EU-Staaten lehnen einstimmig schärfere Exportkontrollen für Spähsoftware ab

Die EU-Staaten haben sich auf eine Position zum Export von Überwachungstechnologien geeinigt. Kommission und Parlament wollen den Handel mit autokratischen Regimen stärker kontrollieren. Die Mitgliedstaaten lehnen das komplett ab, auch Deutschland ist eingeknickt.

Saudischer Kronprinz Mohammed bin Salman mit Handys.
Überwacht Handys und kauft deutsche Spähtechnik: Saudischer Kronprinz Mohammed bin Salman. Ahmed Al Omran

Daniel Moßbrucker begleitet für Reporter ohne Grenzen die Reform der EU-Dual-Use-Verordnung. Die Nichtregierungsorganisation setzt sich weltweit für den Schutz von Journalist:innen ein und kämpft online wie offline gegen Zensur.

Ende Mai appellierte der UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Meinungsfreiheit, David Kaye, an die internationale Staatengemeinschaft und forderte ein Moratorium für den Verkauf von Spähtechnologie. Auf der ganzen Welt werden Journalist:innen, Aktivist:innen und Oppositionelle mit modernster Technologie überwacht. Der Handel floriert – aber eine globale Regulierung gibt es allenfalls in Ansätzen.

Mit denselben Argumenten hatte die EU-Kommission bereits 2016 einen Reformvorschlag vorgelegt. Es geht um Hacking-Software, Datenzentren zur Vorratsdatenspeicherung, IMSI-Catcher zur Überwachung von Demonstrationen oder Equipment zur Telekommunikationsüberwachung.

Über zwei Jahre hatten die EU-Staaten über die Pläne der Kommission gestritten, ehe sie eine Woche nach der Forderung des UNO-Experten ihren Kompromiss präsentierten. Sie lehnen alle Pläne ab, die stärkere Kontrollen von Überwachungstechnologie ermöglichen würden.

Im Beschluss steht nun überall „gelöscht“, wo die Kommission die Regulierung im sogenannten Cyber-Cluster der Dual Use-Verordnung neu regeln wollte. Das „Cyber-Cluster“ beschreibt eine Reihe an Maßnahmen, mit denen die Kommission menschenrechtlich fragwürdige Exporte von Überwachungsfirmen begrenzen möchte. Sämtliche Vorschläge aus diesem Cluster haben die EU-Staaten nun abgelehnt.

Die Abstimmungen im Rat sind stets geheim, aber aus Regierungskreisen ist zu hören, dass das Votum der EU-Staaten einstimmig war – auch Deutschland hat zugestimmt.

Keine Mehrheit, keine Menschenrechte

Bei Abgeordneten im Europäischen Parlament herrscht teilweise Fassungslosigkeit über diese Einigung, die eigentlich keine ist. Dem Vernehmen nach sind die EU-Staaten tief zerstritten in einigen Details, einzelne Lager blockierten sich jahrelang gegenseitig.

Am Ende beschlossen sie, das Cyber-Cluster ganz fallen zu lassen, dafür aber einige Industrieforderungen umzusetzen, zum Beispiel weniger Bürokratie beim Export von Dual-Use-Gütern. Der Abgeordnete Klaus Buchner sitzt für die kleine Ökologisch-Demokratische Partei ÖDP im Europaparlament und leitet die Verhandlungen des Parlaments mit der Kommission. Er kommentiert enttäuscht:

Wir haben zwei Jahre auf die Mitgliedstaaten gewartet, damit sie am Ende keine Lösung vorschlagen. Es ist völlig verantwortungslos, dass keine der von der Kommission oder uns im Europäischen Parlament vorgeschlagenen Maßnahmen zur Regulierung des Handels mit Überwachungstechnologie übernommen wurde. Die Industrie hat ganze Arbeit geleistet.

In der Tat war der Einfluss der Industrie auf die EU-Staaten von Anfang an massiv. Das zeigen auch unsere Enthüllungen „Dual-Use-Leaks“: In internen Verhandlungsprotokollen wurde deutlich, wie die Bundesregierung insbesondere Forderungen der Industrie erfüllen wollte und Menschenrechtsstandards zweitranging waren.

Dabei hat sich die Bundesregierung jedoch gehörig verzockt: Nachdem die Verhandler das wirtschaftliche Gewicht Deutschlands für Industrieinteressen eingebracht hatten, wurden sie vom Widerstand anderer Staaten wie Schweden und Finnland gegen menschenrechtliche Standards überrascht. Dieser Block setze sich letztlich durch, so dass nun auch die Bundesregierung einer Version zustimmte, die Handel mit Spähtechnologie überhaupt nicht einschränkt.

Regierung schiebt Verantwortung zum Parlament

Ein internes Dokument der Bundesregierung legt nun nahe, dass die Bundesregierung wieder hofft, durch (bisher nicht vorhandenes) Verhandlungsgeschick noch etwas bewegen zu können. Als einziges Land fügte die Bundesregierung dem geheimen Votum eine „Protokollerklärung“ hinzu. Das Papier liegt uns vor, darin heißt es:

Vor dem Hintergrund des seit mehreren Jahren andauernden Gesetzgebungsprozesses stimmt die Bundesrepublik Deutschland dem vorliegenden Ratsbeschlussentwurf zu, um den Fortgang des Gesetzgebungsprozesses zu ermöglichen.

Die Zustimmung erfolgt darüber hinaus in dem Verständnis, dass in den Beratungen mit dem Europäischen Parlament Möglichkeiten für eine künftige rechtssichere, für Behörden und Unternehmen in der Praxis umsetzbare Kontrolle der Ausfuhr von Gütern der digitalen Telekommunikationsüberwachung eruiert werden.

Soll heißen: Wir hätten eigentlich noch etwas für Menschenrechte tun wollen, aber wir stimmen trotzdem zu, damit es endlich weitergeht. Vielleicht kann das Parlament ja noch etwas reißen.

Das mag wie eine ehrenwerte Absichtserklärung klingen, ist rechtlich jedoch bedeutungslos – und das endgültige Eingeständnis der Bundesregierung, beim Schutz der Menschenrechte gescheitert zu sein. Die Bundesregierung hat dem „Kompromiss“ zugestimmt, daran werden andere Staaten Deutschland erinnern.

Berichterstatter: Fundamentale Ablehnung

Jetzt geht das Gesetzgebungsverfahren in den Trilog, in dem Kommission, Parlament und Mitgliedstaaten versuchen, einen Konsens zwischen ihren Positionen zu erzielen.

Wegen der Blockade innerhalb des Rats stieg bei den Mitgliedsstaaten zuletzt die Sorge, dass die Kommission die Reform entnervt zurückziehen könnte. Damit wäre auch die Chance vertan, wichtige Industrie-Interessen beim Bürokratie-Abbau umzusetzen. Den Ärger der Industrie, die in Lobbypapieren offen gegen schärfere Kontrollen von Überwachungstechnologie wettert, wollte sich die Bundesregierung wohl ersparen.

Die Trilog-Verhandlungen für die Mitgliedstaaten wird nun der Finne Teemu Sepponen führen. Finnland lehnt das Cyber-Cluster fundamental ab.

Die Verhandlungen im Trilog werden kompliziert. Parlament und Kommission haben Vorschläge zur Exportkontrolle gemacht, die Mitgliedstaaten teilweise prinzipiell ablehnen.

Catch-All-Klausel für unbekannte neue Produkte

Kommission und Parlament machen sich beispielsweise für eine sogenannte Catch-All-Klausel stark, nach der neben Staaten auch Unternehmen Risiken für Menschenrechte abschätzen müssen. Bisher werden nur Güter kontrolliert, die in Regulierungslisten explizit genannt werden. Deren Export müssen Firmen von nationalen Prüfbehörden absegnen lassen.

Solche Listen sind aber immer nur reaktiv, zum Beispiel, wenn Firmen Überwachungsprodukte herstellen, die noch niemand kennt. Bisher müssen sie für solche neuen Produkte nicht nach einer Exportlizenz fragen. Dann bekommen die Staaten von der Existenz der Produkte auch nichts mit, sodass sie auch nicht in die Güterlisten aufgenommen werden.

Dieses Schlupfloch wollen Kommission und Parlament schließen. Unternehmen sollen künftig selbst prüfen, ob mit ihren Produkten Menschenrechte verletzt werden können – und dann nach einer Lizenz fragen. Das wäre nur die konsequente Umsetzung der völkerrechtlichen Verpflichtung, nämlich den UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte.

Für die Industrie sind solche Prüfpflichten aber mehrheitlich ein rotes Tuch: Unternehmen drohen, dass sie aufgrund von „Rechtsunsicherheiten“ prophylaktisch Genehmigungen für quasi alle Produkte einholen und damit die nationalen Prüfbehörden lahmlegen werden. Bei den Mitgliedstaaten verfängt dieses Argument. Bei der UNO hat Deutschland zugesagt, die Leitprinzipien in nationales Recht umzusetzen, hier lobbyiert die Industrie die Umsetzung weg.

Deutsche Unternehmen liefern Überwachungstechnik

Ähnlich unvereinbar stehen sich Parlament und Mitgliedstaaten beim Thema Transparenz gegenüber. Die Abgeordneten fordern, den schattigen Markt der Überwachungsindustrie zu durchleuchten. Die Schweiz zum Beispiel veröffentlicht jedes Quartal, welche Exporte genehmigt werden – aufgeschlüsselt nach Produkt, Land und Preis. Diese Transparenz ermöglicht öffentliche Kontrolle und Debatte, aber die EU-Staaten haben jegliche neue Transparenz abgelehnt.

Wie wichtig europaweite Statistiken wären, zeigte sich im Juni, als die Bundesregierung nach jahrelanger Blockade erstmals Zahlen herausgerückt hat. Ergebnis: Die Bundesregierung hat in den vergangenen Jahren den Export von Überwachungstechnik im Wert von mehr als 26 Millionen Euro genehmigt. Zu den Zielländern gehörten Staaten wie Saudi-Arabien, Ägypten und Katar, in denen es regelmäßig zu Menschenrechtsverstößen kommt.

Verhandlungen starten im September

Einer internen E-Mail der finnischen Ratspräsidentschaft zufolge soll es nun am 10. oder 11. September zu einem informellen Treffen zwischen den Mitgliedstaaten, Parlament und Kommission kommen. Am 19. September könnten dann offizielle Trilog-Verhandlungen starten.

Wann es zu einer Einigung kommen könnte, ist ungewiss. Optimisten rechnen mit einem Deal bis zur Sommerpause 2020. Andere fürchten jahrelange Verhandlungen, an deren Ende ein weichgespülter Schein-Kompromiss stehen könnte.

Mit jedem Tag, an dem sich die EU-Institutionen nicht einigen, bleibt die bisher äußerst löchrige Exportkontrolle in Kraft – und Überwachungsprodukte werden weiter in die ganze Welt verkauft.

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