EU-StaatenSteht Europa nicht im Weg

Die nationalen Regierungen haben keine Lust mehr auf neue EU-Digitalgesetze. Vielleicht bräuchte es davon ja nicht so viele, wenn sie die bisherigen nicht verwässert hätten. Oder wenn sie der EU genug Geld geben würden, um bestehende durchzusetzen. Ein genervter Kommentar.

Ein Mann im Hemd schreit durch ein Megafon einen zweiten Mann im Anzug an, der eine Schwimmbrille aufhat und sich die Ohren zuhält.
EU und Mitgliedstaaten bei der Haushaltsdiskussion (Symbolbild). – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / Shotshop

Im Politiktheater der EU sind die Rollen vorverteilt. Die EU ist böse, groß, bürokratisch. Die Mitgliedstaaten sind nahbar, nett, freundlich und wollen nur das Beste für ihre Bürger:innen und Unternehmen. So wirkt es zumindest oft, wenn man den Regierungen dieser Mitgliedstaaten zuhört.

Ob für Deutschland, für Italien oder Schweden: Es ist ein schöner, alter Refrain, den man immer wieder anstimmen kann. Ab wann gelten Lieder eigentlich als schützenswert? Vielleicht wird das Beschweren über die EU ja bald zum immateriellen Kulturgut. Dann können wir uns bald Aufführungen von 27 Schauspieler:innen anschauen, die sich in ihren jeweiligen Landessprachen über die EU echauffieren und dabei jeden wirklichen gemeinsamen Fortschritt verhindern.

Wir wollen keine Digitalgesetze mehr!

Denn wenn Europa bei der Netzpolitik etwas erreichen will, dann muss es das gemeinsam tun. Die Staaten sind einzeln schon lange viel zu irrelevant, um gegen US-amerikanische oder chinesische Tech-Riesen anstinken zu können. Eigentlich ist das auch keine große Neuigkeit mehr: Zuerst kam die Datenschutz-Grundverordnung, in den letzten Jahren die Mammutgesetze zu digitalen Diensten und zu digitalen Märkten. Man könnte denken, die nationalen Regierungen hätten endlich gemerkt, dass zusammenarbeiten sich lohnt.

Vor zwei Wochen haben die 27 Digitalminister:innen aber beschlossen, dass sie jetzt erstmal keine Lust mehr haben. Bitte keine neuen Digitalgesetze, heißt es sinngemäß in den Beschlüssen des Rats zu Telekommunikation. Wir müssen jetzt erstmal die Gesetze umsetzen, die wir in den letzten paar Jahren geschrieben haben.

Außerdem, liebe EU-Kommission, denk doch bitte mit uns darüber nach, wie wir das alles gemeinsam so machen können, dass es Sinn ergibt. Aber das sollen bitte Ideen sein, an denen wir uns orientieren können, keine Vorschriften. Und große gemeinsame europäische Projekte soll es nur geben, wenn das „gerechtfertigt“ ist.

Aber zum Glück besteht ja für die nächsten fünf Jahre keinerlei Bedarf an europäischer Netzpolitik. Es ist ja nicht etwa so, dass manche von euch ohne richterliche Erlaubnis Spionagesoftware auf die Handys eurer Bürger:innen aufspielen. Für eine richtige Aufklärung dürfen die Betroffenen dann auf einen Regierungswechsel hoffen.

Oder was ist mit dem Glasfaserausbau? Einen Schritt gab es zwar dieses Jahr, trotzdem dümpeln viele EU-Staaten irgendwo zwischen langsam und Gletscher rum (Deutschland liegt übrigens in der EU auf dem zweitletzten Platz). Vielleicht ein Anlass, gemeinsam noch mehr zu tun? Sehen die Mitgliedstaaten anders. Zumindest, wenn sie es müssen sollen.

Mehr Aufgaben bei weniger Ausgaben?

Ansonsten hättet ihr gern, dass die EU die Digitalgesetze der letzten paar Jahre gut umsetzt. Da fragt man sich nur: Mit welchen Leuten? Denn anders als es gern behauptet wird, ist die Europäische Union kein unbegrenzt wachsendes Bürokratiemonster mit Legionen an anzugtragenden Eurokraten. Die gesamte EU hat weniger Beamt:innen als das Bundesland Berlin.

Um die Teams für die Durchsetzung der neuen Digitalgesetze zusammenzustellen, musste die EU-Kommission schon Beamt:innen aus anderen Bereichen abziehen – die jetzt natürlich dort fehlen. Trotzdem kann man die Anzahl der Beamt:innen, die für eine der großen Plattformen zuständig sind, an zwei Händen abzählen. Die treten dann gegen einen Konzern mit Milliardenumsatz an – und den entsprechenden Jurist:innen. Sieben gegen die Riesen-US-Anwaltskanzlei.

Und trotzdem spart die EU weiter Stellen ein, weil die Mitgliedstaaten ihr immer weniger Geld geben. Denn die EU hat zwar eigenes Einkommen – etwa aus Zöllen oder bald über Zertifikate für die Einfuhr von klimaschädlichen Produkten – aber der weitaus größte Teil des EU-Haushalts kommt direkt von den Mitgliedstaaten. Und die schneiden ihr jeden Cent, den sie aus anderen Quellen mehr bekommt, aus ihren Beiträgen heraus.

Dazu kommt noch die Inflation, und voila, die EU hat am Ende immer weniger Geld bei immer mehr Aufgaben. Ein Rezept für überforderte Beamt:innen und eine lückenhafte Durchsetzung.

Wer also von der EU fordert, ihre Gesetze richtig durchzusetzen, aber gleichzeitig nicht das Geld dafür herausrücken will, ist einfach scheinheilig.

Gemeinsame Regeln, ach wieso denn

Auch gut: Wenn Regeln unbedingt sein müssen, dann sollen das bitte die Mitgliedstaaten machen. Weil das ist, ähem, besser? So geschehen bei der Richtlinie zur Plattformarbeit, die eigentlich EU-weit die Rechte von Lieferfahrer:innen und Pflegekräften verstärken sollte. Dann konnten Frankreich, Estland, Griechenland und die FDP durchsetzen, dass jedes Mitgliedsland zentrale Punkte des Gesetzes selbst festlegen kann.

Glücklich war damit außer den vier Prozent der deutschen Wahlberechtigten, die am Sonntag wahrscheinlich die FDP wählen werden, wahrscheinlich niemand. Die Arbeiter:innen nicht, denn deren Rechte werden so der Willkür der nationalen Regierungen ausgesetzt. Frankreich zum Beispiel ist liberal regiert und wird wohl die Regeln weniger hart umsetzen als ein sozialdemokratisches Spanien. Unternehmen aber auch nicht, denn die müssen jetzt weiterhin mit 27 verschiedenen Regelwerken arbeiten. Das kritisierte sogar der Bitkom-Verband.

Was genau ist hier unbürokratisch? Dass jetzt 27 verschiedene Behörden die Arbeit machen müssen, die ansonsten einmal auf EU-Ebene hätte passieren können? Wohl kaum.

Im Zweifel lieber zusammen dagegen

Auch die EU baut manchmal Stuss, ziemlich oft sogar. Aktuelles Paradebeispiel ist die Chatkontrolle. Europaweit regeln, Privatchats zu durchleuchten, ist nicht besser als national Privatchats durchleuchten. Aber: Dieses Vorhaben kann jetzt einmal auf EU-Ebene bekämpft werden, anstatt diesen Kampf 27 Mal durchfechten und höchstwahrscheinlich einige Male verlieren zu müssen.

Also lieber einmal auf EU-Ebene arbeiten – und zwar ernsthaft. Bekenntnisse dazu, wie jüngst mal wieder von Frankreich und Deutschland, gibt es viele. Nach der Wahl wird es dann heißen: sich auch dran halten. Vor allem beim nächsten Problem und bei den nächsten Verhandlungen für einen EU-Haushalt.

Deine Spende für digitale Freiheitsrechte

Wir berichten über aktuelle netzpolitische Entwicklungen, decken Skandale auf und stoßen Debatten an. Dabei sind wir vollkommen unabhängig. Denn unser Kampf für digitale Freiheitsrechte finanziert sich zu fast 100 Prozent aus den Spenden unserer Leser:innen.

9 Ergänzungen

      1. > das übliche „Verwechseln“ von EU und Europa

        Damit haben vorwiegend Menschen Schwierigkeiten, deren Leseverständnis förderbedürftig ist. Sätze stehen in einem Kontext (das Drum-Herum eines Satzes) und Artikel-Texte handeln von einem Thema (hier: Europäische Union, nicht das geografische Europa).

        Erde kann Ackerboden und auch den Planeten bezeichnen. Der Ackerboden wird wohl kaum gemeint sein in einem astronomischen Kontext.

        1. Erde hat mehrfache Bedeutung. Hingegen ist die „EU“ keine mögliche Bedeutung von Europa. Um es vielleicht jetzt noch etwas provokativer auszudrücken. Russland ist Teil von Europa.

        2. Europa ist ein Kontinent und eine Vision, die EU (mit ihrem Demokratiedefizit) ist hingegen die Praxis.

          Es ist rabulistische Propaganda, Leute dafür als „europafeindlich“ zu bezeichnen, dass sie die Praxis nicht für gelungen halten.

  1. Herrlicher Artikel ! Vielen Dank dafür !
    Ich versuche, Trost bei Klaus Landefelds *** eco-Verband der Internetwirtschaft *** zu finden:
    „… verlangt der eco aber, das Prinzip Löschen statt Sperren zu forcieren sowie die Bürgerrechte in der digitalen Welt zu schützen. Ein Teilaspekt ist auch hier die potenziell wiederzubelebende E-Privacy-Verordnung: Der Verband drängt darauf, „einen starken Datenschutz im Telekommunikationsbereich“ zu begründen und „gleichzeitig die Möglichkeiten zur Verarbeitung von Metadaten einheitlich und für die Wirtschaft praktikabel“ zu regeln.“
    Quelle: https://www.heise.de/hintergrund/Missing-Link-So-soll-die-EU-Digitalpolitik-der-naechsten-fuenf-Jahre-aussehen-9743410.html

      1. Jetzt müsste es „nur noch“ auf Mainstream-Nachrichtenseiten ankommen, damit es auch Leute außerhalb der Bubble lesen können.

Wir freuen uns auf Deine Anmerkungen, Fragen, Korrekturen und inhaltlichen Ergänzungen zum Artikel. Bitte keine reinen Meinungsbeiträge! Unsere Regeln zur Veröffentlichung von Ergänzungen findest Du unter netzpolitik.org/kommentare. Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.