Ende 2024 haben sich die Bundestagsfraktionen entfesselt. Sie kippten die Beschränkungen, denen ihre PR-Abteilungen unterlagen, mit einem neuen Abgeordnetengesetz. Jetzt dürfen sie Parteiwerbung mit Steuergeld produzieren und verbreiten. 140 Millionen Euro standen den Fraktionen 2024 für ihre Arbeit zur Verfügung. Sie genehmigen sich jedes Jahr mehr.
Die neue PR-Freiheit hat eine Ausnahme: Die sechs Wochen vor der Bundestagswahl.
In dieser Zeit braucht die steuergeldfinanzierte Öffentlichkeitsarbeit einen besonderen parlamentarischen Anlass, der klar benannt wird. Das soll verhindern, dass fraktionslose Abgeordnete und Parteien, die nicht im Bundestag vertreten sind, völlig untergehen im Wettstreit der Ideen. Die Regel schützt den politischen Wettbewerb.
Wahlkampf mit Steuergeld
„Die Regelung gibt es, damit staatliche Mittel nicht für Parteiwerbung genutzt werden können“, sagt Julian Krüper, Professor für Öffentliches Recht, Verfassungstheorie und interdisziplinäre Rechtsforschung an der Ruhr-Universität Bochum. Antje von Ungern-Sternberg, Professorin am Institut für Recht und Digitalisierung Trier, sieht eine Art Zurückhaltungsgebot, „Weil die Fraktionen Geld vom Staat bekommen, das nicht die Parteikassen im Wahlkampf ergänzen soll.“
Wir haben uns Postings auf fünf verschiedenen Plattformen angesehen. 682 Posts veröffentlichten die Fraktionen und Gruppen im Bundestag auf TikTok, Instagram, X, YouTube und Facebook vom Beginn der Sperrfrist an – also seit dem 12. Januar bis zum 10. Februar. Die Durchsicht von netzpolitik.org ergab, dass bei etwa 29 Prozent dieser Posts entweder kein aktueller parlamentarischer Anlass erkennbar war oder ein solcher nicht klar benannt wurde. 201 der Posts verstoßen nach unserer Einschätzung gegen das Abgeordnetengesetz. Einige dieser Posts haben wir zudem Expert:innen aus der Wissenschaft zur Bewertung vorgelegt.
Die Fraktionen und Gruppen im Bundestag scheinen sich allerdings keiner Schuld bewusst. CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke, FDP und AfD halten alle Beiträge, die sie abgesetzt haben, für gesetzeskonform. SPD und BSW haben nicht auf die netzpolitik.org-Anfrage geantwortet.
Ein besonderer parlamentarischer Anlass
Die neue PR-Regel haben die Ex-Ampel-Partner gemeinsam mit der Union eingebracht. Sie gilt für alle Fraktionen und auch für die beiden Gruppen im Bundestag, die Linke und das BSW.
Wir wollten wissen, wie ernst die Betroffenen die Regel nehmen. Dazu brauchte es zunächst eine Definition. Was ist denn eigentlich ein „besonderer parlamentarischer Anlass“, anhand dessen die Fraktionen auch vor Wahlen öffentlich kommunizieren dürfen?
In der Gesetzesbegründung hat die ganz große Koalition aus CDU, SPD, Grünen und FDP erklärt, was sie damit meint. „Politische Positionen dürften nur noch in Bezug auf einzelne, konkret benannte parlamentarische Vorgänge öffentlich verbreitet werden. Ein besonderer parlamentarischer Anlass kann ein Redebeitrag in einer Parlamentssitzung, die Ausübung des parlamentarischen Fragerechts oder die Teilnahme an einer Reise als Teil einer Delegation des Bundestages sein.“
Die Lieblingssnacks der FDP-Abgeordneten
Wenn aber die FDP am 1. Februar ihre Parlamentarier auf Tiktok nach ihren Lieblingssnacks fragt, dann ist das klar nicht vom Abgeordnetengesetz gedeckt.
Und wenn der AfD-Politiker Tino Chrupalla auf eigene Faust zu Trumps Amtseinführung in die USA reist und seine Fraktion am 16.1. auf X darüber berichtet, dann verstößt das ebenfalls gegen das Gesetz. „Das ist kein besonderer parlamentarischer Anlass“, sagt Antje von Ungern-Sternberg, Professorin am Institut für Recht und Digitalisierung Trier. Auch Julian Krüper, Professor für Öffentliches Recht, Verfassungstheorie und interdisziplinäre Rechtsforschung an der Ruhr-Universität Bochum, kritisiert den Post. „Das geht nicht“, sagt er. „Etwas ist nicht schon deshalb parlamentarisch veranlasst, nur weil es ein Parlamentarier tut.“
Die Bundestagsverwaltung konkretisiert die Anforderungen an die Öffentlichkeitsarbeit der Fraktionen auf netzpolitik.org-Anfrage noch weiter: „Der ‚besondere parlamentarische Anlass‘ muss also Ausgangspunkt und Gegenstand der Unterrichtung sein und er muss erkennbar sein (‚konkret benannt‘).“
Der Anlass muss „konkret benannt“ werden
Das heißt, wenn die CDU am 14.1. auf X postet, dass ein MdB im ZDF Morgenmagazin drei Milliarden Euro für ukrainische Luftabwehrsysteme forderte, ist das vermutlich nicht legal. Denn es ist keinerlei parlamentarischer Anlass benannt.
Julian Krüper sagt: „Ein Auftritt im Morgenmagazin ohne entsprechende Debatte im Bundestag reicht nicht als Anlass.“ Antje von Ungern-Sternberg bestätigt: „Der Anlass geht nicht so richtig aus dem Text hervor. Zwar muss der Anlass in ganz eindeutigen Fällen nicht ausdrücklich genannt werden, im Regelfall ist dies aber notwendig.“
Wenn hingegen die FDP am 12.1. auf TikTok schreibt „Im #Bundestag haben wir eine Rekordzahl an Beschaffungsprojekten für die #Bundeswehr im Gesamtwert von 21 Milliarden Euro genehmigt. Unser haushaltspolitischer Sprecher Otto Fricke erklärt, wie es zu dieser Einigung kam“ und dieser Sprecher dann im Video auf den Raum zeigt, in dem der federführende Verteidigungsausschuss tagt, hat sich die Fraktion damit auf parlamentarisches Geschehen bezogen.
„Aber es fehlt der aktuelle Anlass“, sagt von Ungern-Sternberg. Ohne diesen sei es eine reine Bilanz politischer Tätigkeit in der Vergangenheit, also „ein Element von Wahlkampf“.
Was Olaf Scholz Silvester gekocht hat
Denn für die Posts der Fraktionen und Gruppen gilt noch ein weiteres Ausschlusskriterium. Laut einer Unterrichtung des Bundesrechnungshofes muss der besondere parlamentarische Anlass „eine Öffentlichkeitsarbeit gerade in diesem Zeitraum erfordern. Damit ist klargestellt, dass es sich um einen aktuellen Anlass handeln muss.“ Der Bundestagsbeschluss zum Wehretat war zum Zeitpunkt der Videoveröffentlichung schon fast einen Monat alt.
Auch wenn Olaf Scholz in einem Podcast, den die SPD-Fraktion am 14.1. auf YouTube veröffentlicht hat, fast 30 Minuten über die vergangene Legislaturperiode spricht und darüber, was er zu Silvester gekocht hat, liegen dem vielleicht auch parlamentarische Geschehnisse zu Grunde, aber sicher kein aktueller Anlass.
„Das geht mit der aktuellen Regelung nicht“, sagt Julian Krüper. Es fehle die Aktualität, außerdem werde Olaf Scholz als Bundeskanzler interviewt, nicht als Mitglied der SPD-Fraktion. Der SPD-Fraktion scheint die Problematik des Videos durchaus bewusst zu sein, sie hat es nämlich später wieder gelöscht.
„Da muss man den Gesetzgeber ernst nehmen“
Wenn die Grünen ebenfalls am 14.1. auf X schreiben, dass der Fraktionsvorstand auf einer Klausur Wirtschaftskonzepte diskutiert, dann hat das nicht nur keinen aktuellen Anlass, „das hat auch mit konkreten parlamentarischen Tätigkeiten nichts zu tun“, sagt von Ungern-Sternberg. So etwas hätten die Fraktionen in der Vergangenheit berichten dürfen, es sei aber vom neuen Abgeordnetengesetz nicht gedeckt. „Da muss man den Gesetzgeber ernst nehmen“, sagt von Ungern-Sternberg.
Julian Krüper sieht hier einen Graubereich. Denn die Fraktionen seien ja essentieller Bestandteil des Parlaments. Er hält es dennoch für begründbar, Fraktionsanlässe von der Öffentlichkeitsarbeit auszunehmen. „Wenn die Fraktionen sich ihre Anlässe selbst schaffen können, dann läuft die Regelung leer“, sagt er.
Wenn hingegen am 16.1. die Ampelfraktionen sowie die Fraktionen der Union und AfD in ihren Social-Media-Posts die Sondersitzung des Innenausschusses zu den Morden in Magdeburg oder die Sitzung des Untersuchungsausschusses zum Atomausstieg thematisieren, ist das vermutlich im rechtlichen Rahmen – so lange der Bezug auf den Ausschuss klar gemacht wird, was nicht in allen Posts der Fall ist.
Kommunikations-Herausforderung Diskontinuitätsprinzip
Ein besonderer parlamentarischer Anlass war auch bei vielen Posts vom 27.1. gegeben. Diese thematisierten das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus. Zwei Tage später fand im Bundestag eine Sonderveranstaltung dazu statt. „Das ist prototypisch für einen besonderen Anlass. Da gibt es überhaupt keinen Zweifel“, sagt Julian Krüper. „Natürlich ist das ein besonderes parlamentarisches Geschehen“ fügt Antje von Ungern-Sternberg hinzu.
Wenn der parlamentarische Anlass allerdings nicht konkret benannt wird, wie im Fall der AfD, die nur auf den Gedenktag, aber nicht auf die Bundestags-Gedenkveranstaltung Bezug nimmt, „könnte man schon sagen: schwierig“, sagt von Ungern-Sternberg.
Heike Merten, Geschäftsführerin des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung an der Universität Düsseldorf, fügt ein weiteres Ausschlusskriterium hinzu. Sie sagt, „dass ein besonderer parlamentarischen Anlass dann nicht gegeben sein kann, wenn es einen Sachverhalt betrifft, der auf Grund des für den Bundestag geltenden Diskontinuitätsprinzips im neu gewählten Bundestag nicht zu tragen kommen kann.“
Das ist aber der Fall, wenn die Fraktionen sich in der Woche vom 27.1. in zahlreichen Social-Media-Beiträgen mit den Anträgen zu Zuwanderungsbegrenzung und Überwachungsausbau beschäftigen, die die Union eingebracht hat. Eine Umsetzung durch die bereits zerbrochene Regierung so kurz vor der Wahl war von Anfang an ausgeschlossen, was die Öffentlichkeitsarbeit rund um das Thema eventuell illegal macht. Wir haben die besonders strenge Einschätzung von Merten allerdings nicht in die Analyse der Posts eingebracht.
Die größten PR-Übeltäter
Die meisten von uns als rechtswidrig eingestuften Posts, nämlich 62, veröffentlichte die AfD. Platz zwei der PR-Übeltäter geht an die Linke mit 50 beanstandenswerten Veröffentlichungen, dicht gefolgt vom BSW mit mutmaßlich 45 illegalen Beiträgen. Von den Parteien, die die Aktualisierung des Abgeordnetengesetzes eingebracht hatten, ist die CDU die mit den meisten gesetzeswidrigen Social-Media-Posts, nämlich 25 Stück. Danach folgen die FDP mit zehn, die Grünen mit sechs und die SPD mit drei problematischen Veröffentlichungen. Allerdings hat die letztgenannte Fraktion auch mindestens eine rechtswidrige Botschaft vor Abschluss der Untersuchung gelöscht.
Setzt man die Zahl der mutmaßlich illegalen Social-Media-Beiträge ins Verhältnis zur Gesamtzahl der Posts, die die jeweilige Fraktion veröffentlicht hat, zeigt sich das BSW als der größte Übeltäter: 54,2 Prozent der Posts der Gruppe haben entweder keinen Bezug auf einen aktuellen parlamentarischen Anlass oder der Bezug ist nicht kenntlich gemacht. Bei der Linken sind es 45,5 Prozent, bei der AfD 40 Prozent, bei der Union 21,6 Prozent, bei der FDP 11,8 Prozent, bei den Grünen 8,8 Prozent und bei der SPD 4,6 Prozent.
Fast die Hälfte der mutmaßlich rechtswidrigen Posts wurde auf X abgesetzt, 95 Stück, danach folgen Instagram mit 53 Beiträgen, Facebook mit 23, TikTok mit 20 und YouTube mit zehn. Einige Fraktionen posten auch auf Bluesky, Mastodon, Threads, LinkedIn, WhatsApp oder Telegram, diese Auftritte flossen aber nicht in die Analyse ein.
Ein illegaler Post ist auf X am wahrscheinlichsten
Welche Plattform wie stark bespielt wird, unterscheidet sich von Fraktion zu Fraktion. Union, AfD, SPD und Linke haben die meisten ihrer Beiträge auf X abgesetzt, bei Grünen und FDP war Instagram die meistgenutzte Plattform. Das BSW fokussiert sich derweil auf Facebook, das andere Parteien überhaupt nicht nutzen.
Betrachtet man auch hier wieder die Zahl der vermeintlich illegalen Posts zum Gesamtaufkommen der Social-Media-Beiträge auf der jeweiligen Plattform, zeigt sich, dass die Wahrscheinlichkeit eines rechtswidrigen Posts auf X am höchsten ist: 34,7 Prozent. Danach folgen TikTok mit 33,9 Prozent, Facebook mit 31,1 Prozent, Instagram mit 29,4 Prozent und weit abgeschlagen YouTube mit 10,5 Prozent. Letzteres erklärt sich damit, dass auf Youtube meist Ausschnitte aus Bundestagsreden gezeigt werden, welche laut Gesetzesbegründung per se als besondere parlamentarische Anlässe zu werten sind.
Etwa ein Drittel der abgesetzten Posts ist nach unserer Bewertung mutmaßlich rechtswidrig. Das immerhin scheint eine Verbesserung zur letzten Wahl zu sein. Der Bundesrechnungshof hatte in einer Analyse der Fraktionsöffentlichkeitsarbeit, die er vor der Bundestagswahl 2021 durchführte, noch 75 bis 100 Prozent der Posts als illegal beanstandet. Auch damals gaben die Fraktionen allesamt an, dass ihre Veröffentlichungen durchgängig gesetzeskonform seien.
Was passiert eigentlich, wenn die Fraktionen verbotene Wahlwerbung machen?
Die Sanktionierung illegaler Öffentlichkeitsarbeit ist Aufgabe des Ältestenrats. Er kann Hinweise darauf durch Abgeordnete, Bürger*innen, Presseberichte, Gruppen und Fraktionen erhalten und Einzelfälle zur Prüfung an den Bundesrechnungshof weiterleiten. Stellt der Ältestenrat einen Regelverstoß fest, wird dieser in einer Bundestagsdrucksache veröffentlicht, rechtswidrig verwendete Geld- und Sachleistungen müssen dann rückerstattet werden.
Der Bundesrechnungshof fordert darüber hinaus, dass illegale Posts gelöscht werden müssten. Bislang hat der Ältestenrat noch keinen Post beanstandet.
„Bislang hat der Ältestenrat noch keinen Post beanstandet.“
Das wird auch nicht passieren, denn dann kommt der AfD-Stammtisch mit „DAS IST WAHLMANIPULATION!!!!!!“
„Die Lieblingssnacks der FPD-Abgeordneten“ – FPD, wer kennt sie nicht.
Vielen Dank für den Hinweis. Ist korrigiert.