Liebe Leser:innen,
ob in Buxtehude, Bochum oder Berlin: Überall gehen gerade Menschen gegen Rechts und für eine freiheitliche Gesellschaft auf die Straße. Mal sind es ein paar Hundert, mal Zehntausende. „Wer jetzt nicht aufsteht, der hat nichts verstanden“, sagt Freiburgs Fußballtrainer Christian Streich in einer großartigen und bewegenden Rede zwischen Produktplatzierungen von Milch und Cola. Die Enthüllungen von Correctiv über die Massenvertreibungspläne von Menschen aus Deutschland, die den Rechtsradikalen nicht deutsch genug sind, haben die Gesellschaft kräftig durch- und aufgerüttelt.
Bei mir haben sie vor allem eines ausgelöst: ein Wenn-nicht-jetzt-wann-dann-Gefühl.
Anfang des neuen Jahres war ich etwas müde vom beständigen Kampf gegen Windmühlen. Viele von euch kennen das bestimmt, egal ob ihr euch für Verwaltungsdigitalisierung, Klimaschutz oder gerechte Mieten einsetzt. Weil diese Kämpfe meist sehr zäh und Fortschritte selten sind, fragt man sich dann irgendwann: Was bringt das eigentlich?
Seit Jahren schreibe ich über digitalisierte Migrationskontrolle und was daran problematisch ist. Doch der Bundesregierung fällt nichts anderes ein als Hardliner-mäßig immer weiter die Regeln zu verschärfen. Schon vor Jahren bin ich auf Demos gegen Nazis gegangen und habe mich ihnen in den Weg gestellt, aber was hat sich geändert? Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen und das entmutigt manchmal.
Aber nach der Recherche von Correctiv, als ich die ersten Bilder von den vollen Plätzen deutscher Städte gesehen habe, die von Handylichtern der Demonstrierenden erleuchtet werden, habe ich mich von der inneren, lähmenden Liste verabschiedet.
„Es ist fünf vor zwölf“, sagt Freiburg-Trainer Streich auch. Stimmt – und die oft bemühten, metaphorischen fünf Minuten Kampf schaffen wir noch, sonst ist es sowieso zu spät. Aus meiner Müdigkeit wurde Entsetzen, aus meinem Entsetzen wurde Empörung. Und Empörung ist ein Antrieb, der Wellen schlagen kann und der besser wach macht als ein doppelter Espresso. Also: Wenn nicht jetzt, wann dann? Und wer, wenn nicht wir alle?
Wir müssen jetzt gemeinsam dafür sorgen, dass wir „um zwölf“ in einer freiheitlichen Gesellschaft leben. Auf den Straßen, an den Tastaturen, im eigenen Wohnzimmer. Wir müssen dafür sorgen, dass der Faschismus aus den Parlamenten und den Köpfen verschwindet und nie wieder hineinkommt.
„Kein Fußbreit dem Faschismus“ heißt auch, jetzt denen auf die Füße zu treten, die in den vergangenen Jahren mit stetigen, kleinen Schritten dem rechten Rand entgegengetrippelt sind. Weil sie dachten, man könne den Rechten Zustimmung entziehen, indem man sich ihnen annähert. Das hat nicht funktioniert und es wird nicht funktionieren. Das ist heute klarer als es je zuvor war.
Wir können uns keine Politik leisten, die Protestierende beklatscht und im nächsten Moment mehr Abschiebungen als verbesserte Rückführung durch den Bundestag winkt. Wir können es uns nicht leisten, jetzt Gesetze zu akzeptieren, die irgendwann den Feinden der Menschlichkeit als Starthilfe für ihre Deportationsfantasien in die Hände fallen könnten. Wir brauchen – und ich bemühe ein letztes Mal Christian Streich – eine klare Kante. Mutig, entschlossen, gemeinsam und ohne feige Kompromisse.
Ein ermutigendes Wochenende wünscht euch
anna
PS und apropos gemeinsam: Am 13. September 2024 machen wir eine große Konferenz mit anschließender Party. Haltet euch den Kalender frei!
> Wir können es uns nicht leisten, jetzt Gesetze zu akzeptieren, die irgendwann den Feinden der Menschlichkeit als Starthilfe für ihre Deportationsfantasien in die Hände fallen könnten.
Absolut richtig, denn wir können es uns nicht im Geringsten leisten, Gesetze zu schaffen, welche den Feinden der Domokratie in irgendeiner Weise nützlich sein können, unsere freiheitliche Demokratie zu beschneiden oder zu kippen.
Zur „Starthilfe für Deportationsfantasien“
Diese kruden Fantasien, wurden zum Zweck der Geldbeschaffung vorgetragen. Die Teilnehmer haben dafür einiges hinblättern müssen, um in den Genuss einer Wohlfühl-Veranstaltung unter Gleichgesinnten teilnehmen zu dürfen. Ein resilienter Staat muss in der Lage sein, die Gelder dieser kriminellen Vereinigung einzuziehen.
Die Regierung scheint die Proteste gegen die AfD vor allem als Rechtfertigung für ein „weiter so“ und Machterhalt zu nehmen. Eine Inhaltliche Interpretation scheint nicht stattzufinden. Schade.
> Die Regierung scheint …
Sie scheinen noch das alte monolithische Bild von Regierung im Kopf zu haben. Die Realität besteht aus einer Dreier-Koalition. Der Kanzler hat zwar formell die Richtlinienkompetenz, kann sie jedoch nur sparsamst einsetzen, weil ihm sonst die Koalitionäre abhanden kommen. Informell regiert der Koalitionsrat mit großer Mühe gegen innere gegenseitige Blockaden.
Ich bin fest davon überzeugt, dass niemand sich in Kanzleramt und Ministerien sich noch einem „weiter so“ hingibt, wie Sie es insinuieren. Die Lage ist dynamisch und das ist schon weitgehendst erkannt. Meiner Auffassung sind es eher Teile der Bevölkerung, die ein „weiter so“ einer dringend notwendigen Verhaltensanpassung aus verschiedensten Gründen vorziehen.