VorratsdatenspeicherungSchäbige Verkürzung auf Kosten der Grundrechte

Mit einem altbekannten Fehlschluss aus der Kriminalstatistik holt die Innenministerkonferenz den Zombie „Vorratsdatenspeicherung“ aus dem Keller. Doch die Angstmache vor Kindesmissbrauch ist schäbig, um damit mehr Überwachung zu rechtfertigen. Ein Kommentar.

Michael Stübgen, mit Brille, lachend
Michael Stübgen, Innenminister von Brandenburg und Vorsitzender der Innenministerkonferenz. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / epd

Nur ein paar Tage ist die angebliche Einigung der Ampel zu „Quick Freeze statt Vorratsdatenspeicherung“ alt, da steigt die Leiche schon wieder als Zombie aus dem Keller. Erst forderte die im Koalitions-Kompromiss übergangene SPD-Innenministerin Nancy Faeser die Vorratsdatenspeicherung, dann legte BKA-Präsident Holger Münch nach – nun fordern auch die Innenminister der Bundesländer unisono die anlasslose Massenüberwachung.

Soweit, so erwartbar. Seit Jahren ist die Vorratsdatenspeicherung nicht totzukriegen, allen Gerichtsurteilen und Protesten zum Trotz. Man fragt sich aber schon, warum Grüne und FDP, wo sie an Regierungen beteiligt sind, nicht darauf drängen, dass die Landesinnenminister solche Forderungen sein lassen.

Verkürzen und Panik machen

Früher wurde die Vorratsdatenspeicherung gegen islamistischen Terrorismus gefordert. Heute ist der Kindesmissbrauch und die Verbreitung von Inhalten sexualisierter Gewalt gegen Kinder das argumentative Steckenpferd, mit der die Befürworter:innen  die umstrittene Überwachung diskursiv durchsetzen wollen. Das Feld Kindesmissbrauch eignet sich dabei aus zweierlei Gründen zur Instrumentalisierung: Erstens handelt es sich um abscheulichste Taten, da ist sich die Gesellschaft übergreifend einig. Wer gegen eine Vorratsdatenspeicherung protestiert, der hat es also besonders schwierig, denn „es geht doch um die Kinder.“

Der andere Punkt ist die Polizeiliche Kriminalstatistik: Seit mehreren Jahren gehen die Fallzahlen in diesem Kriminalitätsfeld stetig nach oben. Wer nur oberflächlich auf die Statistik schaut, muss denken: „Verdammt nochmal, es wird immer gefährlicher für unsere Kinder. Wir müssen etwas tun!“

Genau das nutzen überwachungsinteressierte Behörden und Innenpolitiker:innen immer wieder: „Wir verzeichnen seit Jahren einen stetigen Anstieg im Bereich des Kindesmissbrauchs und der Verbreitung kinderpornografischer Inhalte“, sagte dann auch der Vorsitzende der Innenministerkonferenz Michael Stübgen von der CDU am Rande des Treffens.

Das ist eine gefährliche Verkürzung und vor allem Panikmache, bei der die Bürger:innen in Angst versetzt werden, damit Überwachungsmaßnahmen gerechtfertigt erscheinen. Denn was formal in der Statistik richtig ist, heißt noch lange nicht, dass immer mehr Kinder in Gefahr geraten. Auch nicht, dass immer mehr Menschen Inhalte sexualisierter Gewalt gegen Kinder konsumieren. Es heißt lediglich, dass die Polizei von immer mehr Fällen Kenntnis erlangt, dass also immer mehr Täter:innen in den Fokus der Polizei gelangen und im besten Fall auch verurteilt werden können.

Aufhellung des Dunkelfeldes

Dieser Fakt ist hinlänglich bekannt und ein Landesinnenminister sollte diese Fakten kennen, wenn er seinen Job gut macht. Schon auf eine Kleine Anfrage aus dem Jahr 2022 (PDF) antwortete die Bundesregierung zu den steigenden Fallzahlen:

Die starke Zunahme der Entdeckung von Darstellungen sexualisierter Gewalt an Kindern im Netz, welche sich letztlich in der Polizeilichen Kriminalstatistik abbildet, ist ein Ergebnis der verstärkten Aufhellung des hohen Dunkelfeldes.

Nach einer Meldung einer strafbaren Verbreitungshandlung folgen Ermittlungsmaßnahmen, bei denen in der Mehrheit der Fälle wiederum zahlreiche neue kinderpornografische Inhalte sichergestellt werden und die zumeist zu weiteren Tatverdächtigen führen. Gleichzeitig werden im Nachgang wieder neue Ermittlungsverfahren eingeleitet, bei denen abermals große Datenmengen inkriminierten Materials sichergestellt werden.

Durch immer bessere technische Detektionsmöglichkeiten und immer umfangreichere Beteiligung einzelner Provider an der aktiven Suche nach entsprechenden Dateien und Sachverhalten wird immer mehr inkriminiertes Material entdeckt und den Strafverfolgungsbehörden gemeldet.

Steigende Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik sind demnach ein Indikator dafür, dass die zusammen mit der Wirtschaft entwickelten Kontrollmechanismen immer besser greifen, mehr Fälle aufgedeckt und damit auch mehr laufende Missbrauchshandlungen beendet werden.

Es zeigt sich wieder einmal: Die Kriminalstatistik ist vor allem ein Tätigkeitsbericht der Polizei und ein Instrument um Stimmung zu machen – ob nun für Überwachungsbefugnisse oder gegen Menschen ohne deutschen Pass. Sie eignet sich hervorragend für schäbige Verkürzungen auf Kosten der Grundrechte. Das hat der Brandenburgische Innenminister Stübgen einmal mehr unter Beweis gestellt.

13 Ergänzungen

  1. Die sogenannte „Kriminalstatistik“ ist ein Tätigkeitsbericht der Polizei. Wenn Polizei erfolgreicher ist als im Vorjahr, dann heißt das nicht, dass sie Kriminalität zugenommen hat, denn ob eine Straftat vorgelegen hat oder nicht, entscheidet nicht die Polizei, sondern ein Gericht. Wenn die Polizei weniger ermitteln würde, würde analog die Interpretation der „Kriminalstatistik“ dann nahelegen, die Kriminalität sei gesunken.

    Die sogenannte „Kriminalstatistik“ wird von Teilen der Politik, aber stets vom BIM und dem BKA dazu benutzt, in einer an Desinformation grenzenden Weise ihre Narrative in der Bevölkerung unterzubringen. Und ja, wenn das Leid von Kindern damit instrumentalisiert wird, dann ist das im höchsten Grad schäbig, denn zur Verbesserung der Lebensbedingungen gefährdeter Kinder wird kaum etwas unternommen.

    Das Wohl unserer Kinder wird nicht durch Vorratsdatenspeicherung gewährleistet.
    Was konkret tut Politik und Gesellschaft, dass sexualisierte Gewalt an Kindern in den Bereichen Familie, Kirche und Vereine verhindert wird?
    Was wird getan, damit Kinder möglichst früh selbst erkennen, dass sie missbräuchlichen Situationen und Personen ausgesetzt sind?
    Welche Möglichkeiten haben Kinder, um auf ihre persönlichen Missstände aufmerksam zu machen, um Hilfe zu bitten?
    Gibt es einen professionell begleiteten, behördlichen Notruf an den sich Kinder direkt wenden können?

  2. > Man fragt sich aber schon, warum Grüne und FDP, wo sie an Regierungen beteiligt sind, nicht darauf drängen, dass die Landesinnenminister solche Forderungen sein lassen.

    Was für eine Erwartungshaltung. Es wäre aufgrund der herrschenden Mehrheitsverhältnisse effizienter zu fordern, die CDU und die SPD sollten ihre grundrechtswidrigen Forderungen sein lassen.

    Und nicht vergessen: Forderungen zu Wahlkampfzeiten sind Schäumchen von Träumchen.

    https://www.bpb.de/themen/wahl-o-mat/

    1. > Es zeigt sich wieder einmal: Die Kriminalstatistik ist vor allem ein Tätigkeitsbericht der Polizei und ein Instrument um Stimmung zu machen – ob nun für Überwachungsbefugnisse oder gegen Menschen ohne deutschen Pass

      Ich frage, ob es der Neutralität nutzen würde, das durchaus wichtige Anliegen der Bekämpfung von anlassloser (!) Massenüberwachung nicht mit dem Argument der in den Augen vieler gerechtfertigten Einzelüberwachung von entwurzelten Menschen (die – wenn auch gezwungen – den Traum der anonymen Anarchie leben und damit ohne bekannte Sozialstrukturen völlig bindungsfrei plötzlich in solche eingebunden werden und damit in den seltenen Fällen der unlauteren Absichten im Gegensatz zu Menschen mit deutschem Pass weder erkannt noch verfolgt werden können, also quasi einen kriminellen Vorteil erlangen) zu begründen. Oder kurz: Äpfel und Birnen. Allein dadurch, daß jeder Deutsche einen Perso hat (Pass ist hier Nebensache und steht für die Staatsangehörigkeit, aber eben auch die Registrierung als solcher) ist eine Identifizierung ggfs. möglich. Bei Menschen ohne Pass – nicht nur dem deutschen – eben nicht. Dieses Ungleichgewicht kann kein Argument gegen Vorratsdatenspeicherung sein, weil es die eigentlich wichtige Position durch ihren Mangel an Logik schwächt.

  3. > Doch die Angstmache vor Kindesmissbrauch ist schäbig, um damit mehr Überwachung zu rechtfertigen.

    Absolut jede Angstmache zur Einführung von (noch mehr) Überwachung ist schäbig.

    > Man fragt sich aber schon, warum Grüne und FDP, wo sie an Regierungen beteiligt sind, nicht darauf drängen, dass die Landesinnenminister solche Forderungen sein lassen.

    Vermutlich weil sie dafür zu feige sind.

    > Erstens handelt es sich um abscheulichste Taten, da ist sich die Gesellschaft übergreifend einig. Wer gegen eine Vorratsdatenspeicherung protestiert, der hat es also besonders schwierig, denn „es geht doch um die Kinder.“

    Mein Argument gegen solche Leute ist immer: „Wenn ich so obsessiv an Kinder denken würde wie Sie hätte ich mir im Gegensatz zu Ihnen schon längst therapeutische Hilfe gesucht.“

  4. FYI

    Zitat: Nach einer Meldung einer strafbaren Verbreitungshandlung folgen Ermittlungsmaßnahmen, bei denen in der Mehrheit der Fälle wiederum zahlreiche neue kinderpornografische Inhalte sichergestellt werden und die zumeist zu weiteren Tatverdächtigen führen. Gleichzeitig werden im Nachgang wieder neue Ermittlungsverfahren eingeleitet, bei denen abermals große Datenmengen inkriminierten Materials sichergestellt werden.

    https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Aktion-gegen-Kinderpornografie-Hunderte-Durchsuchungen-im-Norden,kinderpornografie298.html

    https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/lueneburg_heide_unterelbe/Kinderpornografie-Mehrere-Terabyte-Daten-bei-Razzia-gesichert,kinderpornografie288.html

  5. Jener hat auch auch nicht den Anschlag auf die Stromversorgung des Gewerbegebietes Freienbrink verhindern können. Das Protestcamp ist für Stübgen das Problem, sein unterstelltes Ministerium war jedenfalls Blind. Obwohl die in verdacht stehende Gruppe schon in den Fokus der Behörden befanden. Alle zur Verfügung stehenden Mittel brachten kein Erfolg, wurden nicht genutzt oder blieben auf den Fluren zwischen den Behörden hängen. Er soll erst mal vor der eigenen Tür kehren!

    Bei der letzten Generation konnte man auch sehen gegen wem die Mittel dann eingesetzt werden. Solche Politiker sind eine Gefahr für die Verfassung, die Ihre ziele über rechte anderer stellen.

    1. Ihr habt keine Ahnung was in Brandenburg vorgeht! Andauernde Gesetzesverstoesse von Behörden und Gericht. Die DDR ist nicht wirklich Geschichte!
      Stuebgen ist gefährlich. Ein Rechtspopulist! Die Konservativen waren schon immer der Steigbügelhalter für die Braunen! Dann die fehlende Bildung auf dem Lande! Da kann man nur noch wegziehen.
      Die hälfte der Menschen in Brandenburg ist immer noch braun und huldigt der Zucht und Ordnung!

      1. Es tut mir leid, was ich ueber die Menschen in Brandenburg und fehlende Bildung gesagt habe.
        Es war schon spaet, und es ging mir an diesem Tag wirklich nicht gut.

  6. Der Rest ist leider auch nachhaltig Schäbig. Kein Wunder, wenn Verdrossenheit resultiert. Man hat strategisch, wenn nicht sogar epochal falsch gehandelt, die letzten Jahrzehnte.

    1. „Man hat strategisch, wenn nicht sogar epochal falsch gehandelt, die letzten Jahrzehnte“

      Kann man auch anders sehen: die Handelnden sind weiterhin hochprivilegierte und in den für sie relevanten Bereichen hochangesehene Mitglieder der Gesellschaft, mithin sehr erfolgreich. Soviel können die nicht falsch gemacht haben.

      Solange die Wähler „falsche Entscheidungen“ belohnen, bekommen sie die auch.

      1. Durchaus möglicherweise epochal falsch. Warum sollte „man“ die Perspektive irgendwelcher „Gewinner“ einnehmen?
        Es geht um Nachhaltigkeit und Zivilisation. Mit gesellschaftlicher Stabilität als möglicherweise zutreffendem Bestandteil oder sogar Zwischenschritt. Das „Normal der Menschheitsgeschichte“ kann uns nur als Warnung dienen. Wer damit arbeitet, sollte mittels De-Risking aus unseren Entscheidungsprozessen rausfliegen.
        Im Grunde ist das die Frage, ob wir psychopathische Serienkiller als Mächtige etabliert haben wollen, oder nicht. Zivilisatorisch sicherlich zentrales Versagen, wenn Checks and Balances fehlen, falls es dafür überhaupt welche geben kann.

        Haben die Wähler denn eine Wahl, bei gegebener Intransparenz, straffreier Manipulation bis hin zu Korrumption bis Korruption? Da bleibt nicht viel über 3% in der Summe (im Moment). Man könnte meinen, „Gelbwesten mit roten Flecken drauf“ wären die sinnvollere Richtung, doch auch da gibt es problematische historische Beispiele.

        Tatsächlich muss man hier strategisch verstehen, warum Lokalpolitik oftmals zu funktionieren scheint (viele Parteien), aber sich sehr schnell Verdrossenheit bei den großen Zahlen einstellt (Bundespolitik). Hier wie dort.

        Wo wir gerade bei dort und Derisking waren, wie sieht es denn mit IT aus den USA aus (Software + Hardware + Kohlenstoffeinheiten), nach dem letzten Bill?

      2. Nja, schäbig impliziert die Notwendigkeit, Schäbigkeit auch einzusehen. Fehlt Transparenz und dominiert Manipulation, ist das mit der Wahl so eine Sache. Rest: <X%. X wahrscheinlich kleiner als 5 oder 3 oder so.

        Ja, im Grunde Äquivalentformel: es müsste mehr passieren. Problem ist aber nicht, dass zu viele Wähler Falsches honorieren, denn das ist nur ein Symptom, Problem ist mangelnde Transparenz, dazu Vernebelung und Manipulation, u.a. auch fehlende Einordnung fachlicher Mindeststichhaltigkeit seitens der Medien. D.h. über den Wähler sich zu beschweren, ist wie über das Wetter zu nörgeln. Einzig voran bringen uns Köpfe und Menschen, die einsehen, dass uns die Mathematik sagt, dass wir so nicht handeln können, und entsprechend (um-) lenken. Leider sind wir mathematisch nicht weit genug, bzw. in unseren Simulationsfähigkeiten. Also muss Philosophie mit den Basics ran (nicht in der Tonne, sondern bzgl. sich aufrechterhaltender Zivilisation). Hier gibt es Erkenntnisse zu haben.

  7. Interessante Beleuchtung des EUGH Urteils heute in der Süddeutschen Zeitung.
    „Als der EUGH im Jahr 2022 die deutsche Vorratsdatenspeicherung kippte, war das ein Blick in die Vergangenheit – das Gesetz stammte von 2017. Wer heute über neue Datenspeicher ’nur‘ für IP-Adressen nachdenkt, der muss sich damit auseinandersetzen, dass die Menchen längst einen beträchtlichen Teil ihres Alltags im Netz verbringen. All die Datenspuren … lassen sich also zu einem hochpräzisen Profil verdichten. Und diese Möglichkeiten wachsen dank künstlicher Intelligenz exponentiell. Das heißt: mit dem technologischen Fortschritt wachsen auch die Kosten für die Grundrechte.“
    „Wer die Urteile [des EUGH] nachliest, wird feststellen, dass seine zentrale Botschaft nicht von IP-Adressen handelt. Sondern davon, dass der Alltag der Menschen, die keinene Anlass für behördliche Aufmerksamkeit gegeben haben, grundsätzlich unbeobachtet zu bleiben hat.“

    https://www.sueddeutsche.de/meinung/vorratsdaten-faeser-internet-ip-adressen-kommentar-1.6564532?reduced=true
    und
    https://www.sueddeutsche.de/politik/vorratsdatenspeicherung-ip-adressen-faeser-buschmann-1.6564551?reduced=true

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