Massenhafte KommunikationsüberwachungGeheimdienst-Gesetze müssen auf den Prüfstand

Die kürzliche Neuregelung des BND-Gesetzes sollte nicht die letzte sein, denn ein Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs muss Nachbesserungen zur Folge haben. Wir fragten beim Innen- und Justizministerium nach, was die Ressortabstimmung zum Urteil ergeben hat. Nun muss die neue Regierung die Geheimdienst-Gesetze erneuern.

Das umzäunte Gebäude des BND in Berlin-Mitte.

Im Mai dieses Jahres erging ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zur Massenüberwachung der Kommunikation und zur Geheimdienstkontrolle, das auch Folgen für den deutschen Gesetzgeber haben sollte. Die damalige schwarz-rote Bundesregierung hatte nach dem Urteil in Folge von zwei parlamentarischen Anfragen schriftlich angegeben, es hätte dazu eine sogenannte „Ressortabstimmung“ gegeben. Gemeint ist damit, dass sich die zuständigen Ministerien über die Folgen des Urteils und eine mögliche entstehende Handlungspflicht besprechen und eben abstimmen.

Wir wollten gern wissen, was das Ergebnis dieser Ressortabstimmung war, und hatten das Bundesinnenministerium (BMI) und das Bundesjustizministerium (BMJV) in zwei Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz (IFG) um die entsprechenden Unterlagen ersucht. Zwei IFG-Anfragen für den Schriftverkehr zwischen den Ressorts gingen also an das BMI und gleichlautend an das BMJV.

Dem höchstrichterlichen Spruch aus Straßburg war ein mehrjähriger Rechtsstreit und bereits ein erstes Urteil vorausgegangen, das mit dem Urteil der Großen Kammer des Gerichtshofs im Mai noch verschärft wurde. Das erste Urteil war damit nicht nur bestätigt, sondern vor allem konkretisiert. Die Voraussetzungen für die europäischen Staaten, die ihren Geheimdiensten das massenhafte Dateneinsammeln internetbasierter Kommunikation erlauben, wurden dadurch nun enger gezogen. Das sind neben Deutschland und Großbritannien aktuell Finnland, die Schweiz, Frankreich, Schweden und die Niederlande.

Deutschland ist als einer dieser nur wenigen europäischen Staaten mit gesetzlich erlaubter geheimdienstlicher Massenüberwachung der Kommunikation von der Entscheidung der Straßburger Richter besonders betroffen. Denn das deutsche BND-Gesetz erlaubt die sogenannte „strategische Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung“ des Bundesnachrichtendiensts. Zudem müsste auch das G10-Gesetz abgeklopft werden. Denn die Schranken der beiden Gesetze haben sich an dem neuen Urteil zu messen. Und das Höchstgericht bietet den heute mehr als zu Zeiten der Veröffentlichungen der Snowden-Dokumente sakrosankt wirkenden Geheimdiensten durchaus Paroli.

Zu einer Neuregelung des BND-Gesetzes kam es zuletzt noch vor dem Straßburger Urteil. Die gesetzliche Neufassung der Ausland-Ausland-Fernmeldeaufklärung wurde erforderlich durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Mai 2020, das die zuvor geltenden Regelungen der BND-Massenüberwachung als verfassungswidrig und als Verstoß gegen das Telekommunikationsgeheimnis und gegen die Pressefreiheit brandmarkte. Die Mehrheit des Deutschen Bundestags hatte am 25. März 2021 einen Gesetzentwurf der damaligen Bundesregierung zur Reform des BND-Gesetzes verabschiedet.

Einschätzungen mit Schwärzungen

Die IFG-Anfragen hatten wir schon Anfang August gestellt. Mehrere Monate waren nach dem Urteil vergangen, es herrschte noch die schwarz-schwarz-rote Koalition. Mittlerweile ist sie Geschichte.

Das Justizministerium hatte zuerst geantwortet, dem Antrag teilweise stattgegeben und fristgerecht und gebührenfrei die Antwort auf Papier gesendet. Der Stapel war zwar wegen des ausgedruckten Urteils mehrere Zentimeter hoch, doch faktisch war nur eine knappe interne Einschätzung zum Urteil mit Bezug auf den BND von inhaltlichem Belang: Ein kurzer Vermerk vom 1. Juni und eine fünfseitige Vorlage für die Ministerin mit einer knappen Bewertung juristischer Natur waren dabei, letztere allerdings stark geschwärzt.

Die Schwärzungen betreffen die Einschätzungen rund um ein aktuell noch laufendes Beschwerdeverfahren in Straßburg gegen die Bundesrepublik, das Reporter ohne Grenzen wegen der geheimdienstlichen Kommunikationsüberwachung durch den BND nach dem G10-Gesetz führt. Dazu muss das BMJV eine Stellungnahme an den Gerichtshof abgeben. Das Straßburger Urteil soll in diese Stellungnahme einfließen.

geschwaerzte Passagen
Geschwärzte Passagen aus dem Papier des Justizministeriums.

Das Justizministerium hebt in dem kurzen Schreiben zum Gerichtsurteil hervor, dass es sich um „eine wichtige Leitlinie für alle Vertragsstaaten“ handele, also auch für Deutschland. Sie sei wegen des laufenden Verfahrens von Reporter ohne Grenzen sogar „von besonderem Interesse“. Wichtig ist dem Ministerium aber auch zu betonen, dass die Massenüberwachung an sich nicht in Frage gestellt werde, allerdings eine rechtsstaatliche Absicherung brauche.

Das Papier enthält im ungeschwärzten Teil nur eine stichpunktartige Zusammenfassung der Pressemitteilung des Gerichtshofs und eine Fußnote mit einem kurzen Überblick zu den stren­geren Über­wa­chungs­re­geln sowie einem Kommentar zum Urteil. Dieser Kommentar beschreibt recht pointiert, worin das Problem der höchstrichterlichen Entscheidung besteht, nämlich in der Normalisierung der Massenüberwachung und der Tatsache, dass der Gerichtshof das zentrale Argument der Beschwerdeführer zur Unvereinbarkeit solcher Überwachungsprogramme mit der Menschenrechtskonvention zurückgewiesen hat, obwohl die verklagte britische Regierung keine Beweise vorlegen konnte, dass sie wirksam im Sinne einer höheren Sicherheit wären.

Die eigentliche inhaltliche Einschätzung des Ministeriums besteht aus lediglich drei kurzen Absätzen in der Ministerin-Vorlage, von denen nur einer ungeschwärzt geblieben ist. Dieser lautet:

Nach hiesiger Einschätzung haben die Entscheidungen der Großen Kammer in erster Linie dazu geführt, die konventionsrechtlichen Kriterien für die strategische Fernmeldeüberwachung zu aktualisieren und zu präzisieren. Dies hat nicht unbedingt zu einer Verschärfung der Voraussetzungen geführt. (Hervorhebung im Original)

Man hört bei diesen Worten den Aktendeckel schon förmlich zuklappen. Handlungspflicht schien im Ministerium niemand zu sehen.

Was die eigentliche Ressortabstimmung angeht, schickte das BMJV keine Dokumente zur Kommunikation, obwohl wir „alle Unterlagen, inkl. der Kommunikation zwischen den Ressorts der Bundesregierung“ zum Urteil, angefragt hatten. Von Seiten des BMJV wurden uns aber keinerlei E-Mails zum BMI oder beispielsweise zum Kanzleramt überlassen. So wie der IFG-Antrag gestellt war, hätte das Ministerium alle E-Mails übermitteln oder aber den Antrag in diesem Punkt ablehnen müssen.

Denn dass solche E-Mails zwischen BMJV und BMI existieren, zeigte der Ausgang der zweiten, wortgleichen IFG-Anfrage an das Innenressort. Das ließ sich etwas mehr Zeit und kündigte zwischenzeitlich Gebühren in Höhe von neunzig Euro an, gab aber am 5. Oktober dem Antrag dann doch gebührenfrei statt.

Technisch stellte uns das Ministerium allerdings vor eine Hürde, denn verschickt wurden 28 Dateien auf einer CD, für deren Auslesen das Betriebssystem Windows und ein Programm namens Outlook erwartet wurden. Dieses Vorgehen hatten wir 2015 schon erlebt. In der Redaktion sind allerdings CD-Laufwerke rar, ebenso Windows-Rechner, geschweige denn Outlook.

brief mit CD
Das BMI schickte einen separaten Brief mit dem Passwort für die CD.

Wir haben es aber hinbekommen, die Daten von der Scheibe gekratzt und mit dem vorbildlich in einem separaten Brief verschickten Passwort entschlüsselt. Über die neuen richterlichen Grenzen der allumfassenden digitalen Kommunikationsüberwachung fanden sich darauf 27 E-Mails.

Anfang Juni schickte das Justizministerium demnach seine Zusammenfassung und Einschätzung an das Innenressort. Sechs Referate im Innenministerium beteiligten sich an einer eigenen Einschätzung der Vereinbarkeit der geheimdienstlichen Massenüberwachung mit der Menschenrechtskonvention. So heißen darf die Massenüberwachung aber möglichst nicht: In den E-Mails findet sich der Vorschlag, „den Begriff ‚Massenüberwachung‘ durch die eigentliche Bezeichnung der strategischen Fernmeldeüberwachung zu ersetzen“. Der Begriff sei „etwas negativ konnotiert“. Zwar sei die im BMJV gängige Bezeichnung „nachrichtendienstliche strategische Telekommunikationsüberwachung“ doch „etwas sperrig“, aber vorzuziehen.

Wichtig ist den Ministerialen aus dem Innenressort auch zu betonen, dass eine Massenüberwachung als solche nach dem Urteil möglich bleibt und nicht schon an sich gegen die Menschenrechtskonvention verstößt. Es wird ein weiter Ermessensspielraum gesehen, ein geheimdienstliches Massenüberwachungsprogramm durchzuführen. Aus den E-Mails geht nirgends hervor, dass externer Sachverstand herangezogen wurde oder in Zukunft rechtliche Gutachten in Auftrag gegeben werden könnten, um das komplexe Urteil zu analysieren und mögliche Pflichten für den Gesetzgeber zu identifizieren.

In seiner knappen inhaltlichen Stellungnahme macht sich das BMI einen schlanken Fuß in der Frage, ob der Gesetzgeber denn nun handeln muss oder nicht: Es werde „geprüft“, ob sich „gesetzgeberischer oder anderer Handlungsbedarf ergibt“. Das sollte dann auch so nach außen kommuniziert werden: Man wolle „zum aktuellen Zeitpunkt noch keine Aussagen zu etwaigen […] Konsequenzen oder gesetzgeberischem Handlungsbedarf treffen“.

Eine gesetzliche Nachbesserung muss her

Dringenden Handlungsbedarf ließen die Ministerialen nach den Dokumenten unserer IFG-Anfragen nicht erkennen. Was beispielsweise der neue „Ende-zu-Ende“-Schutz in allen vier Stufen der Massenüberwachung, die der Gerichtshof im Urteil ausführlich definiert, für den hiesigen Gesetzgeber bedeutet, dazu steht im ungeschwärzten Teil nichts. In jeder dieser Stufen wäre eigentlich deren Rechtmäßigkeit zu prüfen, wenn man die „end to end safeguards“ der Straßburger Richter ernst nimmt.

Nach dem höchstrichterlichen Urteil eine gesetzliche Nachbesserung in die Wege zu leiten, muss nun die neue Regierung angehen. Es liegt bereits eine Analyse vor, die konkrete Vorschläge erarbeitet hat, was zu verbessern ist. Die Stiftung Neue Verantwortung (SNV) hat dazu im November die Analyse Caught in the Act? (pdf) vorgelegt.

Ein bisher wenig gesehener Knackpunkt könnte die Frage der Metadaten sein, die von der SNV-Analyse aufgegriffen wird. Solche auch Verkehrsdaten genannten Informationen geben Aufschluss darüber, wer wann wo und wie lange mit wem gesprochen oder geschrieben hat. Das EGMR-Urteil klassifiziert auch Metadaten als besonders schützenswert und stellt sie explizit mit Inhaltsdaten auf eine Stufe. Das SNV-Papier schlägt entsprechend vor, künftig dieselben Regeln und Schutzmaßnahmen für Inhaltsdaten und für Metadaten vorzuschreiben, da sie in gleicher Weise schutzwürdig seien.

Die SNV-Analyse sieht auch erheblichen Nachbesserungsbedarf bei den Regelungen zur Kontrolle der Selektoren im BND-Gesetz, deren Rechtmäßigkeit vorab und auch nachträglich nicht ausreichend zu prüfen sei. Die Auswahlkriterien für Selektoren und generell die Kontrolle von allen Suchbegriffen, die vom BND genutzt werden, um die riesigen Datenhalden zu durchforsten, sollten wenigstens nachträglich vorgeschrieben werden. Dass im BND-Gesetz keine Vorschriften enthalten sind, die das Festhalten von nur für kurze Zeit genutzten Selektoren vorschreiben, um eine Kontrolle zu ermöglichen, wird in der SNV-Analyse kritisch gesehen. Auch das dürfte gegen das EGMR-Urteil verstoßen.

Eine weitere offene Frage ist für die neue Regierung, ob der im neuen BND-Gesetz vorgesehene Kontrollrat aus sechs Mitgliedern den neuen Vorgaben aus Straßburg entspricht. Die Einbindung eines Vertreters des öffentlichen Interesses wäre nach dem Urteil nämlich erforderlich. Das Bundesverfassungsgericht hatte den Bundesdatenschutzbeauftragten als Kontrollinstanz vorgeschlagen, die schwarz-schwarz-rote Regierung hob aber einen neuen Kontrollrat aus der Taufe. Dieser Rat ist aus sechs Juristen zusammengesetzt, die entweder aktive Richter oder Bundesanwälte am Bundesgerichtshof sind. Ob die Anforderungen aus Straßburg damit erfüllt werden, ist nun zu prüfen.

Beim G10-Gesetz wird es noch kritischer, da die Maßnahmen vom Innenministerium angeordnet und von der G10-Kommission genehmigt und geprüft werden. Rechtlich und auch ganz praktisch gesehen ist die G10-Kommission aber noch weniger unabhängig als der neugeschaffene Kontrollrat im BND-Gesetz.

Es sind also nicht wenige Baustellen bei den Geheimdienst-Gesetzen, mit denen sich die neue Regierung beschäftigen muss. Die SNV-Analyse kritisiert beim neuen BND-Gesetz ganz grundsätzlich einen „Disconnect with recent European jurisprudence“, also eine Abkoppelung des deutschen Gesetzgebers von der Rechtsprechung der europäischen Höchstgerichte, sowohl vom Luxemburger als auch vom Straßburger Gerichtshof.

Eine neue Politik in Sachen Geheimdienste

Das Urteil der Großen Kammer des EGMR erging vordergründig gegen die britische Regierung und deren größte Spionagebehörde GCHQ, die als technischer Geheimdienst die Massenüberwachung durchführt. Aber die Auflagen des Urteils an den britischen Gesetzgeber gelten ebenso in Deutschland und in allen anderen Staaten, die der Europäischen Menschenrechtskonvention beigetreten sind. Der Wechsel an der Regierung bietet die Chance, die höchstrichterliche Entscheidung in deutsches Recht umzusetzen und bei der Gelegenheit die Geheimdienst-Gesetze ohne Scheuklappen zu überarbeiten, auch in Verbindung mit der offenbar anstehenden Strukturreform des BND.

Tritt man einen Schritt zurück und blickt auf die letzten Jahre und die schwarz-schwarz-rote Politik in Sachen geheimdienstlicher Massenüberwachung, so wurden die Weichen ganz klar in Richtung Ausbau gestellt, zuletzt am 19. April dieses Jahres mit Inkrafttreten der novellierten Fassung des BND-Gesetzes. Aus all den Snowden-Veröffentlichungen, aus den Erkenntnissen des NSA-BND-Untersuchungsausschusses und aus den verschiedenen höchstrichterlichen Urteilen wurden keine Konsequenzen zum Rückbau technisierter Überwachung und auch zu wenig Konsequenzen in Richtung einer wirksamen Kontrolle gezogen. Dass ihnen ein Minister Seehofer oder eine Kanzlerin Merkel ernsthafte Regeln und Beschränkungen vorschreiben wollten, brauchten die Geheimen nicht zu befürchten.

Doch diese Zeit muss vorbei sein, mit einer Ampel-Regierung sollte sich diese Gewissheit ändern. Das Urteil aus Straßburg könnte Anlass sein, den Geheimdiensten mehr Zügel anzulegen. Vom gefährlichen Weg der technischen Narrenfreiheit der Geheimdienste wieder abzubiegen, wäre die Aufgabe der neuen Ampel-Regierung. Mit dem sozialdemokratischen Esken-Klingbeil-Führungsduo mit technischer Kompetenz und mit den grünen und liberalen Koalitionären, die deutlich geheimdienstkritischer als die schwarzen Parteien sind, sollte das doch zu machen sein.


Offenlegung: Ich war einer der Beschwerdeführer am Menschenrechtsgerichtshof.

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