Türkisches Internet-GesetzDie bislang schlimmste Kopie des deutschen Netzwerkdurchsetzungsgesetzes

Das türkische Gesetz gegen Hassrede im Netz öffnet eine neue Dimension staatlicher Zensur und Überwachung. Als Vorbild nennt die Regierung in Ankara ausgerechnet das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz.

Bild von einer Demonstration. Zu sehen sind mehrere Schilder, unter anderem ein Bild von Präsident Erdogan und ein Schriftzug "Dont Touch my Internet".
Bereits 2011 gingen Tausende in Istanbul auf die Straße um gegen Zensur im Internet zu protestieren. CC-BY 2.0 Thai Civil Rights and Investigat (TCIJ)

Svea Windwehr und Jillian York arbeiten für die Electronic Frontier Foundation (EFF). Dieser Text ist eine Übersetzung aus dem Englischen.

Seit Jahren sind die Meinungs- und Pressefreiheit in der Türkei unter Beschuss. Das Land ist bekannt dafür, der größte Kerkermeister der Welt für Journalist:innen zu sein und die türkische Regierung ist in den vergangenen Jahren hart gegen die Meinungsfreiheit im Netz vorgegangen. Ein neues Gesetz führt nun weitere bedeutsame Befugnisse ein und stellt einen weiteren Schritt in Richtung einer umfassenden Internetzensur dar.

Das Gesetz wurde im Eiltempo und ohne Einbeziehung der Opposition oder anderer Interessengruppen am 29. Juli vom türkischen Parlament verabschiedet. Es zielt auf die vollständige Kontrolle der Social-Media-Plattformen und deren Inhalte ab. Begründet wird das Gesetz mit einer Reihe angeblich beleidigender Tweets gegen die Tochter und den Schwiegersohn von Präsident Erdogan.

Mit dem Gesetz soll vorgeblich Hassrede und Belästigungen im Internet bekämpft werden. Der türkische Anwalt und Vizepräsident des IT-, Technologie- und Rechtsrats der Anwaltskammer in Ankara, Gülşah Deniz-Atalar, bezeichnete das Gesetz als „Versuch, eine Zensur einzuleiten, um das soziale Gedächtnis im digitalen Raum auszulöschen“.

Faktische Sperrung von sozialen Netzwerken möglich

Sobald Präsident Erdogan das Gesetz bestätigt, müssten alle Sozialen Netzwerke mit mehr als zwei Millionen täglichen Nutzer:innen einen lokalen Vertreter in der Türkei benennen. Aktivist:innen befürchten, dass die Regierung dadurch noch mehr Zensur und Überwachung durchführen könnte. Sollten die Konzerne dem nicht nachkommen, könnten sie mit Werbeverboten, hohen Geldstrafen und – besonders beunruhigend – einer Verringerung der Bandbreite belegt werden.

Das Gesetz führt zudem neue besorgniserregende Befugnisse für Gerichte ein. Zukünftig könnten Richter:innen die Internet-Provider anweisen, die Bandbreite von Social-Media-Plattformen um bis zu 90 Prozent zu drosseln, wodurch der Zugang zu diesen Seiten praktisch blockiert wäre. Die lokalen Vertreter:innen der Unternehmen wären verpflichtet auf Anfragen der Regierung zur Sperrung oder Entfernung von Inhalten zu reagieren. Wenn ein Gerichtsbeschluss vorliegt und angeblich „Persönlichkeitsrechte“ oder die „Privatsphäre“ verletzt sind, müssten sie die Inhalte innerhalb von 48 Stunden entfernen oder mit hohen Geldstrafen rechnen.

Nutzerdaten für die türkische Polizei

Das Gesetz enthält darüber hinaus Bestimmungen, die die Social-Media-Plattformen dazu verpflichten würden, die Daten der Nutzer:innen lokal zu speichern. Das lässt fürchten, dass die Anbieter verpflichtet werden könnten, diese Daten an türkische Behörden weiterzuleiten. Nach Ansicht von Expert:innen würde das die bereits grassierende Selbstzensur der türkischen Social-Media-Nutzer:innen noch verschlimmern.

Obwohl die Türkei bereits heute mehrere Hunderttausend Websites blockiert und auf eine lange Geschichte der Internetzensur zurückblickt, würde dieses Gesetz eine noch nie da gewesene Kontrolle der türkischen Regierung über Online-Inhalte schaffen. Der türkische Gesetzgeber bezieht sich dabei ausdrücklich auf das umstrittene deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz und ein ähnliches Regelwerk aus Frankreich als positive Beispiele.

Das umstrittene NetzDG

Das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz, kurz NetzDG, nimmt für sich in Anspruch, gegen „Hassrede“ und illegale Inhalte in sozialen Netzwerken vorzugehen. Es ist 2017 in Kraft getreten und seither zweimal verschärft worden. Das Gesetz, das trotz der lautstarken Kritik von Abgeordneten, Wissenschaftler:innen und Expert:innen aus der Zivilgesellschaft in einem zügigen Tempo verabschiedet wurde, zwingt Social-Media-Plattformen mit mehr als zwei Millionen Nutzer:innen, einen lokalen Vertreter zu benennen, der als Ansprechperson für Strafverfolgungsbehörden fungiert und Anfragen der Behörden zur Löschung von Inhalten entgegennimmt.

Das Gesetz verpflichtet Social-Media-Unternehmen mit mehr als zwei Millionen Nutzer:innen in Deutschland, Inhalte, die „offensichtlich rechtswidrig“ erscheinen, innerhalb von 24 Stunden nach Erhalt einer Beschwerde zu entfernen oder zu sperren. Das Gesetz ist im In- und Ausland heftig kritisiert worden, und einige Expert:innen weisen darauf hin, dass es gegen das wichtigste europäische Regelwerk für das Internet, die E-Commerce-Richtlinie, verstößt.

Kritiker:innen haben auch klar gemacht, dass das enge Zeitfenster für die Entfernung von Inhalten keine ausgewogene rechtliche Analyse zulässt. Das NetzDG überträgt polizeiliche Befugnisse an private Unternehmen, was teilweise zur Löschung von harmlosen Postings führte und damit die Meinungsfreiheit untergräbt, wenn auch in einem geringeren Maße als zunächst befürchtet.

Ein deutscher Exportschlager

Seit seiner Einführung ist das NetzDG ein echter Exportschlager, denn es hat eine Reihe ähnlich schädlicher Gesetze in anderen Staaten rund um den Globus inspiriert. Eine kürzlich durchgeführte Studie zeigt, dass mindestens dreizehn Länder seit Inkrafttreten des NetzDG ebenfalls Gesetze vorgeschlagen oder erlassen haben, die auf der Struktur des NetzDG beruhen, darunter Venezuela, Australien, Russland, Indien, Kenia, die Philippinen und Malaysia.

In Russland ermutigt ein Gesetz aus dem Jahr 2017 Nutzer:innen, vermeintlich „rechtswidrige“ Inhalte zu melden, und schreibt Social-Media-Plattformen mit mehr als zwei Millionen Nutzern vor, die betreffenden Inhalte sowie Re-Posts zu löschen, was dem deutschen Gesetz sehr ähnlich ist. Dass Russland das deutsche NetzDG kopiert hat, bestätigt die schlimmsten Befürchtungen der Kritiker:innen: Das Gesetz dient als Vorlage und Legitimation für autokratische Regierungen, um Online-Inhalte zu zensieren.

Auch die jüngsten malaysischen und philippinischen Gesetze zur Bekämpfung von Fake News und Desinformation beziehen sich ausdrücklich auf das NetzDG. In beiden Ländern wurde das NetzDG-Modell angewandt, das hohe Geldstrafen (und im Fall der Philippinen bis zu 20 Jahre Haft) vorsieht, wenn Social-Media-Plattformen ihrer Pflicht nicht nachkommen, entsprechende Inhalte rasch zu entfernen.

Biegsames Instrument zur Unterdrückung

Venezuela geht noch einen Schritt weiter. Ein Gesetz aus dem Jahr 2017, das sich ebenfalls ausdrücklich auf das NetzDG bezieht, sieht lediglich ein Zeitfenster von sechs Stunden vor, um Inhalte zu entfernen, die als „Hassreden“ gelten. Das venezolanische Gesetz – das mit schwachen Definitionen und einem sehr weiten Geltungsbereich abrietet und unter anderem durch den Verweis auf das deutsche Gesetz legitimiert wurde – ist ein mächtiges und biegsames Instrument der venezolanischen Regierung zur Unterdrückung von Dissident:innen.

Singapur ist ein weiteres Land, das sich durch das deutsche NetzDG inspirieren ließ: Im Mai 2019 wurde ein Gesetzentwurf zum Schutz vor Online-Fehlverhalten und Manipulation verabschiedet, der die Regierung ermächtigt, Plattformen anzuweisen, Inhalte zu korrigieren oder zu löschen. Wenn sich Plattformen nicht daran halten, müssen sie hier ebenfalls mit erheblichen Geldstrafen rechnen. Ein Regierungsbericht, der der Einführung des Gesetzes vorausging, verweist ausdrücklich auf das deutsche Gesetz.

Analog zu diesen Beispielen weist auch das kürzlich verabschiedete türkische Gesetz deutliche Parallelen zum deutschen Ansatz auf: Das Gesetz zielt auf Plattformen einer bestimmten Größe ab und schafft durch die Festlegung erheblicher Geldbußen Anreize für die Umsetzung von Lösch-Anfragen, wodurch die Plattformen zu den ultimativen Gatekeepern werden, die über die Rechtmäßigkeit von Online-Inhalten zu entscheiden haben.

In wichtigen Punkten geht das türkische Gesetz weit über das NetzDG hinaus, da sein Geltungsbereich nicht nur Social-Media-Plattformen, sondern auch Nachrichtenseiten umfasst. In Kombination mit seinen immensen Bußgeldern und der Drohung, den Zugang zu Websites zu sperren, ermöglicht das Gesetz der türkischen Regierung, jeden Dissens, jede Kritik oder jeden Widerstand auszuradieren.

Gefährlicher Export in autoritäre Staaten

Dass das türkische Gesetz sogar über das NetzDG hinausgeht, verdeutlicht die Gefahr eines internationalen Exports des mangelhaften deutschen Regelwerks. Als Deutschland das Gesetz 2017 verabschiedete, zeigten Staaten auf der ganzen Welt ein wachsendes Interesse daran, vermeintliche und tatsächliche Online-Bedrohungen zu regulieren, die von Hassrede über illegale Inhalte bis hin zu Cyber-Mobbing reichen.

Das NetzDG ist bereits in Deutschland problematisch, wo es in ein funktionierendes Rechtssystem mit angemessenen Kontrollmechanismen und Absicherungen eingebettet ist. In den Gesetzen, die es inspiriert hat, fehlen diese Schutzvorkehrungen.

Das NetzDG hat geholfen, drakonische Zensurgesetze auf der ganzen Welt zu legitimieren. Es ist immer schlecht, wenn mangelhafte Gesetze anderswo kopiert werden. Doch besonders problematisch ist das in den autoritären Staaten, in denen bereits eine strenge Zensur und Einschränkungen der Meinungs- und Pressefreiheit gilt. Auch wenn die Tendenzen gegen die Meinungs- und Pressefreiheit in Ländern wie der Türkei, Russland, Venezuela, Singapur und den Philippinen schon lange vor dem NetzDG bestanden haben, bietet das deutsche Gesetz ihnen zweifellos die Legitimität, die Grundrechte online weiter auszuhöhlen.

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2 Ergänzungen

  1. Ein weiterer Exportschlager „Made in Germany“. Man ist in Berlin hoffentlich ganz besonders Stolz auf diese Leistung!

  2. Für die ‚autoritären‘ Staaten ist es ein weiterer Schritt, die Grundrechte auszuhöhlern – in Deutschland ebenso. Schade, armes Deutschland.

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