Systemeinstellungen#04 Unter Terrorverdacht

Früh morgens stehen Polizisten mit einem Rammbock vor der Tür des Soziologen Andrej Holm. Gleich werden sie ihn auf den Boden werfen, festnehmen, in eine Einzelzelle stecken. Und viel später wird herauskommen: alles falscher Alarm. In Episode #04 unseres Doku-Podcasts erzählen er und seine Partnerin Anne Roth, was ihrer Familie passiert ist.

Das Cover der vierten Folge "Systemeinstellungen". Ein Schreibblock mit Stift auf einem grüngelben Hintergrund, das sich langsam aufzulösen scheint. Im linken unteren Eck steht "Eine Produktion von netzpolitik.org"
Wissenschaftler im Visier. CC-BY-NC-SA 4.0 Lea Binsfeld/netzpolitik.org


In den Nullerjahren schreibt die „militante gruppe“ ziemlich hochgestochene Bekennerschreiben. Sie klingen wie akademische Aufsätze, direkt aus dem Uni-Seminar – findet die Polizei. Einer der Gründe, warum plötzlich der Stadtsoziologe Andrej Holm ins Visier der Ermittler gerät. Sie vermuten in ihm offenbar den Vordenker einer mutmaßlich terroristischen Vereinigung. Und als in Brandenburg jemand versucht, LKWs der Bundeswehr anzuzünden, will die Polizei nicht länger warten: Wenig später steht sie mit dem Rammbock vor der Wohnung.

Es ist die Geschichte eines Wissenschaftlers, der per Hubschrauber quer durch Deutschland geflogen wird, drei Wochen lang in Einzelhaft sitzt – und irgendwann erfährt: Seine Familie und er wurden schon monatelang abgehört.

Wir reden mit Andrej und seiner Partnerin Anne Roth darüber, wie das vor fast 17 Jahren ihr Leben durcheinandergerüttelt hat. Irgendwann wurde das Verfahren zwar eingestellt, aber Spuren hat die Aktion dennoch hinterlassen. Es geht um den berüchtigten Schnüffelparagrafen 129a, geheimnisvolle schwarze Beutel, verdächtigen Teelicht-Windschutz und zwei politisch engagierte Leben.


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Hier findest Du alle Folgen von „Systemeinstellungen“.

Die nächste Episode „Kriminelles Klima“ erscheint am 7. Juni.


Host und Produktion: Serafin Dinges.
Redaktion: Anna Biselli, Chris Köver, Ingo Dachwitz, Sebastian Meineck.
Cover-Design: Lea Binsfeld.
Titelmusik: Daniel Laufer.
Weitere Musik von Blue Dot Sessions.


Links und Infos

Was tun bei einer Hausdurchsuchung?

 


Manuskript zum Nachlesen

Prolog

Serafin Dinges: Okay, wir beginnen diese Folge mit einer kleinen Herausforderung. Ich hab hier zwei Texte vor mir. Einer ist von einem Wissenschaftler. Der andere ist ein Bekennerschreiben zu einem Brandanschlag. Glaubt ihr, ihr könntet die beiden unterscheiden? Das ist keine theoretische Frage – sondern ein Beispiel aus einer echten staatlichen Ermittlung. Und die Frage, wie sehr sich diese beiden Texte ähneln. Die Frage wird mit darüber entscheiden, ob die Polizei – schwer bewaffnet – in der Wohnung einer jungen Familie steht. Hier ist der erste Text.

Stimme: Es gibt keinen Automatismus, der die Verelendeten und Geschundenen als Kollektiv mit einer klassenkämpferischen Perspektive ausstattet und wie von selbst gesteuert zum unmittelbaren Handeln führt. Dennoch sind in den vergangenen Jahren der Konfrontation mit den Agenturen der Sozialtechnokratie viele Initiativen und Projekte entstanden, die Mut zur Bewegung machen. Daran ist unmittelbar anzuknüpfen, das heißt, Beispiele zu setzen und Rahmen zu entwickeln, die eine Teilnahme der sozial Marginalisierten und Prekarisierten ermöglichen.

Serafin Dinges: Und das hier ist der zweite Text.

Stimme: Die beschriebene Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen gilt nicht nur im Bereich der Blue-Collar-Arbeit, sondern auch für viele White-Collar-Tätigkeiten. Aus einer sozialstatistischen Perspektive spiegeln sich in diesen Veränderungen die Prozesse der sozialen Polarisierung und der Auflösung der nivellierten Mittelstandsgesellschaft wider.

Serafin Dinges: Könntet ihr herausfinden, was davon das Bekennerschreiben von Menschen ist, die einen Anschlag verübt haben? Super leicht ist es nicht. Beide Texte klingen ziemlich kompliziert. In beiden geht es um Prekarisierung. Aber der letzte, also der zweite, ist ein wissenschaftlicher Text vom Stadtsoziologen Andrej Holm. Und der erste Text ist ein Bekennerschreiben der sogenannten militanten gruppe dazu, wie sie versucht hat, das Berliner Sozialgericht in Brand zu stecken. Das war Anfang seit 2000, da trat die militante Gruppe zum Ersten Mal in Erscheinung. Abgekürzt wird sie mit mg. Die linksradikale Organisation verschickte 2001 zum Beispiel einen Drohbrief mit Munition an den FDP-Politiker Otto Graf Lambsdorff. 2002 warfen sie einen Molotowcocktail an den Eingang eines Sozialamts in Berlin Reinickendorf. Sie haben außerdem versucht, einen Lidl-Neubau anzuzünden. Das hat nicht geklappt. Und sie steckten Polizeifahrzeuge in Brand. Hat auch nicht ganz geklappt. Besonders typisch für die mg waren ihre akademisch klingenden Bekennerschreiben wie das von vorhin. Jahrelang ermittelt die Polizei, um an die Mitglieder der Gruppe heranzukommen. Am 31. Juli 2007 nimmt sie dann drei Männer fest, die versucht haben sollen, Bundeswehrfahrzeuge anzuzünden. Und dann haben sie noch einen festgenommen. Den Stadtsoziologen Andrej Holm.

Andrej Holm: Ich arbeite als Wissenschaftler an der Humboldt Universität in einem Arbeitsbereich Stadt- und Regionalsoziologie und beschäftige mich seit bestimmt 30 Jahren mit Stadtentwicklung und Wohnungspolitik und bin auch parallel zu meiner wissenschaftlichen Arbeit immer aktiv in Mieterorganisationen und Stadtteilbewegung gewesen, um aktiven Einfluss auf die Wohnungspolitik in Berlin zu nehmen.

Serafin Dinges: Andrej kämpft also für eine Stadt, die sich alle leisten können. Seine Waffen dabei sind Worte. Wenn Andrej schreibt, dann klingt es manchmal ein bisschen kompliziert. Wissenschaftliche Texte halt. Das wird ihm später zum Verhängnis, denn die Polizei findet, seine Texte klingen den Bekennerschreiben der mg ganz schön ähnlich. Und Ermittlerinnen glauben deshalb irgendwann: Andrej, der könnte gefährlich sein.

Andrej Holm: Und dann war es wirklich wie in so einem Krimi. Also ich hörte Schritte und dann hieß es immer „Raum zwei gesichert. Raum drei, Küche gesichert. Raum drei gesichert.“

Serafin Dinges: Als die Polizistinnen Andrejs Wohnung sichern, als wäre er der Anführer einer gefährlichen Terrorgruppe, da versteht der Stadtsoziologe überhaupt nicht, was gerade los ist. Es ist der 31. Juli 2007 und Andrej ahnt nicht, was noch passieren wird. Und er ahnt nicht, was in den letzten Monaten schon passiert ist. Andrej Holm und seine Partnerin Anne Roth waren Opfer staatlicher Überwachung. Ihre Telefone, ihre Spaziergänge, ihre Einkäufe. Das und noch viel mehr wurde im Verborgenen überwacht. Der Verdacht: Terrorismus. Ich bin Serafin Dingens. Und ihr hört Systemeinstellungen. Eine Produktion von netzpolitik.org. Heute: Unter Terrorverdacht.

Überwachung, kennen wir eigentlich

Serafin Dinges: Wir treffen Andrej Holm und Anne Roth in ihrer schönen Altbauwohnung in Berlin. Wir sitzen auf einer Couch vor einer Wand voller Bücher, in der vermutlich ziemlich alle linken Texte drinstehen, die man so braucht: von Marx Kapital bis zu Biografien von Trotzki oder Che Guevara. Überhaupt liegen überall Bücher oder Laptops oder Stapel Papier. Und auch wenn die Altbauwohnung vielleicht ein bisschen bürgerlicher aussieht: Die beiden Mitte 50-jährigen haben an revolutionärer Energie noch nichts eingebüßt. Schon lange bevor sie es am eigenen Leib erfahren mussten, haben sich Anne und Andrej mit staatlicher Überwachung beschäftigt. Beide waren Anfang der 90er in linken Berliner Strukturen aktiv. Sie haben Häuser besetzt, demonstriert, zum Beispiel gegen Gipfeltreffen wie den G8 in Genua. Wer sich in dieser Szene engagiert, der weiß, dass die Polizei einem immer gern mal über die Schulter schaut.

Andrej Holm: So war es ja ein ständiger Begleiter, dass es auch mal Ermittlungen gegen Einzelne gab. Und so, glaube ich immer so die Angst vor dem Spitzel. Also mit der bin ich zum Beispiel groß geworden. Also dass man in Kneipen nicht über alles reden soll, wenn man nicht genau weiß, wer da zuhört. Und dann ist man vielleicht morgen, wenn man sich zur Aktion oder zur Demo trifft, nicht alleine.

Serafin Dinges: Auch Anne war schon früh politisch engagiert, kommt aus einem alleinerziehenden linken Haushalt, geht gegen Atomkraft auf die Straße. Und dann.

Anne Roth: Irgendwann kam die Volkszählung. Das hat auch einen Bezug zu dem Thema, über das wir heute sprechen.

Stimme: Vom Computer erfasst. Jedem Zugriff staatlicher Neugier ausgeliefert. So sehen sich viele bei der Fragebogenaktion Volkszählung, die ihnen im Mai ins Haus steht.

Serafin Dinges: Die Volkszählung hat 1983 zu Massenprotesten in der Bundesrepublik geführt.

Stimme: Proteste und mitunter.

Serafin Dinges: Handgreifliche Auseinandersetzungen mit den Zählern.

Stimme: Die Verweigerer bleiben zwar in der Minderheit, aber noch fehlen Beweise. Ob der staatliche Gang von Tür zu Tür uns irgendwelche…

Serafin Dinges: Vorteile gebracht hat? Die Regierung wollte mit Fragebögen Informationen über die Bevölkerung erheben und speichern. Aber diese Computererfassung, die war den Menschen nicht geheuer. Sie demonstrierten, klagten und hatten Erfolg. Das Bundesverfassungsgericht fällte ein historisches Urteil und legte den Grundstein für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.

Anne Roth: Die Proteste gegen die Volkszählung, für die ich als Jugendliche schon auf die Straße gegangen bin. Ich glaube, ich war einfach immer schon links.

Serafin Dinges: Auch später begleitete Anne das Thema Überwachung in ihrem Beruf.

Stimme: Die parlamentarische Aufarbeitung der NSA Spähaffäre kann beginnen. Der Bundestag setzte heute den geplanten NSA-Untersuchungsausschuss ein. Das Gremium soll klären, wie ausländische Nachrichtendienste deutsche Daten ausgespäht haben und was sie weitergegeben haben.

Serafin Dinges: Als der Bundestag ab 2014 untersucht hat, wie deutsche und US-Geheimdienste zusammenarbeiten, da war sie ganz nah dran. Also nach den Snowden-Enthüllungen. Sie hat für die Linksfraktion am NSA-Untersuchungsausschuss mitgearbeitet. Danach war sie netzpolitische Referentin der Linksfraktion, die mittlerweile aufgelöst ist. Sie recherchierte Themen von digitaler Gewalt bis zu digitaler Überwachung. Und Anne schreibt und bloggt schon ziemlich lange zu diesen Themen. Anne hat auch auf netzpolitik.org schon Texte veröffentlicht.

Anne Roth: Mit solchen Themen beschäftige ich mich seit ungefähr 25 Jahren. Als ich irgendwann mal Politikwissenschaften studiert habe und mich da schon mit Überwachung, Polizei und Auswirkungen auf Grundrechte beschäftigt habe.

Wir sind alle 129a

Serafin Dinges: Dass es zu der Zeit, in der diese Geschichte spielt, tatsächlich zu Überwachung und Hausdurchsuchungen kommt, das zeigt sich vor dem G8-Gipfel in Heiligendamm 2007. Dort treffen sich die Regierungschefinnen der acht großen Industriestaaten. Dabei sind auch Deutschland, Frankreich, Russland und die USA. Bei solchen Gipfeltreffen gibt es immer Proteste und Kritik, zum Beispiel gegen eine Politik, die von den reichen Staaten gemacht wird und die Bedürfnisse der ärmeren außer Acht lässt. Im Vorfeld des Gipfels organisieren viele Gruppen ihre Demonstrationen, Aktionen, Blockadeversuche und sogar einen eigenen alternativen Gipfel. Dabei beteiligen sich ganz unterschiedliche Organisationen linksradikale Gruppen, Kirchen, Gewerkschaften, Umweltschützerinnen und andere. Auch Andrej und Anne helfen mit, die Proteste in Heiligendamm zu organisieren. Anfang Juni soll der Gipfel stattfinden und dann Anfang Mai, also ein Monat davor, während die Vorbereitungen auf Hochtouren laufen: ein Schock. 900 Polizistinnen durchsuchen 40 Wohnungen, beschlagnahmen Computer. Gegen 18 Menschen ermitteln sie wegen des Verdachts auf Gründung einer terroristischen Vereinigung. Sie hätten sich unter anderem detailliertes Kartenmaterial zur Umgebung des Gipfels in Heiligendamm beschafft. Bei Andrej und Anne steht die Polizei jetzt noch nicht auf der Matte. Das passiert erst später. In der Wochenzeitung Die Zeit steht damals:

Stimme: Da liegt also die Vermutung nahe, dass es bei der Polizeiaktion nicht darum ging, Straftaten aufzuklären, sondern darum, Informationen zu sammeln, potenzielle Gewalttäter einzuschüchtern und friedliche Demonstranten davon abzuhalten, sich im kommenden Monat an den Protesten gegen den G8-Gipfel Anfang Juni im mecklenburg-vorpommerschen Heiligendamm zu beteiligen.

Serafin Dinges: Es folgen Proteste, Menschen protestieren gegen die Hausdurchsuchungen.

Andrej Holm: Und da sind wir dann ja auch auf auf die so die Demo am Abend gegangen und haben alle gerufen: „Wir sind alle 129a.“

Serafin Dinges: Auch Andrej ruft mit. 129a. Das ist ein Paragraf im Strafgesetzbuch. Darin geht es um die Bildung terroristischer Vereinigungen. Andrej und die Demonstrierenden finden es absurd, dass jemand Protestvorbereitungen als Terrorismus kriminalisiert. Sie wollen deshalb ihre Solidarität zeigen und sagen: Wir alle bereiten uns auf das Gipfeltreffen vor. Also könntet ihr uns genauso gut alle festnehmen. Das uns das wirklich selbst treffen könnte, hatte er damals noch nicht gedacht. Während er uns davon erzählt, unterbricht in Anne.

Andrej Holm: Ich meine, das muss so 2006 gewesen sein.

Anne Roth: Der G8-Gipfel war in demselben Sommer 2007 und du wurdest tatsächlich schon überwacht, als du das gerufen hast. Du wusstest das nur nicht.

Serafin Dinges: Genauso wenig weiß Andrej damals, dass auch gegen ihn längst wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung ermittelt wird. Der Paragraph 129a ist bekannt dafür, dass er den Ermittlerinnen jede Menge Instrumente erlaubt. Die Polizei kann dann Telefone abhören, Videoüberwachung, Peilsender an Autos montieren, Staatstrojaner auf Computer und Smartphones schleusen, die Verdächtigen observieren usw. Zu Anklagen oder Verurteilungen führt der Paragraf nur sehr selten. Auch nicht bei den Protestvorbereitungen zu Heiligendamm. Meistens stellt sich heraus: Es sind doch keine Terroristinnen. Juristinnen kritisieren den sogenannten Schnüffelparagrafen daher immer wieder. Er gibt der Polizei viel Macht, ohne dass dafür konkret etwas passiert sein muss.

Andrej Holm: Juristen sagen eigentlich zu 129a, das ist so ein merkwürdiger Fremdkörper in der juristischen Logik, weil sozusagen bereits das Vorbereiten, das Mitglied in so einer Gruppe sein unter Strafe steht und gar nicht sozusagen die vollendete Straftat.

Serafin Dinges: Andrej führt dafür einen Vergleich an.

Andrej Holm: Mein Beispiel war immer: Menschen, die gerne viel, viel mehr Geld haben wollen, als ihnen zur Verfügung steht. Die können ihr ganzes Leben lang davon träumen, eine Bank auszurauben. Solange sie das nicht machen, werden sie dafür nicht bestraft.

Serafin Dinges: Bei der vermeintlichen Bildung einer terroristischen Vereinigung ist das anders. Da reicht es schon, wenn jemand glaubt, eine Gruppe würde etwas organisieren wollen. Das lernt der Theoretiker Andrej Holm bald ganz praktisch.

Die Polizei im Haus

Serafin Dinges: Knapp drei Monate, nachdem Andrej auf der Straße gegen die Hausdurchsuchungen zum G8-Gipfel protestiert hat, steht die Polizei auch vor seiner Tür. Es ist der 31. Juli 2007 frühmorgens. Anne und Andrej sind noch nicht wach. Es wird gerade erst hell. Ihre 2-jährige Tochter schläft bei den beiden im Bett, der Sohn nebenan im Kinderzimmer. Beide sind noch im Vorschulalter. Die Familie wohnt in einer kleinen Wohnung. Der Sohn der beiden hatte am Vortag Geburtstag und sich schon darauf gefreut, heute Morgen mit dem neuen Spielzeug zu spielen.

Anne Roth: Ich weiß jetzt nicht mehr, was das für ein Wochentag war. Jedenfalls war dann irgendwann Kita angesagt für unsere beiden Kleinen. Eben noch Kita-Kinder. Und was ich sonst an dem Tag vorhatte, weiß ich nicht mehr. Aber es wäre einfach ein normaler Wochentag gewesen. Eigentlich.

Serafin Dinges: Aber es kommt anders. Es hämmert an der Tür. Aufmachen! Polizei!

Andrej Holm: Und noch geschafft, mir irgendwie eine Hose überzuziehen und bin dann zur Tür und hab die aufgemacht. Und dann standen da so Polizisten in so einer Kampfuniform und Westen und mit gezogenen Waffen und dann so ein großer Rammbock, der offensichtlich schon bereit war. Und dann stürmten die durch die Tür und warfen mich auf den Boden.

Serafin Dinges: Hätte andere nicht aufgemacht, dann wären die Beamten wohl durch die Tür gebrochen.

Andrej Holm: Macht die Tür auf und da sind sozusagen maskierte, uniformierte Menschen mit Waffen und einem Rammbock vor dir. Da sagst du ja nicht: Guten Morgen, möchten Sie einen Kaffee? Kann ich Sie reinlassen? Was möchten Sie? Haben Sie sich in der Tür geirrt? Also all das, was man hätte sagen können? Es ist mir in dem Moment nicht eingefallen. Zumal Sie auch dann ohne Zögern in unsere Wohnung eingedrungen sind.

Serafin Dinges: Aber bevor er realisieren kann, was da gerade passiert, wird Andrej auf den Boden geknallt und gefesselt. Er liegt überrumpelt im Flur.

Andrej Holm: Das ist wie ein, wie ein Überfall. Und ich glaube, mein mein Gedankengang war: Okay, das sind keine Nazis. Die haben ja gesagt, das sind Polizei.

Serafin Dinges: Das Andrej erst mal dachte, dass es Nazis sein könnten. Liegt wohl daran, dass Rechtsradikale in den 90er und Nuller Jahren immer wieder Hausprojekte angegriffen haben. Und in denen hatte Andrej ja lange gewohnt. Und wer sonst sollte so brutal eine Wohnung stürmen? Hier ist es die Polizei. Aber warum? Davon hat Andrej so gar keine Ahnung. Während all das passiert, ist Anne noch im Schlafzimmer mit ihrer kleinen Tochter. Als sie von den Geräuschen aufwacht, stehen auch schon eine Handvoll Polizisten vor ihr.

Anne Roth: Ich weiß, dass die im Schlafzimmer aufgetaucht sind, mich angebrüllt haben, irgendwie in dieser Zeit mir mitgeteilt haben, dass ich nicht beschuldigt bin, sondern hier nur Zeugin bin. Und ich weiß, dass in meinem Kopf war: „Warum spielt das eine Rolle? Was ist hier eigentlich los?“

Serafin Dinges: An alles erinnert Anne sich nicht mehr. Ist immerhin schon 15 Jahre her und vieles passiert ganz schön schnell. Ihre kleine Tochter bekommt von alldem wenig mit. Mit zwei Jahren. Aber Annes Gedanken sind schnell bei ihrem kleinen Sohn, der im anderen Zimmer schläft. Alleine. Die Beamten fordern sie auf, aufzustehen und den Kindern Frühstück zu machen. Aber erstmal denkt sie an was ganz anderes.

Anne Roth: Es hat unheimlich lange gedauert, bis bei mir im Kopf der Gedanke ankam Das ist jetzt vielleicht der Moment aus den Krimis, wo man den Anwalt anruft.

Serafin Dinges: Anne hat in der Vergangenheit immer wieder mal davon gehört, wie man sich bei Hausdurchsuchungen verhalten soll: in besetzten Häusern, bei der Demovorbereitung. Da reden Aktivistinnen immer wieder über die wichtigsten Punkte. Einer davon ist: Ruhe bewahren. Ein anderer: Keine Aussagen und eine Anwältin informieren. Und am besten schon vorher die Nummern einiger Anwältinnen für den Ernstfall aufschreiben. Aber wenn wirklich die Polizei vor der Tür steht und mit Rammbock und Helmen durch die Tür stürmt, dann vergisst man schnell, was man vorher gelernt hat. Ruhe bewahren wird da ziemlich schwierig. Aber schließlich erinnert sich Anne und wählt die Nummer ihrer Anwältin. Danach versucht sie Normalität zu simulieren und die Kinder und vielleicht auch ein bisschen sich selbst zu beruhigen. Sie macht also erst mal Frühstück, wie die Beamten es vorher gesagt haben.

Anne Roth: Und dann gab es die unglaublich irrwitzige Situation, dass ich da mit zwei Kleinkindern am Tisch saß und daneben stand ein bewaffneter BKAler mit Waffe am Hosenbund und ich dann gefragt habe, ob das möglich ist, dass das nicht so ist, dass die Kinder direkt in diese Waffe gucken. Er hatte die nicht gezogen, er hatte die am Hosenbund, aber sozusagen direkt auf deren Augenhöhe. Dann wurde mir erklärt: Nein, das muss so.

Serafin Dinges: Mit Andrej reden darf Anne nicht. Der wurde mittlerweile im Wohnzimmer aufs Sofa gesetzt, nur mit Hose bekleidet, während die Polizisten in Kampfmontur vor ihm stehen. Bis er sich etwas überziehen darf, muss erst seine Anwältin kommen. Zwischendrin muss Anne noch die Kinder zur Kita bringen. Gerade war sie noch in der Wohnung voller Polizisten. Und jetzt steht sie plötzlich auf der Straße.

Anne Roth: Plötzlich stand ich mit meinen Kindern alleine vor dem Haus und war wieder komplett so in einer völlig anderen Welt und habe mich aber schon in so einem inneren Schockzustand befunden. Habe die Kinder in die Kita gebracht und dann hast du halt so: Einen schönen guten Morgen, wie geht es euch denn? Ja, guten Tag auch. Also kann man natürlich nicht darüber reden, was dir da gerade passiert ist. Und eigentlich ging es aber darum, dass das Kind gestern Geburtstag hatte und lalala. Und das Kind auch so: hmhm. Es war wirklich super absurd.

Serafin Dinges: Als Anne von der Kita zurückkommt, hat die Hausdurchsuchung noch immer nicht begonnen. Aber warum dauert das so lang? Die Polizisten, die jetzt bei Anne und Andrej sind, die sind vom Landeskriminalamt Berlin. Zuständig ist aber eigentlich das Bundeskriminalamt, und das muss erst aus Wiesbaden anreisen. Offenbar hatte man es also ganz schön eilig, die Wohnung zu stürmen. Aber warum eigentlich? Was will die Polizei herausfinden? Und was wirft sie Andrej eigentlich vor? Im Visier hatten sie ihn schon länger, aber ein Ereignis am Tag vorher führt dazu, dass es hektisch wird beim BKA in Wiesbaden. In der Nacht vor der Hausdurchsuchung sollen drei Männer versucht haben, drei Lastwagen der Bundeswehr anzuzünden auf einem Gelände in Brandenburg an der Havel. Dort waren die LKWs gerade zur Inspektion. Die drei Männer wurden beobachtet, wie sie Brandsätze an die LKWs gelegt und angezündet haben. Polizistinnen bekamen das mit. Das Feuer wurde schnell gelöscht, die beobachteten Männer kurz darauf festgenommen. Die Polizei vermutet: Das hat was mit der militanten gruppe zu tun. In einer Mitteilung des Generalbundesanwalts klingt das später so:

Stimme: Der versuchte Brandanschlag vom 31. Juli 2007 weist hinsichtlich des Anschlags, Ziels der Tatzeit und der konkreten Tatausführung eine Vielzahl von Parallelen zu Anschlägen der terroristischen Vereinigung militante gruppe in der Vergangenheit auf.

Serafin Dinges: Andrej war keiner der drei Festgenommenen. Aber offenbar glaubt die Polizei trotzdem, er hätte was damit zu tun. In der Mitteilung heißt es weiter unten nämlich.

Stimme: Der Beschuldigte Andrej H. Ist gleichfalls dringend verdächtig, Mitglied der mg zu sein. Dies ergibt sich unter anderem aus der Tatsache umfassender konspirativer Kontakte und Treffen, insbesondere mit dem Beschuldigten Florian L.

Serafin Dinges: Florian L ist einer der Menschen, die nach dem Brandanschlag auf die LKWs aufgegriffen wurden. Er ist es, der konspirative Kontakte zu Andrej Holm haben soll. Das klingt nach mysteriösen nächtlichen Treffen im Wald. Mit konspirativ meint der Generalbundesanwalt aber hier zum Beispiel: sie sind sich in der Vergangenheit bei Treffen begegnet und hatten laut Beobachtung der Polizei kein Handy dabei. Oder zumindest kannten die Ermittlerinnen keines orten. Grund genug für das BKA, so schnell es die deutsche Autobahn zulässt, von der hessischen Zentrale nach Berlin zu rasen. Damit geben sie dann auch ein bisschen an, als sie bei Anne und Andrej in der Wohnung stehen.

Anne Roth: Das war auch so ein super unangenehmer Moment, weil da so ein smarter BKAler dann irgendwie mit Begeisterung berichtet hat, wie er mit Tempo 200 über die Autobahn gefahren ist und wie lange das gedauert hat. Von Wiesbaden nach Berlin. Diese Leute…

Serafin Dinges: Andrej weiß zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht genau, was ihm vorgeworfen wird. Aber immerhin geht die Durchsuchung jetzt los und dauert ziemlich lange.

Verdächtige Gegenstände

Anne Roth: Die haben jedes Buch aus dem Bücherregal genommen und da reingeguckt. Und die haben sämtliche technischen Geräte mitgenommen. Das hat ungefähr 15 Stunden gedauert. Also die waren irgendwann spät abends dann damit fertig, weil die eigentliche Sucherei, die hat sozusagen die Hälfte der Zeit in Anspruch genommen und dann kommt das preußische Beamtentum durch, weil das muss dann alles katalogisiert und in Tütchen und mit Etiketten beschriftet werden. Und ich musste mir das dann alles angucken und abzeichnen und weiß ich nicht.

Serafin Dinges: Andrej und Anne haben, wie gesagt, viele Bücher. Andrejs Arbeitszimmer steht voller Literatur. Überall Texte zu allen möglichen politischen und gesellschaftlichen Themen. Er ist ja Wissenschaftler.

Anne Roth: Absurdeste Situation dabei, dass sie irgendwann aus dem sehr großen Bücherregal des Soziologen Andrej Holm irgendwie das Buch von Bourdieu aus dem Regal gezogen haben und dann irgendwie interessiert ihren Einsatzleiter gefragt haben, ob das irgendwie relevant sei.

Serafin Dinges: Dass Andrej ein Buch von Pierre Bourdieu im Regal hat, das ist nicht besonders überraschend, denn Bourdieu ist so ziemlich DER Soziologe. Wer Soziologie oder überhaupt irgendetwas mit Humanwissenschaften studiert, der kommt an dem französischen Forscher nicht vorbei. Also: nicht verdächtig. Auch relevant finden die Polizisten offenbar einen Kindercomputer von Andrejs Sohn. Mit dem kann man Lernspiele machen zu Farben, Tieren oder zu Buchstaben. So richtig zu Terroristen passt das eigentlich nicht, aber mitgenommen hat die Polizei das Spielzeug trotzdem.

Anne Roth: Und ich kann mich erinnern, so eine Situation irgendwann einmal mit so einem Strahlen im Gesicht reinkam.

Serafin Dinges: Noch verdächtiger war da ein Objekt aus dem Campingbus der beiden.

Anne Roth: Und zwar waren das so in der Mitte durchgeschnitten Plastikwasserflaschen, wo Rauchspuren dran waren und er war total glücklich, dass er jetzt endlich was gefunden hatte, weil Anschlag, Terroristen, usw.

Serafin Dinges: Was die beiden mit den verdächtigen Flaschen gemacht haben? Anne klärt die Polizisten auf.

Anne Roth: Aus ordentlicher linker Perspektive redet man ja nicht mit denen. Aber ich habe in dieser Situation mich dann nicht weiter zurückgehalten und gesagt: Die benutzen wir als Windschutz für Kerzenhalter. Deswegen sind da Wachsreste und Rauch drin. So, und man sah förmlich seine Enttäuschung, dass da jetzt auch noch kein Anschlagsmaterial in dem Campingbus gefunden worden war. Haben sie natürlich trotzdem alles mitgenommen.

Das Personenraster

Serafin Dinges: Nach vielen Stunden ist die Durchsuchung beendet. Die Beamten nehmen nicht nur viele Unterlagen und Geräte mit, sondern auch Andrej. Er wird zuerst mit dem Transporter zum Landeskriminalamt am Tempelhofer Damm gebracht. Dort wird er erkennungsdienstlich behandelt, wie es in der Amtssprache heißt. Fotos machen, Fingerabdrücke abgeben. Am nächsten Tag fliegt ihn ein Hubschrauber nach Karlsruhe. Dort wird er einem Haftrichter vorgestellt, der entscheiden soll, ob Andrej in Untersuchungshaft kommt. Und wie schon bei der Durchsuchung ist dafür nicht Berlin zuständig, denn es geht ja mutmaßlich um Terrorismus. Das heißt, der Generalbundesanwalt ist für die Ermittlungen zuständig und der Bundesgerichtshof für die Gerichtsverfahren. Und die sitzen beide in Karlsruhe. Ein ziemlich krasses Aufgebot also. Aber noch mehr Aufwand hat sich die Polizei im Vorfeld gemacht. Andrej sieht schwarz auf weiß in seinem Haftantrag: Ein ganzes Jahr lang wurde er schon beobachtet und abgehört, ohne dass er davon je irgendetwas mitbekommen hat. Aber was das eigentlich heißt und was die Polizei alles gemacht hat, das ist für Andrej erstmal gar nicht so wichtig. Er kann das überhaupt nicht verarbeiten. Jetzt gerade ist seine Verhaftung das größere Problem.

Andrej Holm: Der Schock, da er überfallen, verhaftet und in Untersuchungshaft zu kommen, der war zum Anfang natürlich viel, viel größer als der Schock darüber, dass die uns schon ein Jahr überwacht haben.

Serafin Dinges: Der Haftrichter entscheidet. Andre muss in Untersuchungshaft. Deshalb will er wieder zurück nach Berlin. Moabit gebracht. Innerhalb weniger Tage wird Andrej also mehrmals quer durch Deutschland verfrachtet. Er weiß kaum, wie ihm geschieht. In Berlin bekommt er eine winzige Einzelzelle mit Bett, Tisch, Stuhl, Schrank, Waschbecken und Toilette. 23 Stunden am Tag ist er darin alleine. Eine Stunde darf er raus. Der taz erzählt er später, er habe vor allem Kniebeugen gemacht, um ein bisschen Bewegung zu bekommen. Um das zu machen, musste er aber den Stuhl aufs Bett stellen. Weil die Zelle so klein war. Die Bedingungen sind für ihn besonders hart, weil er als Terrorismusverdächtiger als besonders gefährlich gilt. Wie lange er dort noch sitzen wird, das kann er noch nicht ahnen.

Serafin Dinges: Der Spiegel berichtet später, wie die Polizei darauf kam, Andrej und andere zu verdächtigen. Das BKA hatte ein Personenraster entworfen, um festzustellen, wer zur militanten gruppe gehören könnte. In dieses Raster fallen Personen mit einer Reihe von Eigenschaften. Erstens: Verdächtig ist, – Zitat – „wer der Polizei bislang nicht aufgefallen ist und kein klassischer Autonomer ist“. Zitat Ende. Ich glaube, man muss kein ausgebildeter Kriminologe sein, um zu sagen: Das trifft auf die meisten Menschen zu. Zweitens, wer die Fähigkeit hat, Zitat, „wissenschaftlich oder analytisch zu arbeiten und komplexe Texte zu erstellen“.

Das trifft auch recht viele Leute. Alle, die an einer Uni sind oder waren. Mich zum Beispiel. Schuldig im Sinne der Anklage. Ich habe Literaturwissenschaften studiert und ich kann auf jeden Fall komplexe Texte schreiben. Ob sie jemand versteht, ist die andere Frage. Die dritte Eigenschaft ist, wer sich an – Zitat – „Basisstrukturen beteiligt“. Zitatende. Basisstrukturen, das ist so was wie Mieterinnen-Proteste und vermutlich auch die Proteste gegen den G8-Gipfel. Auch damit wäre ich wahrscheinlich verdächtig. Auch ich gehe manchmal auf Demos. Spende an Seenotrettungsorganisationen oder unterschreibe Volksbegehren. Das Personenraster des BKA ist so grob definiert, dass jede Erstsemesterstudentin an einer Berliner Uni verdächtigt werden könnte. Ich wäre auf jeden Fall auch dabei.

Und während Andrej in einer Zelle sitzt, formiert sich Widerstand gegen seine Festnahme. Menschen protestieren vor dem Untersuchungsgefängnis in Berlin-Moabit. Auch Wissenschaftlerinnen solidarisieren sich. Sie sind empört, dass dem Soziologen vorgeworfen wird, der geistige Kopf einer angeblichen Terrororganisation zu sein. Mit dem Grund, dass er dieselben Begriffe verwendet hatte wie die militante gruppe und daher zum intellektuellen Urheber gemacht wurde. Sie fürchten eine Kriminalisierung wissenschaftlicher Arbeit an sich. Nach drei Wochen darf Andrej die Untersuchungshaft verlassen. Aufgehoben ist der Haftbefehl da aber noch nichts. Er ist nur außer Vollzug gesetzt. Das heißt, Andrej darf nach Hause, aber nicht weglaufen. Entspannen kann er also noch nicht. Er könnte jederzeit wieder festgenommen werden. Aber endlich kann er all die Menschen wiedersehen, mit denen er in den vergangenen Wochen, wenn überhaupt, nur durch eine Glasscheibe sprechen konnte. Und die Gelegenheit will er nutzen.

Der schwarze Beutel

Anne Roth: Am nächsten Tag hat Andrej mit seinen Eltern telefoniert. Die haben sich verabredet, für den folgenden Sonntag zum Kaffeetrinken mit Großeltern, Kindern, Enkelkindern. Endlich mal in Ruhe zusammensitzen.

Serafin Dinges: Aber dann sagt seine Mutter am Telefon etwas Ominöses.

Anne Roth: Und dann würde ich mich gerne darüber unterhalten, was in dem schwarzen Beutel steckt.

Serafin Dinges: Wenn man diesen Satz ganz ohne Kontext hört, dann klingt es vielleicht erst mal geheimnisvoll. Was ist das für ein schwarzer Beutel? Das war so: Als Andrej aus der Untersuchungshaft kommt, hat er ein paar Sachen dabei, zum Beispiel seine eigenen Klamotten, die ihm seine Angehörigen zum Gefängnis gebracht haben. Und er hat ein paar Unterlagen, um sich auf seine Verteidigung vor Gericht vorzubereiten. Als er entlassen wird, muss er das Zeug irgendwo reinstopfen.

Anne Roth: Er hatte verschiedene Beutel mit, mit verschiedenen Klamotten und dann diese losen Ordner mit Akten unterm Arm. Und seine Mutter hat ihm dann… Also kennen wir bestimmt alle, diese ganz kleinen, faltbaren Einkaufsbeutelchen, die es so als Schlüsselanhänger gibt. Und so was hatte sie in Schwarz dabei und hat ihm den dann gegeben, um die Aktenordner da rein zu tun.

Serafin Dinges: Die Aktenordner hatte ihm seine Anwältin mitgebracht. Dass diese völlig harmlosen Papiere nun in dem mysteriösen schwarzen Beutel gelandet sind, das wissen die Ermittler innen nicht, während sie weiter Andrejs Telefon abhören. Und sie werden dabei offenbar ziemlich nervös. Und was dann passiert, ist schon fast ein bisschen witzig. Während Andrej auflegt und sich auf das Wiedersehen freut, rotiert im Hintergrund das BKA.

Anne Roth: Es wird vom BKA mitgehört und wir konnten später in den Akten dann nachlesen, dass das zu einer irren Aktivität zwischen BKA und Bundesanwaltschaft geführt hat, weil die daraus geschlossen haben. Offensichtlich gibt es irgendwelches Material. Terroristisches, anschlagsrelevantes Material, was wahrscheinlich bei den Eltern des Beschuldigten in der Wohnung sich in einem Beutel befindet, weil der irgendwie seine Terrormaterialien bei seinen Eltern unter dem Sofa versteckt hat, wo du dich dann auch irgendwie fragst: also jeder ordentliche Linksradikale würde wahrscheinlich irgendwie seine Sprengstoffe nicht bei den Eltern unterm Sofa verstecken, sondern vielleicht eher im Wald oder weiß ich nicht. Aber jedenfalls das BKA denkt: also irgendwas Anschlagsrelevantes liegt bei den Eltern.

Serafin Dinges: Die Ermittler rennen, überlegen, was sie jetzt machen sollen. Die Wohnung von Andrejs Eltern stürmen vielleicht?Das wollen sie dann doch nicht. Aber sie wissen ja, dass die genau am nächsten Tag zu Besuch kommen wollen, um über den schwarzen Beutel zu reden. Eine günstige Gelegenheit, denkt das BKA.

Anne Roth: Sie haben stattdessen beschlossen, die Eltern mit zu überwachen. Und der Plan war dann, wenn die Eltern an dem Sonntag zu uns in die Wohnung kommen und diesen Beutel dabei haben, dass dann unterwegs die gestoppt werden. Und dann wird geguckt, was in dem Beutel ist, weil die davon ausgegangen sind, die bringen den dann mit.

Serafin Dinges: Aber irgendwas muss dann schiefgelaufen sein bei der Beschattung von Andrejs Eltern, denn die werden nicht auf dem Weg abgefangen, sondern die kommen wie geplant nichts ahnend bei der kleinen Familie an.

Anne Roth: Wir saßen bei uns in der Wohnung, haben Kaffee getrunken und waren irgendwie erleichtert, dass wir endlich mal in Ruhe miteinander reden können. Waren schon fertig mit Kaffeetrinken, wollten eigentlich gerade einen Spaziergang machen mit den Kindern, klopft es an der Tür: BKA. Schönen guten Tag. Und das war dann die nächste Hausdurchsuchung, weil ja dann spontan beschlossen werden musste, noch mal zu durchsuchen, um den Inhalt dieses Beutels dann in Augenschein zu nehmen. Wir haben die Tür aufgemacht, die haben gesagt: Hausdurchsuchung, trallala. Und ich hab dann in echt gesagt: Ist das jetzt hier „Verstehen Sie Spaß?“ Weil ich wirklich dachte, das ist jetzt irgendwie… Das kann ja wohl nicht sein.

Serafin Dinges: Aber so war es eben. Die nervösen Beamten stellen fest, dass in dem geheimnisvollen Beutel wirklich nur Ermittlungsakten sind und ziehen wieder ab.

Spendenaufruf

Anna Biselli: Hallo.

Serafin Dinges: Oh, okay. Da ist Empfang ganz schlecht. Wenn das erste Wort schon komplett. Äh. Sag doch mal was.

Anna Biselli: Ich sag noch mal was.

Serafin Dinges: Hallo, Anna Biselli.

Anna Biselli: Hallo, Serafin.

Serafin Dinges: Willkommen zur Werbepause. Mir wurde aber zugetragen, dass Werbepause vielleicht gar nicht so ein gutes Wort ist, weil Leute dann vielleicht skippen. Also nicht skippen. Es ist nämlich keine Werbepause, ist keine Werbung, sondern es ist ein kleiner Spendenaufruf. Und dafür will ich mit Anna Biselli sprechen. Die Autorin dieser Folge und Co-Chefredakteurin von netzpolitik.org. Woran arbeitest du denn gerade?

Anna Biselli: Ich habe gerade eine Presseanfrage verschickt.

Serafin Dinges: An wen?

Anna Biselli: An den Bundesdatenschutzbeauftragten.

Serafin Dinges: Erwartest du dir spannende Antworten?

Anna Biselli: Weiß ich noch gar nicht. Ich habe irgendwie in einem alten Tätigkeitsbericht von vor fünf Jahren was gesehen und dann wollte er datenschutzrechtlich begleiten und seitdem habe ich von dem Ding nie wieder was gehört. Und deshalb habe ich einfach mal nachgefragt, wie’s damit so aussieht. Mal gucken, was zurückkommt. Manchmal weiß man ja nicht, ob es spannend ist.

Serafin Dinges: Okay, also eine tatsächliche Geschichte vom Dranbleiben, wie man das als Journalist macht.

Anna Biselli: Naja, dranbleiben, so nach fünf Jahren, weiß nicht, ob das dann dranbleiben ist, sondern man hat mal wieder an irgendwas gedacht. Aber ja, so in der Richtung.

Serafin Dinges: Doch ich zähl das. Du entscheidest als Co-Chefredakteurin ja auch, was mit dem Geld passiert, mit dem Spendengeld. Wie beeinflusst das dich denn in deinen Entscheidungen, dass du mit Spendengeld umgehst?

Anna Biselli: Das ist natürlich eine krasse Verantwortung, weil das ist ja irgendwie Geld von ganz vielen einzelnen Leuten, vor allem, die uns total gut finden und unterstützen. Und natürlich will man mit dem Geld dann eben auch gut umgehen und eben das so einsetzen, wie es vielleicht im Sinne des Gemeinwohls oder im Sinne aller dieser Leute ist. Und das ist natürlich teilweise schon krass, weil man sich – Ich weiß nicht, habe selten in anderen Kontexten gearbeitet – aber weil man natürlich irgendwie so ein ganz anderes Bewusstsein für das Geld hat, weil es halt nicht so … Das fällt nicht vom Himmel, sondern es kommt eben von ganz vielen Menschen.

Serafin Dinges: Wenn ihr die Unabhängigkeit von netzpolitik.org unterstützen wollt, dann findet ihr alle Infos unter netzpolitik.org/spenden. Wir freuen uns über jede Spende und wir machen weiter und ich lass dich weiter Presseanfragen rausschicken. Dankeschön!

Abgehörte Fernseh-Tipps

Serafin Dinges: Mehr Hausdurchsuchungen gibt es nach dem Zwischenfall mit dem schwarzen Beutel zwar nicht mehr, aber bis Andrej und seine Familie endlich Ruhe haben, dauert es noch ein bisschen. Am 24. Oktober 2007 gibt der Bundesgerichtshof bekannt, dass der Haftbefehl gegen ihn aufgehoben ist. Also fast drei Monate, nachdem die Beamten seine Wohnung durchsuchten und ihn festnahmen. Er muss also endlich keine Angst mehr haben, jeden Moment wieder in den Knast zu kommen. Aber mit den Ermittlungen ist es noch nicht vorbei und auch die Überwachung von Andrej und Anne läuft weiter. Das wissen die beiden heute, weil sie die Unterlagen sehen durften, selbst wenn die Telefongespräche gar nichts mit Andrej zu tun haben, notieren die Beamten gründlich, was verdächtig sein könnte, sogar wenn Anne mit ihrer Mutter telefoniert und Fernsehtipps austauscht.

Anne Roth: Da ist einfach alles Mögliche drin. Also Telefonate von mir mit meiner Mutter beispielsweise, wo du denkst: Was hat meine Mutter mit allem zu tun? Weil die mich darauf hingewiesen hat, dass ein Fernsehdokumentation über was-weiß-ich-was Heiligendamm oder so kommt und das interessiert dich doch bestimmt. So und das findest du in den Akten und seitdem… Also das wird, glaube ich, mein Leben lang nicht mehr aufhören. Oder jedenfalls nicht so lange, wie meine Mutter lebt. Da habe ich immer innerlich, wenn meine Mutter mich anruft – Das tut sie bis heute und mich auf irgendeine Doku hinweist, die mich bestimmt interessiert – dass jetzt nicht so ein Urgh-Gefühl habe. Weil ich denke, da springt jetzt irgendein Algorithmus an.

Serafin Dinges: Aus den Akten erfahren Sie, dass die Polizei wirklich überall dabei war: beim Altglas wegbringen, beim Fußballschauen, in der Kneipe, beim Einkaufen. Sie haben Telefone abgehört, Videokameras auf den Wohnungseingang gerichtet und Emails mitgelesen.

Andrej Holm: Die waren ja überall dabei, das ist sehr, sehr unangenehm zu finden. Und wenn man drüber nachdenkt, dann zu denken: Also die armen Schweine, also die dir beim Einkaufen hinterher gehen müssen, um dann aufzuschreiben, dass man irgendwie ein – steht dann auch in den Akten, weil es keinen richtigen Begriff dafür gibt – einen WC-Pömpel gekauft hat. Also so ein Gummiding, um Unterdruck herzustellen. Und wo ich dann auch denke: So, dafür gibt der deutsche Staat jetzt sehr viel Geld aus, das vermutlich hochschulgebildete Beamtinnen und Beamte dokumentieren, das Verdächtige Pömpel kaufen und in ihre Wohnung tragen.

Serafin Dinges: Bis dann endlich das Verfahren gegen Andrej Holm eingestellt wird, dauert es noch viel länger, bis zum Juli 2010. Das sind drei Jahre, das heißt drei Jahre, bis nicht mehr gegen Andrej ermittelt wird. Endlich darf er deswegen nicht mehr abgehört und überwacht werden. Er muss nicht mehr fürchten, dass ihn doch noch jemand anklagt mit dem Verdacht auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung nach Paragraf 129a. Bis es dann endlich vorbei ist. Übrigens: Auch die Razzien wegen des G8-Gipfels und die dortigen Ermittlungen, gegen die Andrej noch vor seiner eigenen Hausdurchsuchung protestiert hatte, führen zu nichts. Im Gegenteil. Die vielen Hausdurchsuchungen werden im Nachhinein als rechtswidrig beurteilt. Keine Terroristen entlarvt. Die drei Leute, die einen Tag vor der Razzia bei Andrej die Bundeswehr-LKWs anzünden wollte, die wurden 2009 verurteilt wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, wegen der versuchten Zerstörung wichtiger Arbeitsmittel und wegen versuchter Brandstiftung. Sie kamen ins Gefängnis. Gegen die Durchsuchungen in seinem Zuhause geht Andrej nicht juristisch vor. Er hat keine Lust mehr und will, dass es endlich vorbei ist. Er will sich auf seine Arbeit konzentrieren. Will, dass Leute ihn wieder als den Soziologen wahrnehmen und nicht als den Terrorverdächtigen. Es reicht ihm.

Andrej Holm: Das war ja die Zeit, wo in Berlin die Mieten anfingen, durch die Decke zu gehen und irgendwie mein Arbeits- und auch Politthema „Gentrification“ tatsächlich zu einem relevanten Thema geworden war. So wurde ich auch für mich zu einer Ermüdung. Ich will nicht immer nur auf auf Überwachung und dieses Verfahren verkürzt werden. Was das auch noch mal dazu beiträgt zu sagen: Jetzt ist es eigentlich ganz gut, wenn es zu Ende ist.

Serafin Dinges: Vier Jahre lang steht Andrej insgesamt im Visier der Behörden. Vier Jahre, in denen die Ermittler einfach nichts finden, das den Terrorismusverdacht gegen ihn bestätigt. Und die Auswirkungen der Überwachung, die begleiten Anne und Andrej während dieser gesamten Zeit und noch weit darüber hinaus. Sie versuchen zum Beispiel, möglichst nicht konspirativ zu wirken, denn sie wissen ja, wie das bei den Ermittlerinnen ankommen kann. Wenn man ganz unbedarft über schwarze Beutel redet, zum Beispiel. Wenn man nur einen Hammer hat, dann sieht eben alles aus wie ein Nagel. Sie sagen also von nun an immer ganz genau, worum es geht, damit die Polizei beruhigt sein kann.

Bloß nichts weglassen

Andrej Holm: Selbst Verabredungen. „Also treffen wir uns dann wie immer.“ Also könnte das irgendwie eine konspirative Verabredung sein, weil Zeit, Ort und Anlass des Treffens nicht kommuniziert wird? Und man dann sagt: „Du meinst also das Cafe in der Schliemann-Straße zum Fußballgucken?“ „Ja, na, was denn sonst?“ Also wo du dann auch denkst, also das sind ja keine normalen Kommunikationswege, oder? Wo ich gemerkt habe, das erklärt man jetzt lieber noch mal!

Serafin Dinges: Manchmal kommt sich andere dabei ganz schön lächerlich vor. Aber er will Missverständnisse vermeiden. Nicht etwa mit seinen Fußballkumpels. Aber mit den Beamtinnen, die im Hintergrund vielleicht mitlauschen zur Überwachung. Dazu kommt das Gefühl, dass er ständig beobachtet wird. Auch wenn beide sich vorher mit Überwachung beschäftigt haben: das einmal selbst zu erfahren, verändert für sie vieles. Vor allem, weil sie immer wieder verunsichert sind. Ein Verbindungsabbruch beim Telefonieren. War das jetzt Zufall? War das gerade ein Knacken? Schlechte Verbindung? Oder hört schon wieder jemand mit?

Andrej Holm: Also das klingt jetzt irgendwie alles so lustig, wenn man es so 15 Jahre später erzählt, aber so de facto war es so, dass das Wissen um die Überwachung auch tatsächlich dein alltägliches Verhalten, vor allen Dingen dein Kommunikationsverhalten massiv verändert und du eigentlich dann nicht mehr offen kommunizierst, sondern immer mitdenkt, wie Dritte das interpretieren könnten, was du gerade erzählst und berichtest. Und das ist also schon eine sehr einschneidende Erfahrung. Auch.

Serafin Dinges: Das alles ist jetzt schon ziemlich lange her. Aber dieses System, das wächst weiter. Und Andrej? Der ist nicht der Einzige, der so eine Erfahrung machen muss, weil die Polizei dachte, er wäre Teil einer terroristischen oder kriminellen Vereinigung. Nächstes Mal bei Systemeinstellungen:

Alexander Mai: Als Aktivist begeht man eigentlich erst dann Straftaten, wenn man das Gefühl hat, dass man dadurch schlimmere Straftaten verhindert oder zumindest moralisch gesehen schlimmere Sachen durch die Politik oder durch andere Akteure, die vielleicht sich im legalen Rahmen bewegen, aber trotzdem Leben oder Lebensgrundlagen zerstören.

Serafin Dinges: Systemeinstellungen ist eine Produktion von netzpolitik.org, dem Medium für digitale Freiheitsrechte. Host und Producer bin ich Serafin Dinges, Redaktion Anna Biselli, Chris Köver, Ingo Dachwitz und Sebastian Meineck. Titelmusik von Daniel Laufer. Zusätzliche Musik von Bluedot Sessions und mir. Coverdesign Lea Binsfeld. Besonderen Dank an Lara Seemann und Lena Schäfer. Wenn euch der Podcast gefallen hat, dann freuen wir uns sehr über eine gute Bewertung. Und wenn ihr ihn an Freundinnen weiterempfiehlt.

Stimme: Systemeinstellungen ist ein Podcast von netzpolitik.org, dem Medium für digitale Freiheitsrechte. Netzpolitik.org macht mit dieser Arbeit keinen Gewinn und ist spendenfinanziert. Schon ein paar Euro im Monat helfen beim Kampf gegen Überwachung, Netzsperren und digitale Gewalt, für Transparenz, Datenschutz und digitale Rechte. Wenn du diese Arbeit unterstützen willst, spende jetzt unter netzpolitik.org/spenden.

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