KW 12Die Woche, in der wir spontan Recherchegruppen gründeten

Die 12. Kalenderwoche geht zu Ende. Wir haben 19 neue Texte mit insgesamt 170.470 Zeichen veröffentlicht. Willkommen zum netzpolitischen Wochenrückblick.

Fraktal, generiert mit MandelBrowser von Tomasz Śmigielski

Liebe Leser:innen,

es gibt Ereignisse auf dieser Welt, die sind so verblüffend, dass ganz viele Menschen genau hinschauen wollen. Ein solches Ereignis ist der Einsatz einer immer noch unbekannten Waffe gegen die friedliche Großdemonstration in Belgrad am vergangenen Samstag. Sie löste eine kurze Panik aus und teilte die Menschenmenge auf einer Länge von mehreren hundert Metern exakt in ihrer Mitte.

Bereits in den Tagen zuvor habe ich die Proteste der serbischen Studierendenbewegung gegen den immer autoritäreren Präsidenten Vučić verfolgt. Am Samstagabend sah ich dann das erste Video des Vorfalls und dachte mir trotz dreißig Jahren Demo-Erfahrung, trotz Genua, Gezi und G20: „WTF? Wie geht denn sowas?“

Spontan tat ich mich auf Bluesky mit einem anonymen Account zusammen. Wir sammelten Videos des Vorfalls und verbreiteten diese, ohne uns abzusprechen. Seit Sonntag schicken wir uns gegenseitig Hinweise, Indizien, Videos, Fotos und Links zu dem Ereignis von Belgrad. Erst drei Tage später wusste ich den Namen des Menschen hinter dem Account.

Parallel dazu gründete ich eine Signal-Gruppe mit Menschen, die sich professionell mit Tontechnik beschäftigen. Sie analysierten die Videoaufnahmen auf verdächtige Geräusche und gaben die Videos an andere Audio-Nerds weiter, die ebenfalls zu recherchieren begannen und ihre Erkenntnisse mit uns teilten.

Über einen befreundeten Journalisten suchte ich nach Augenzeugen in Serbien. Ich kam in Kontakt mit mehreren Menschen aus Belgrad, die am Samstag protestiert hatten. Gemeinsam fingen auch wir an zu recherchieren und Fakten zusammenzutragen. Daneben war ich mit zwei Hackern aus Deutschland zum Thema in Kontakt. Plötzlich waren das ganz schön viele Chats parallel.

Als das zu mühsam wurde, eröffneten wir eine gemeinsame „Ad-Hoc-Recherchegruppe“. Dort gehen wir jetzt seit Tagen zusammen allen denkbaren Theorien nach. Jemand fragt bei einem Hagelkanonen-Hersteller, wie Vortex-Kanonen funktionieren und ob diese als Waffe eingesetzt werden können. Andere lesen Zeitstempel aus Videos aus und suchen nach deren Quellen, um die zeitliche Abfolge der Ereignisse zu rekonstruieren.

Zusammen erstellen wir eine kollaborative Karte, in die fortlaufend Hinweise einfließen. Wir haben Videomaterial von NGOs aus Belgrad erhalten, stundenlang Drohnenvideos nach verdächtigen Gegenständen auf den Dächern der Stadt gesichtet. Wir scannen soziale Medien, lesen Medienberichte und unzählige Postings auf Reddit, wo viele Menschen spannende Theorien, Links und Recherchen teilen. Nebenbei lachen wir über serbische Memes und den Spott, der sich über den Präsidenten Aleksandar Vučić und seine Handlanger auf der Straße ergießt.

Die gemeinsame Jagd nach Fakten geht weiter und macht extrem viel Spaß. Wir alle wollen wissen, was wirklich am vergangenen Samstag geschah. Und bei alledem kommt die beste Seite des Internets zum Vorschein. Ein Internet, in dem sich unbekannte Menschen zusammenschließen und einfach so zusammenarbeiten. Mir macht sowas Hoffnung.

Hoffnung macht mir auch, wie kreativ und entschlossen die Menschen in Serbien gegen die mafiöse Regierung auf die Straße gehen. Die Stärke und Agilität der serbischen Zivilgesellschaft zeigt sich auch bei der Aufklärung des Angriffs auf die Großdemo. Ich bin mir sicher, dass wir schon bald erfahren werden, was in Belgrad wirklich passiert ist.

Am Ende ist es nicht wichtig, wer die Wahrheit herausfindet. Es wird das Werk sehr vieler Menschen sein.

Ich wünsche Euch allen ein schönes Wochenende.

Markus Reuter

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