Liebe Leser:innen,
im vergangenen Jahr gab es auf der Welt so viele Internet-Shutdowns wie noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen. Immer mehr Regierungen in immer mehr Ländern setzen Sperrungen des Internets oder einzelner Dienste als Werkzeug in Konflikten ein, vor allem in Asien, Afrika und dem Mittleren Osten.
Seit 2016 dokumentieren und bekämpfen Access Now und die KeepItOn-Koalition die Shutdowns. Wir berichten regelmäßig über den Report. In diesem Jahr wäre er uns aber fast durchgerutscht, weil er kurz nach der Bundestagswahl herauskam. Ich finde, das ist sehr bezeichnend für die momentane Lage. Wir werden in so atemlosem Tempo von Breaking-News-Wellen überrollt, dass der Globale Süden aus dem Blick gerät.
Trump, die Ukraine und Gaza. Der autoritäre Kurs der Tech-Milliardäre, um den es diese Woche im Interview mit Tech-Kritiker Paris Marx ging. Elon Musks Kahlschlag in der US-Regierung, der Vorbild auch für Europa werden soll, wenn es nach dem Chef der Deutschen Telekom geht. Eine Koalition von CDU/CSU und SPD, deren kleinster gemeinsamer Nenner Politik auf Kosten der Schwächsten zu sein scheint. Und natürlich: Aufrüstung „ohne Limit“ und „whatever it takes“.
Dabei lohnt sich der Blick über den europäischen und US-amerikanischen Tellerrand. Wenn Elon Musk beispielsweise der Ukraine damit droht, das überlebensnotwendige Satelliteninternet abzuschalten, dann zeigt uns das, wie gefährlich die Abhängigkeit von der Infrastruktur der Tech-Herrscher ist. Eine Abhängigkeit allerdings, die in vielen Ländern des Globalen Südens noch deutlich größer ist, weil Tech-Konzerne immer mehr physische Infrastruktur übernehmen. Musk vermarktet Starlink als wohltätige Mission für die Konnektivität der Abgehängten – bis er sie irgendwann als Machtmittel ausnutzt.
In Italien entfaltet sich gerade ein Überwachungsskandal, bei dem Journalist:innen und Zivilgesellschaft ins Visier genommen wurden. Auch hier wiederholt sich ein Muster, das sich in anderen Weltregionen schon lange zeigt. In autoritären Staaten nutzen Diktatoren moderneste Technik, um Oppositionelle und andere unliebsame Gruppen zu überwachen, beliefert werden sie häufig von Herstellern aus westlichen Staaten und aus China.
Wenn europäische Staaten und die EU unterdessen ihren Kampf gegen verschlüsselte Kommunikation intensivieren, dann hat das auch Folgen für die Sicherheit von Oppositionellen in eben diesen autoritären Staaten. Man kann Verschlüsselung nicht nur für die vermeintlich Guten brechen. Mit ihrer kurzsichtigen Politik gefährdet die EU nicht nur die Privatsphäre der Menschen in Europa, sondern auch die Sicherheit von Oppositionellen in Diktaturen.
Und als Mark Zuckerberg kürzlich verkündete, in den USA professionelles Fact-Checking abzuschaffen und Inhaltemoderation zurückzufahren, war die Empörung groß. Zurecht – gefährdet Meta damit doch wissentlich Demokratie und Menschenleben. Dass Menschen im Globalen Süden diese Erfahrung auf Meta-Plattformen schon lange machen, ging dabei jedoch unter. Afrika, Lateinamerika und die Karibik firmieren bei dem Konzern nur als „Rest of World“. Wie unter anderem die Facebook Papers von Whistleblowerin Frances Haugen belegten, sparte sich Meta das Geld für ausreichende Sicherheitsmaßnahmen dort in vielen Ländern lieber.
Man merkt es wahrscheinlich, ich könnte diese Liste lange fortsetzen. Zusammen mit dem Globalisierungskritiker Sven Hilbig habe ich gerade ein Buch über digitalen Kolonialismus veröffentlicht. Es geht zum Beispiel um die Ausbeutung von Arbeiter:innen hinter KI und Sozialen Medien. Um den ökologischen Fußabdruck und den Rohstoffhunger der Digitalisierung. Um Infrastruktur und Geopolitik. In der neuesten Folge unseres netzpolitik-Podcast Off/On berichte ich über diese globalen Macht- und Ausbeutungsverhältnisse hinter der Digitalisierung.
Ich frage mich momentan immer wieder, ob gerade eigentlich ein guter Zeitpunkt für so ein Buch ist. Einerseits gibt es ein großes Bewusstsein für die problematische Macht der Tech-Milliardäre. Anderseits passiert so viel, dass die Auswirkungen auf den „Rest der Welt“ dabei oft untergehen. Wir hier bei netzpolitik.org wollen es jedenfalls weiter anders machen. Zum Beispiel mit einer Reihe von Interviews in den kommenden Wochen, die die globale Ungerechtigkeit in der Digitalisierung in den Blick nehmen.
Bleibt solidarisch
Euer Ingo
0 Ergänzungen