeln zur Veröffentlichung von Ergänzungen findest Du unter netzpolitik.org/kommentare. Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.