Liebe Leser:innen von netzpolitik.org!
Ganz schön was los gerade. Wir schauen immer noch verwundert auf Elon Musk und Twitter. Dort ist aktuell eine Generalamnestie ausgerufen worden: Der Milliardär lässt die ganzen Rechtsradikalen von der Leine, die Twitter im Laufe der vergangenen Jahre gesperrt hatte, um den Hass in dem sozialen Netzwerk einigermaßen in den Griff zu kriegen. Was das für die eh schon ramponierte Debattenkultur auf Twitter heißt, kann man sich lebhaft vorstellen. Das Tor zu Hölle ist aufgestoßen, sagen Expert:innen.
Uns kann das doch alles egal sein, oder? Wir halten uns inzwischen vor allem im Fediverse auf und genießen die entspannte Atmosphäre auf Mastodon. Dort wundern wir uns, dass die Interaktionen dort mittlerweile um ein Vielfaches höher sind als auf Twitter. Und wir freuen uns über angeregte und achtsame Diskussionen – und überhaupt darüber, dass da soviel passiert und sich alles ein bisschen so anfühlt wie früher™ im guten alten, dezentralen Internet.
Spannende Debatte der nächsten Monate
Eine solche Sicht auf Mastodon als Blümchenwiese ist natürlich ziemlich naiv. Denn Instanzen im Fediverse, auf denen man seinen Account hat, sind so etwas wie Interessengemeinschaften oder besser: Dörfer. Diese Dörfer sind miteinander vernetzt und wir können mit den Bewohner:innen der anderen Dörfer reden. Angesichts des derzeit steilen Wachstums des Fediverse und seiner einzelnen Dörfer, die nun zu Städten anwachsen, rückt jedoch das Thema der Moderation und der geltenden Regeln auf die Tagesordnung. Die Dörfer müssen mit vielen neu Zugezogenen zurechtkommen. Und im Neubaugebiet ticken die Uhren manchmal anders als in der alten Dorfgemeinschaft. Wir müssen uns also zusammenfinden und lernen, uns gegenseitig zu akzeptieren.
In den Dorfkneipen wird daher bereits eifrig diskutiert, wie künftig moderiert werden soll. Welche Regeln wollen wir bei uns im Dorf? Und mit welchen Dörfern reden wir nicht, weil sie sich nicht an unsere Regeln halten? Die kommenden Wochen und Monate werden darüber entscheiden, wie diese Debatten ausgehen. Setzt sich eine transparente, demokratische und partizipativ erarbeitete Moderationskultur durch? Oder ersetzen wir die alte Plattform-Blackbox nur durch selbstherrliche Dorf-Bürgermeister:innen? Es ist ein spannendes Demokratieexperiment – und wir alle können und sollten darauf drängen, dass wir im Diskurs miteinander und gemeinsam etwas Neues schaffen.
Statt Klima schützen einfach Grundrechte schleifen?
Heftig debattiert wird aktuell auch der zivile Ungehorsam der Letzten Generation, die mit Blockaden auf den Straßen und zuletzt auch auf der Rollbahn des Berliner Flughafens auf die Klimakrise aufmerksam macht. Ungeachtet dessen, ob man die Aktionen der derzeit wohl sichtbarsten Protestgruppe für legitim oder für illegal, für zielführend oder ablenkend befindet – mich erfüllt es mit wachsender Sorge, mit welch populistischer Vehemenz Politiker:innen die Motorsäge ans Grundgesetz ansetzen. Und wie in Bayern Aktivist:innen in Präventivhaft quasi über Nacht zu politischen Gefangenen werden. „Einfach wegsperren“, fordert Andi Scheuer. Einfach nur lästig, diese Grundrechte in der Demokratie. Oder was?
In der verbalen Aufrüstung gegen die Klimaproteste geraten Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit unter die Räder. Statt über die Klimakrise zu reden und endlich zu handeln, thematisieren Bundesregierung und Teile der Opposition nurmehr die in ihren Augen „inakzeptablen, skrupellosen und kontraproduktiven“ Aktionsformen des Protests.
Um Grundrechte ging es in dieser Woche auch in Augsburg. Dort hatte die örtliche Versammlungsbehörde einer Demonstration für Frauenrechte strengste Auflagen gemacht – unter anderem hinsichtlich des Abspielens von Musik und der Lautstärke gerufener Parolen. Die Polizei verfolgte die Demo-Anmelderin wegen zweier gespielter Lieder – und das Amtsgericht der Stadt stellte ihr einen saftigen Strafbefehl in Höhe von über 1.200 Euro aus. Von netzpolitik.org angefragte Versammlungsrechtsexperten halten das für absurd und mit einer liberalen Demokratie unvereinbar. Die Anmelderin zog gegen den Strafbefehl vor Gericht und erzielte am Donnerstag einen Teilerfolg: Das Verfahren wurde gegen Zahlung von 600 Euro eingestellt. Jetzt prüfen die Betroffenen, ob sie den Fall weiter juristisch aufarbeiten.
We fight for your digital Rights.
Zu guter Letzt noch eine Meldung in eigener Sache: Uns fehlen noch fast 500.000 Euro zur Finanzierung des Jahresbudgets, mit dem wir Tag für Tag für digitale Grund- und Freiheitsrechte kämpfen. Durch deine Spende sind wir dabei redaktionell unabhängig und nicht auf Werbung, Tracking, Paywall oder Clickbaiting angewiesen. In Videos und persönlichen Einblicken zeigen wir euch, mit welchen Prinzipien und mit welchen Mitteln unsere Redaktion arbeitet. Schaut gerne mal rein!
Ich wünsche ein demokratisches Wochenende.
Markus Reuter