Lobbynetzwerk und MikrotargetingYlva Johansson weicht Fragen im EU-Innenausschuss aus

Die EU-Innenkommissarin und glühende Verfechterin der Chatkontrolle musste sich heute im Innenausschuss des Europäischen Parlamentes kritischen Fragen stellen. Doch die Fragen zu Lobbyismus und unlauterer Werbung ließ sie abperlen. Beobachtungen aus einem Ausschuss, der Johansson kaum greifen konnte.

Ylva Johansson
Ylva Johansson (Archivbild) – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / ZUMA Wire

EU-Innenkommissarin Ylva Johansson musste sich heute den Fragen im EU-Innenausschuss (LIBE) in Sachen Chatkontrolle stellen. Die sozialdemokratische Politikerin aus Schweden war zuletzt mit Lobbyverflechtungen und dem Einsatz von politischem Mikrotargeting aufgefallen – und ist deswegen in den Ausschuss geladen worden.

Johansson ist eine der treibenden Kräfte hinter dem Gesetzesvorhaben der EU-Kommission zur „Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern“. Um Darstellungen von Missbrauch aufzudecken, soll auch private Kommunikation durchleuchtet werden. Eine breite Allianz aus unter anderem Daten- und Kinderschützer:innen, Bürgerrechtler:innen und Politiker:innen lehnt den Vorstoß ab.

Johansson hatte Kritik bislang zurückgewiesen und investigative Recherchen zu ihr offenbar nahe stehenden Lobbynetzwerken als „sensationslüstern“ beschrieben. Den Einsatz von Mikrotargeting bei einer Chatkontrolle-freundlichen Werbung der EU-Kommission nannte sie „normal“, während die EU selbst diese Form der Werbung regulieren möchte und der EU-Datenschutzbeauftragte eine Voruntersuchung gegen Johansson eingeleitet hat.

Mikrotargeting hat Konsequenzen

Im Ausschuss selbst versuchte Johansson die Kritikpunkte als Nebensache darzustellen und hob immer wieder darauf ab, dass es doch um den Schutz der Kinder gehe und dass dies der Kern der Debatte sei. In ihrem Eingangsstatement stellte Johansson die Treffen mit verschiedenen Organisationen als vollkommen normalen Ablauf dar, sie habe sich mit dutzenden Organisationen, sowohl Gegner:innen wie Befürworter:innen ihrer Verordnung getroffen. Den Großteil ihres etwa fünfminütigen Eingangsstatement nutzte sie allerdings dafür, ihre Chatkontrolle-Verordnung zu verteidigen und als verhältnismäßig darzustellen.

Alle Fragen der Abgeordneten zu der umstrittenen Mikrotargeting-Kampagne wehrte Johansson mit der Bemerkung ab, dass sie mit den Details dieser Kampagne nicht vertraut und gleichzeitig in die Durchführung der Kampagne nicht involviert gewesen sei. In der Sitzung des Ausschusses sagte sie, dass die Kampagne nun Teil einer internen Untersuchung der Kommission sei. Dabei soll etwa geprüft werden, ob die Regeln des Digitale-Dienste-Gesetzes (DSA) eingehalten wurden.

Geladener Journalist erhebt Vorwürfe

Zu ihren Lobbyverflechtungen befragt, sagte Johansson, dass sie die Oak Foundation nicht kenne. Die Organisation hatte den Recherchen von unter anderem BalkanInsight zufolge 24 Millionen Dollar in das Chatkontrolle-Lobbying gesteckt.

Es gab auch kritische Fragen zu den finanziellen Interessen von Technologie-Firmen, die durch die Chatkontrolle teure Aufträge erwarten dürfen. Diese konterte Johansson damit, dass die EU-Verordnung „technologieneutral“ sei. Im Rahmen der Verordnung habe sie sich drei Mal mit Microsoft, sechs Mal mit Google, drei Mal mit Twitter, drei Mal mit TikTok, ein Mal mit der ICANN, einmal mit Apple, einmal mit Amazon, zwei mal mit Thorn und zweimal mit Brave getroffen. Sowohl Thorn wie auch Brave sind Teil des aufgedeckten Lobbynetzwerkes. Thorn bietet auch technische Lösungen zum Verkauf. Mit dem europäischen Dachverband von Organisationen für digitale Freiheitsrechte, EDRi, hat sich Johansson trotz mehrfacher Nachfrage allerdings nicht getroffen. Die Innenkommissarin erklärte, dass es eine Podiumsdiskussion unter Beteiligung von EDRi und ihr gegeben habe.

Vor den Ausschuss war auch der investigative Journalist Apostolis Fotiadis aus Griechenland geladen. Er hatte mit Kolleg:innen die Lobbyverflechtungen von Johansson aufgedeckt und beklagte sich über den Umgang mit der Presse. Anfragen nach Dokumenten seien um Monate verzögert worden, die Innenkommissarin habe auf Presse- und Interviewanfragen nicht reagiert. Nach dem Erscheinen der Artikel habe die Kommissarin dann versucht, die Berichte als unseriös und als Verschwörungstheorien darzustellen. Fotiadis sehe zwar keinen Angriff auf die Pressefreiheit in diesem Fall, aber wenn sich ein solcher Umgang mit Journalismus häufe, würde dies die Pressefreiheit unterminieren.

„Mandat missbraucht“

Die knapp anderthalbstündige Sitzung endete mit einer harschen Kritik der deutschen Europa-Abgeordneten Cornelia Ernst (Linke). Sie sagte, dass sie Johansson nach diesem Auftritt persönlich misstraue. Die Kommissarin habe ihr Mandat für Lobbyismus missbraucht und gleichzeitig die Arbeit des Parlaments in Abrede gestellt. In einer danach verbreiteten Pressemitteilung schreibt sie: „Ich bin geradezu schockiert darüber, wie wenig die Kommissarin Johansson auf die wichtigen Fragen der Abgeordneten geantwortet hat und die nötige Aufklärung eher verhindert. Ohne Klärung der Interessenkonflikte darf das EP nicht über die Verordnung abstimmen!“

Der Pirat Patrick Breyer von der grünen Fraktion sagt in einer Pressemitteilung, dass sich Johansson „uneinsichtig“ gezeigt und mit der „üblichen Propaganda“ geantwortet habe.

Viel schlauer als zuvor ist nach dieser Sitzung wohl niemand. So zeigt sich Konstantin Macher vom deutschen Verein Digitalcourage enttäuscht: „Die Kommissarin hat viel gesprochen, aber nichts gesagt. Echte Aufklärung sieht anders aus, damit kann sich das Europäische Parlament nicht zufrieden geben.“

Ella Jakubowska von EDRi sieht das ähnlich: „Wie viele der anwesenden Mitglieder des Europäischen Parlaments sind wir enttäuscht, dass die Kommissarin nicht auf die gegen sie erhobenen Vorwürfe eingegangen ist. Dies überrascht uns jedoch nicht, da die Weigerung, sich inhaltlich mit den Bedenken auseinanderzusetzen, während der gesamten Arbeit an der Chatkontrolle-Verordnung zu beobachten war.“

Währenddessen gehen die Verhandlungen zur Chatkontrolle weiter. Im sogenannten Trilog müssen Kommission, EU-Parlament und Ministerrat zu einer Einigung über den Gesetzestext kommen. Zumindest das Parlament nähert sich aktuell einer Position, die Abstimmung im Rat wurde bereits mehrfach verschoben. Erst nach der Einigung in allen Gremien kann der Trilog beginnen.

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4 Ergänzungen

  1. Der Kommission geht es um das maximale Durchsetzen der eigenen Vorstellungen. Warum sollte man dem Parlament auch nur den kleinsten Schritt entgegen kommen, wenn man das nicht muss?

    Sanktionen gibt es keine, die pure Arroganz der Macht kann man voll ausleben.

  2. Spätenstens der EuGH wird – sofern die Chatkontrolle wirklich kommen sollte – diesen absoluten Demokratie-Killer kippen. Soviel steht sicherlich fest.

    1. Aber bis dahin vergeht einige Zeit, in der Fakten geschaffen werden.
      Es müsste persönliche empfindliche Konsequenzen für die Politiker geben, die für illegale (durch EUGH oder Verfassungsgerichte für illegal erklärte ) Gesetze und Verordnungen verantwortlich sind, dann hört das Aushöhlen der Bürgerrechte hoffentlich auf.

    2. Bis dahin wird sie aber trotzdem jede Menge unumkehrbaren Schaden anrichten. Selbst wenn man alle gesammelten Daten löschen könnte (und nicht davon ausgeht, dass es schon längst weitere Kopien gibt, von denen offiziell niemand weiß) – das Wissen, das die Leute, die sie erhoben oder abgerufen haben, nun in ihren Köpfen haben, kann man nicht mehr löschen, jedenfalls nicht mit legalen Methoden. Was nützt mir, wenn die Cops gerichtlich gezwungen werden, meine Chatverläufe und Seitenaufrufe wieder zu löschen, wenn allein durch die Tatsache, dass sie jemals daraus zugreifen konnten, jetzt Leute da draußen sind, die gegen meinen Willen genau wissen, wo ich wohne, welche politischen Einstellungen ich habe, welche nicht jugendfreien Seiten ich am häufigsten aufrufe und was meine Kinks sind? Solche Informationen setzen Erpresser oder Rechtsradikale gern ein…

      Vor allem wird umgekehrt, wenn gegen Pornoseiten vorgegangen wird, vorgeblich um „Rachepornografie“ zu bekämpfen, doch genau so argumentiert: Dass die Aufnahmen, einmal im Netz, nie wieder zuverlässig gelöscht werden können; und dass selbst, wenn das möglich wäre, die Opfer trotzdem immer mit dem Wissen leben müssen, von fremden Leuten gesehen worden zu sein.

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