bitsAngriff auf sichere Kommunikation: EU-Staaten wünschen sich Hintertüren

Der EU-Ministerrat setzt sich unter deutscher Ratspräsidentschaft für unsichere Kommunikation durch Hintertüren in Messengerdiensten ein. Das ist noch kein Gesetzesprozess, aber die Entwicklung ist gefährlich. Der Begriff „Digitale Souveränität“ ist weit verbreitet, aber vielleicht falsch. Und Netflix geht gegen inhaltliche Kritik an Filmen mit Urheberrechtsabmahnungen vor. Unser Tagesrückblick.

Die Montag-Ausgabe von bits, unserem wochentäglichen Newsletter.
Die Montag-Ausgabe von bits, unserem wochentäglichen Newsletter. CC-BY 4.0 netzpolitik.org

Hallo,

gestern wurde eine Resolution des EU-Ministerrats mit dem Titel „Security through encryption and security despite encryption“ von Erich Moechel auf FM4 geleakt, die sich für Hintertüren in verschlüsselten Messengerdiensten ausspricht. Das ist erstmal ein Entwurf einer nicht-bindenden Resolution, aber sie wird genutzt, um Druck auf die EU-Kommission auszuüben, eine gesetzliche Grundlage im Rahmen einer EU-Verordnung dafür zu schaffen.

Sicherheitsbehörden forcieren die Idee bereits seit vielen Jahren kampagnenartig. Das Problem ist nur, dass aus technischer Sicht eine Hintertür immer bedeutet, dass die Kommunikation von allen gefährdet ist. Wenn eine Hintertür existiert, kann sie auch missbraucht werden.

Constanze Kurz ordnet die Resolution und die Pläne für uns ein: Von jahrelangen Debatten über Hintertüren unbeeindruckt.

Es entbehrt nicht einer absurden Logik, dass das Innenministerium für heute zu einer europäischen Cybersicherheitskonferenz lädt, um „Maßnahmen für ein sicheres vernetztes Europa“ zu diskutieren und parallel bekannt wird, dass die deutsche Ratspräsidentschaft wieder Hintertüren für Verschlüsselung ins Spiel bringt, was umgesetzt halt das Gegenteil von Sicherheit bedeutet.

Bei Futurezone.at kommentiert Barbara Wimmer den Aufhänger der Resolution, das Attentat in Wien: Nach Terroranschlag in Wien – Muss jetzt WhatsApp überwacht werden? Die Beweislage ist in Österreich recht klar, der dortige Verfassungsschutz hatte im Vorfeld diverse Hinweise auf den Attentäter ignoriert. Das Muster ist bekannt.

Kurze Pausenmusik:

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Die Erstellung dieser Ausgabe wurde freundlicherweise von Tomas Rudl und Mascha Fouquet unterstützt.

Neues auf netzpolitik.org

Unsere Einnahmen und Ausgaben und ein Umzug: Stefanie Talaska offenbart Zahlen und Fakten vom August. In Pandemiezeiten umzuziehen ist bedauerlich. Denn die meisten sind im Homeoffice, die Dekorationen bleiben vorerst in den Umzugskartons liegen. Doch wir blicken trotz alledem euphorisch in die Zeit vor und zurück.

Auf einmal wacht man auf und das Jahr ist fast vorbei. Wir sind umgezogen. Die Mittagssonne zieht für uns nicht mehr am Fernsehturm vorbei, dafür sehen wir nun die schönsten Sonnenuntergänge – wenn auch meistens allein. In unser Netzpolitik-Community sind wir aber nicht allein. Auch im August nicht.

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Über die Angriffe der Musikindustrie auf die freie Software Youtube-DL hatte ich in einer früheren Ausgabe bereits berichtet. Mittlerweile wissen wir, dass auch in Deutschland die Musikindustrie-Lobby gegen Hosting-Provider mit Urheberrechtsabmahnungen vorgeht, die lediglich einen Link auf die Software gesetzt haben. Tomas Rudl hat die Details: Musikindustrie schießt mit der Schrotflinte auf Open Source.

Die Musikindustrie geht mit harten Bandagen gegen das Open-Source-Tool youtube-dl und sein Umfeld vor. Betroffen sind Entwickler:innen, Webhoster und Codesharing-Plattformen. Selbst Software-Hersteller, die youtube-dl gar nicht einsetzen, beobachten den Fall genau.

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In Belgien wächst der Aufstand gegen Chinas Handelsgiganten. Von China bis nach Europa: Alibaba plant eine Logistik-Schaltzentrale in Lüttich. Watching Alibaba hat es sich zum Ziel gesetzt, die Vorhaben des milliardenschweren Unternehmens zu durchkreuzen. Alexander Fanta war vor Ort und berichtet.

Der Amazon-Rivale Alibaba baut im ostbelgischen Lüttich an einer Logistikzentrale für ganz Europa. Doch Klimaaktivist:innen wollen dem Konzern einen Strich durch die Rechnung machen.

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Digitale Memoiren fügen Puzzleteile für Mutter Katrin zusammen: „Der Computer meiner Tochter ist eine Schatzkiste an Erinnerungen“. Katrins Tochter nahm sich im Alter von 13 Jahren das Leben. Was bleibt sind ihr Handy und Computer. Im Gespräch mit Marie Bröckling erzählt sie über intime Gedanken und Erfahrungen im Umgang mit privaten Fotos und Nachrichten ihres verstorbenen Kindes.

Die Mutter eines verstorbenen Kindes erzählt, wie sie die privaten Nachrichten ihrer Tochter nach deren Tod las. Eine ganz persönliche Perspektive auf das Thema digitaler Nachlass.

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Marie Bröckling setzt sich ein weiteres mal mit digitalen Memoiren von Verstorbenen auseinander. Der Soziologe Lorenz Widmaier startete zu diesem Thema ein Forschungsprojekt. In einem Interview erläutert er zentrale Resultate seiner Untersuchungen: „Der Whatsapp-Verlauf ist für viele das Wichtigste“.

Erinnerungspraktiken ändern sich durch die Digitalisierung. Immer weniger Menschen schalten noch eine Traueranzeige in der Zeitung. Stattdessen schreiben manche Angehörige den Verstorbenen nach ihrem Tod weiter auf WhatsApp, sagt der Soziologe Lorenz Widmaier. Ein Interview über das Trauern.

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Die Fakten sind verheerend: Europäische Unternehmen exportieren weiterhin Überwachungstechnologie an Staaten, die Menschenrechte verletzen. Die Dual-Use-Verodnung sollte dem eigentlich einen Riegel vorschieben, gelingen will ihr das aber nicht. Die EU will den Verkauf von Spähsoftware kaum besser kontrollieren, kritisiert Lena Rohrbach von Amnesty International in einem Gastbeitrag den verwässerten Gesetzentwurf.

Die Reform der Dual-Use-Verordnung ist als Tiger gestartet und droht als Bettvorleger zu enden. Der Export von Überwachungstechnologie an autoritäre Regime könnte weitgehend unkontrolliert bleiben, warnt Lena Rohrbach von Amnesty International. Die Konsequenzen würden Oppositionelle und Journalist:innen auf der ganzen Welt tragen.

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Es bleibt spannend bei Off The Record. Dieses mal sprechen Ingo Dachwitz, Marie Bröckling und Jana Ballweber über Pornos, Pöbeleien und progressiven Jugendmedienschutz. Die aktuelle Ausgabe der Podcast-Reihe setzt sich auseinander mit zwei hitzigen Themen: Alterssperren für Porno-Websites und üble Reaktionen auf einen medienkritischen Artikel der Ex-Praktikantin.

Muss man in den Medien wirklich alle zu Wort kommen lassen? Und muss man wirklich mit allen Mitteln verhindern, dass Minderjährige pornographische Inhalte zu sehen bekommen? Darüber spricht Ingo Dachwitz in der neuen Folge unseres Hintergrundpodcasts mit Marie Bröckling und Jana Ballweber.

Was sonst noch passierte:

Das Wochenende hab ich weitgehend damit verbracht, mir CNN im Livestream anzuschauen. Der Sender hat es geschafft, die langsame Auszählung in einigen Swing States zu einem globalen TV-Ereignis zu machen, was man früher auch „gemeinsames Lagerfeuer“ nannte. Und mir hat wahrscheinlich nur noch ein weiterer Tag gefehlt, um endlich alle Wahlbezirke in Philadelphia auswendig aufzählen zu können. Etwas enttäuschend war dann nur, dass ausgerechnet die Verkündung der Wahlentscheidung genau in einem Moment passierte, in dem ich draußen spazieren ging.

Einer der Höhepunkte der CNN-Berichterstattung war dann auch der emotionale Ausbruch des Kommentators Van Jones vor laufender Kamera, der das Unbehagen nach vier Jahren Trump als Präsident mit seinen unzähligen Lügen und Betrügereien auf den Punkt brachte: „Es ist jetzt einfacher, ein Elternteil zu sein. Es ist einfacher, ein Vater zu sein. Es ist einfacher, seinen Kindern zu sagen, dass der Charakter zählt. Es ist wichtig. Sagen Sie ihnen, dass die Wahrheit wichtig ist.“

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Auf deutschen Intensivstationen liegen aktuell schon mehr Patienten wegen Covid-19 als im April, zum Höhepunkt der ersten Welle. Und leider dürfte das noch nicht der Höhepunkt sein, selbst wenn ab heute niemand mehr jemand anderes anstecken würde.

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Weitere Verbesserungsvorschläge für die Weiterentwicklung der Corona-Warn-App kommentiert Linus Neumann bei Heise-Online: Alle reden von Clustern – nur die Corona-App nicht.

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Die deutsche Biotech-Firma Biontech verkündete heute, dass sie eine Zulassung für ihren Corona-Impfstoff beantragen will, der in einer klinischen Studie 90% Zuverlässigkeit bewiesen haben soll. Daraufhin stieg der Dax und die Aktien des Unternehmens, bei vielen Menschen kam Hoffnung auf. Dafür könnte es aber noch zu früh sein, wie Lars Fischer bei Spektrum.de einordnet: Impfstoff schützt angeblich zu 90 Prozent.

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Netflix geht in den USA mit Copyright-Abmahnungen gegen Menschen vor, die einen französischen Film namens „Cuties (Mignonnes)“ in sozialen Medien kritisieren. Aus der Beobachterperspektive kann man Netflix dabei nur gratulieren, das ist genau die passende Strategie, um Menschen davon abzuhalten, den Film weiter zu kritisieren: Netflix files copyright claims against tweets criticizing movie, trailer.

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Spiegel-Online bietet seit einiger Zeit die Möglichkeit an, gegen eine monatliche Abogebühr Werbung und Tracking beim Lesen von Inhalten wegzukaufen. Beim Verlag ist man von dem Ansatz überzeugt, wie ein Blogpost mit aktuellen Zahlen zusammenfasst: Wie unser PUR-Angebot für werbefreies Lesen ankommt.

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In der FAZ argumentieren Peter Ganten und Rafael Laguna de la Vera, dass die Zukunft der Europäischen Union in „Mehr Open Source wagen!“ liegen sollte. Die Einschätzung teile ich.

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In dem vorherigen Artikel wurde der Begriff „Digitale Souveränität“ zur Argumentation genutzt. In der Zeitschrift „Internationale Politik“ argumentiert der Politikwissenschaftler Thorsten Thiel, warum der Begriff aber falsch und unnötig sei: Gewollte Kontrolle?

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Bewertungen bei Amazon gelten für viele Kunden als mögliche Kaufentscheidung, aber das System ist kaputt und viele Rezensionen sind manipuliert und gekauft. Wie das System auch bespielt werden kann, erklärt Heise-Online auf Basis eines Datenlecks: Ein Datenleck zeigt, wie Amazon-Bewertungen gekauft werden. Kurz zusammengefasst bekommen Menschen über Telegram-Gruppen die Möglichkeit, gekaufte Artikel nach einer positiven Rezension erstattet zu bekommen.

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Ebenfalls kaputt im Sinne von manipulierter Realität, automatischer Vertragsverlängerungen und weiterer fragwürdige Geschäftspraktiken sind viele Online-Partnerbörsen. Der Verbraucherzentrale Bundesverband bittet um Hinweise für die Vorbereitung von Musterfeststellungsklagen: Ärger mit Online-Partnerbörsen? Der Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv) sucht Ihren Fall.

Video des Tages: Tubular Bells

Auf Youtube gibt es eine BBC-Dokumentation über „Tubular Bells – The Mike Oldfield Story“, das in den 70er Jahren ein wegweisendes Album für die Entwicklung von elektronischer Musik war.

Netzpolitik-Jobs

Ich bekomme regelmäßig Job-Angebote im netzpolitischen Bereich zugeschickt und dachte mir, dass eine zusätzliche Rubrik ein guter Service sein könnte. Zweimal die Woche werde ich zukünftig auf aktuelle Job-Angebote hinweisen.

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HateAid sucht eine/n Referent*in der Geschäftsführung (m/w/d) in Berlin. (Bis 11.11.20)

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Die Landesmedienanstalt Berlin-Brandenburg sucht eine/n Referent (m/w/d) Medienregulierung. Das ist eine spannende Stelle, weil diese zukünftig dafür zuständig ist, den kommenden Medienstaatsvertrag umzusetzen, wozu auch Plattformregulierung gehört.

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Das Wissenschaftszentrum Berlin sucht für den Schwerpunktbereich „Digitalisierung und gesellschaftlicher Wandel“ eine/n Wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in (m/w/d) (Postdoc).

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Die von Max Schrems gegründete Organisation Noyb sucht in Wien eine/n Full Stack Web Developer/in mit einem Fokus auf Legal-Tech.

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Die Bundestagsabgeordnete Anke Domscheit-Berg (Fraktion Die Linke) sucht eine:n wissenschaftliche:n Mitarbeiter:in für den Bereich Netzpolitik.

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Das war es für heute. Viele Grüße und bleibt gesund,
Markus Beckedahl

Ich freue mich immer über Feedback und gute Hinweise. Meine Mailadresse ist markus@netzpolitik.org. Ich bin zwar häufig von zu vielen eMails überfordert und bekomme nicht alle beantwortet. Aber ich lese alle Mails.

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1 Ergänzungen

  1. Stelle mir gerade vor, wenn dies bei VPN-Verbindungen auch angewendet wird, das ist ja wie eine Wohnung ohne Tür, jeder schaut bei dem Anderen rein, hmm. Das bringt doch auch die Freifunkprojekte in Gefahr?

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.