Hallo liebe Leser:innen,
wenn ihr diese Zeilen lest, sind es nur noch ein paar Arbeitstage bis zum Beginn meiner Elternzeit. In den vergangenen vier Jahren habe ich für netzpolitik.org aus und über Brüssel berichtet, als dort ein großes Digitalgesetz nach dem anderen auf den Weg gebracht wurde: die umstrittene Reform des Urheberrechts, das Digitale-Dienste-Gesetz, die KI-Verordnung, einheitliche Handy-Ladegeräte und so weiter. Ab Oktober ist damit für die nächsten sechs Monate Schluss, meine kleine Tochter will dann tagsüber von mir bespaßt und umsorgt werden.
Eine ausführliche Bilanz meiner Zeit in Brüssel erspare ich euch, nur so viel: Es hat Spaß gemacht. Mein Französisch ist immer noch grottig, die Sprache der Eurokratie habe ich dafür gründlich gepaukt. Was eine Richtlinie von einer Verordnung unterscheidet, was es mit mysteriösen Arbeitsgruppen wie „Antici“ und „Nikolaides“ auf sich hat, was die EU-Kommission genau mit „Fit for 55“ meint – ich kann es euch im Kopfstand beantworten.
Zugleich gibt es Vieles, das ich gerne noch wissen würde. Etwa, was Ursula von der Leyen in ihren Chats mit dem Chef von Pfizer schrieb. Wer EU-Justizkommissar Didier Reynders gehackt hat. Oder ob es EU-Innenkommissarin Ylva Johansson schafft, ihren europaweit kritisierten Vorschlag für die Chatkontrolle durchzudrücken, obwohl sogar die EU-Staaten intern uneinig sind. Die letzteren beiden Themen haben uns auch diese Woche wieder beschäftigt.
Spannend sind aber auch ein paar gute Ideen aus Brüssel, die derzeit noch in Gesetzesform gegossen werden. Dazu zähle ich den Vorschlag für ein „Recht auf Reparatur“, den die Kommission Ende November vorlegen will. Oder ein Gesetz, das Journalist:innen vor Überwachung durch Staatstrojaner und andere Mittel schützen soll. Oder die geplanten Haftungsregeln für KI-Produkte. Brüssel ist der netzpolitische Motor Europas. Es wird weiterhin relevant sein, was dort passiert – und meine Kolleg:innen werden in meiner Abwesenheit weiter dazu berichten.
Was mir in der netzpolitischen EU-Berichterstattung häufig fehlt, sind positive Visionen. Viel zu oft dominieren in meiner, in unserer Berichterstattung die Abwehrkämpfe gegen problematische Gesetzesvorhaben, die Grundrechte einschränken. Die Chatkontrolle ist da nur ein Beispiel. Die Kritik daran sollte nicht zu kurz kommen. Doch brauchen wir zugleich mehr Raum für Vorschläge, wie eine bessere Politik aussehen könnte. Wie sähe denn ein Europa aus, das freie Software fördert? Das die Zivilgesellschaft dabei unterstützt, eine menschenwürdige, privatsphärenfreundliche Utopie des Internets zu entwickeln?
Der digitale Wandel bohrt mit unablässiger Geschwindigkeit seinen Weg durch unsere Gesellschaft – eine Tendenz, die die Covid-Pandemie nur noch weiter beschleunigt hat. Eigentlich wäre es an der Zeit, vom Kritisieren ins Fantasieren zu kommen. Wir müssen Platz schaffen für die Utopie. Wo fangen wir da am besten an?
Habt eine gute Zeit!
Alex