Bundesweit Proteste im StadionChatkontrolle im Abseits

Fußballfans wehren sich seit Jahren gegen Überwachung und Einschränkungen von Grund- und Freiheitsrechten. Nun ist auch die in der EU geplante Chatkontrolle in den Stadien angekommen. Wir haben gefragt, warum das so ist und was die Fans fordern.

Die Stuttgarter Fußballfans zeigen ein Spruchband gegen die Chatkontrolle.
Stuttgarter Fußballfans zeigen ein Spruchband gegen die Chatkontrolle. – Alle Rechte vorbehalten Commando Cannstatt 97 / Unkenntlichmachung der Gesichter: netzpolitik.org

Ob in Rostock, in Nürnberg, Dresden, Fürth, Kaiserslautern oder in Stuttgart: In immer mehr Fußballstadien zeigen Fans Spruchbänder gegen die Chatkontrolle. Zuletzt haben Fans des VfB Stuttgart beim Spiel gegen Köln ein solches gezeigt und ihren Protest gegen die Überwachungspläne der EU auch mit einem Text untermauert.

Wie Kinderschutz-Verbände, Datenschutz-Behörden oder Grundrechtsorganisationen sperren sich die Fußballfans gegen das Vorhaben, dass Online-Anbieter private und verschlüsselte Chats durchleuchten müssen, um mögliche Hinweise auf sexualisierte Gewalt gegen Kinder zu finden. Eine Umsetzung der Pläne würde das Ende jeglicher verschlüsselter und vertraulicher Kommunikation bedeuten, mahnt die Fangruppe Commando Cannstatt: „Wie so oft wird ein vermeintlich guter Sinn als perfides Argument benutzt um schwere Grundrechtseingriffe umzusetzen.“

Fußballfans als Versuchskaninchen

Die besondere Sensibilität von Fans gegenüber staatlicher Überwachung begründet Markus Glocker vom Commando Cannstatt  damit, „dass der Fußballfan zur ersten Spielwiese der praktischen Anwendung“ von neuen Überwachungsgesetzen würde. Tatsächlich werden Überwachungsmaßnahmen wie die Personalisierung von Tickets, Zwangs-Apps, automatisierte Einlassysteme, Videoüberwachung und Gesichtserkennung oftmals in Stadien erprobt und Überwachungsdatenbanken wie die „Gewalttäter Sport“ zuerst eingeführt, bevor die Datenbanken später auch auf andere Personengruppen ausgeweitet werden. „Aufgrund dessen setzen wir uns bereits seit langem nicht nur für Fanrechte im speziellen, sondern auch gegen den schrittweisen Abbau demokratischer Grund- und Freiheitsrechte ein“, so Glocker weiter.

Unter den Ultraszenen gebe es bundesweit auch eine ganz gute Vernetzung, sagt Glocker, „was Dinge angeht, die uns alle betreffen, gerade in Anbetracht von Eingriffen in Freiheitsrechte, geplante repressive Maßnahmen gegenüber Fußballfans und ähnliches“. Speziell beim Thema Chatkontrolle hätten sowohl die Reaktionen in Gesprächen innerhalb der Gruppe und Fanszene, als auch die Reaktionen auf das Spruchband generell erahnen lassen, dass es noch eine große Unwissenheit beziehungsweise Unkenntnis in der breiten Masse der Gesellschaft gäbe, sagt Glocker. „Die besondere Stärke politischer Spruchbänder im Stadion ist sicherlich die damit einhergehende Aufmerksamkeit, die wir damit auf ein Thema lenken können. Im Optimalfall damit einhergehend auch eine Sensibiliserung einer gewissen Masse an Leuten“, so Glocker weiter.

 

Entgegen manchen Vorurteilen sind Fußballfans, vor allem aus der Ultra-Szene ausgesprochen politisch. Es gibt zahlreiche Beispiele tagesaktueller Interventionen außerhalb des Themas Fußball: Ob nun in der Bayern-Südkurve „Solidarität mit der feministischen Revolution im Iran“ gefordert oder bei Union Berlin der Kampf des Fusion-Festivals gegen eine Polizeiwache auf dem Festivalgelände unterstützt wird.

„Politische, beziehungsweise gesellschaftskritische, Spruchbänder haben eine große Tradition in unserer Ultrasbewegung, die einst aus den Idealen der italienischen Arbeiter- und Studentenbewegung entstanden ist. Auch wenn wir parteipolitisch unabhängig agieren, ist es uns wichtig, gerade auch im Bereich der Grund- und Freiheitsrechte unsere Meinung lautstark zu vertreten und nehmen uns dieses Recht auch heraus“, erläutert Glocker.

Lange Tradition beim Thema Grundrechte

In Deutschland sind organisierte Fußballfans schon seit Jahren in Bündnissen gegen Überwachung und für Bürgerrechte aktiv, so zum Beispiel bei den großen Demonstrationen „Freiheit statt Angst“, bei den Protesten gegen das neue Versammlungsgesetz in NRW, oder aktuell im Bündnis Chatkontrolle Stoppen.

Einer der politischen Akteure ist dabei auch der Dachverband der Fanhilfen, der als bundesweites Sprachrohr der Rechtshilfe-Vereinen von Fans agiert. Der Verein hat sich die „Förderung von Interessen von Fußballfans sowie die Unterstützung bei der Wahrnehmung und Durchsetzung ihrer bürgerlichen Rechte“ auf die Fahnen geschrieben.

„Das Stadion und die Fankurven sind generell politische Orte, wo sich kritisch mit dem eigenen Verein, mit dem DFB oder den Regierenden auseinandergesetzt wird“, sagt Linda Röttig, Mitglied im Vorstand des Verbandes. Die Fanhilfen folgen keiner Partei, sondern seien Sprachrohr von Fußballfans. „Willkürliche Überwachung und Repression gegen Fans sind im Stadion an der Tagesordnung. Der Hauptteil der aktiven Fans versteht daher die Wichtigkeit dieser Thematik“, erklärt Röttig.

Fans lehnen Massenüberwachung ab

„Wir Fußballfans sind seit Jahren beispielsweise mit illegalen Datensammlungen der Polizei konfrontiert. Deshalb liegt uns das Thema Datenschutz auch in Chaträumen besonders am Herzen“, so Röttig weiter. Methoden zur Massenüberwachung wie die Chatkontrolle lehnten Fanhilfen bundesweit kategorisch ab.

Die Bundesregierung müsse die Bemühungen zur Einführung der Chatkontrolle umgehend stoppen, so Röttig weiter. „Dieses Instrument der Massenüberwachung darf nicht umgesetzt werden und widerspricht allen freiheitlichen Grundsätzen. Im EU-Rat fällt Deutschland als bevölkerungsreichstem Land eine entscheidende Rolle zu.“ In diesem EU-Gremium, das derzeit noch um seine Position ringt, kann Deutschland seine Muskeln spielen lassen und dazu beitragen, den umstrittenen Vorschlag zu Fall zu bringen.

Die Fans wollen mit ihren Spruchbändern sensibilisieren und Öffentlichkeit schaffen. „Spruchbänder in den Fankurven sorgen immer für Gesprächsstoff – im Stadion selbst und dann, wenn sie medial verbreitet werden. Durch intensive Aufklärungsarbeit von uns als Fanhilfen sind bereits viele Fans sensibilisiert für Themen rund um Überwachung und Freiheitsrechte. Da geht aber noch deutlich mehr“, so Röttig weiter.

Internationales Phänomen

Dass Fußballfans und insbesondere die Ultra-Szene politisch ist, ist kein deutsches Phänomen. Fußballfans mischen sich ein, waren Teil von Revolutionen und Aufständen. Legendär geworden ist die Rolle der Fans des ägyptischen Vereins Al-Ahly in Ägypten als „Beschützer der Revolution“ bei den Straßenkämpfen rund um den Tahrir-Platz oder das Engagement von Beşiktaş-Istanbul-Fangruppe „Çarşı“ in Unterstützung der Gezi-Proteste in der Türkei gegen den Dauerpräsidenten Erdoğan.

Und auch bei der aktuellen Revolution im Iran spielt der Fußball eine wichtige Rolle: Schon vor der Revolution kämpften iranische Fußballfans dafür, dass Frauen in die Stadien dürfen. Heute treten bekannte iranische Fußballspieler immer wieder für die Ziele der Proteste ein, auch das Stadion ist Ort der Auseinandersetzung.

Bei der Weltmeisterschaft in Katar hatte das Land Listen mit allen iranischen Menschen, die Karten für die Fußballweltmeisterschaft gekauft hatten, an das Regime in Teheran weitergegeben, um oppositionelle Proteste im Stadion zu unterbinden. Außerdem soll der Iran mitbestimmt haben, welche Symbole und Zeichen während der WM in den Stadien untersagt sind.

4 Ergänzungen

  1. Jetzt wird’s gefährlich für die Chatkontrolle, wenn die Fussballfans drauf aufmerksam werden. Und hier ist man ja nicht ab demnächst wieder für ein paar Jahre aus der Schusslinie, und kann auch die Fernsehbilder nicht so kontrollieren wie bei der FIFA-WM.

    Wenn jetzt, weil das so in der Demokratie gemacht wird, die Politiker darüber normal diskutieren, und mittels normaler Änderungsanträge und aspektweiser Kritik „versuchen“, das Vorhaben „demokratisch“ zu bearbeiten, muss man doch konstatieren, dass die insgesamt völlig unfähig, vielleicht sogar verrückt sein müssen, oder der Vorgang eben doch einen Angriff auf die demokratischen Prozesse insgesamt darstellt, und eben nicht nur auf die Grundfesten der Demokratie.

    Das gilt es, zeitnah zu reparieren. Man muss bedenken dass der ganze IT-Bereich längst für nutzerbezogene und privatsphärenaffine Dienste eine Kaninchanschlangenproblematik aufweist, weil man nicht weiß, was als nächstes kommt, während doch immer weiter „geliefert“ wird. Man „schafft“ es auch nicht, z.B. nachwachsende kleinere Dienste sinnvollerweise prinzipiell auszunehmen. Ein Paradies für die Telekom und co., …

    1. „Angriff auf die demokratischen Prozesse“

      Die sind überall extrem löchrig. Statt dass es einen Abschießprozess für übergeordnet Problematisches in der Gesetzgebung gibt, zuzüglich einer adäquaten Benennungspflicht, wird irgendwas unter irgendeinem Namen eingemischt und dann „diskutiert“. Da müsste eben der Blitz rein, und auch so, dass ein erneuter Versuch adäquat zu benennen wäre. Also die Pflicht zur verbindlichten Übersicht (+-). Das rettet nicht alles, da z.B. eine Urheberrechtsreform wie wie sie siegen sahen, dann immer noch möglich wäre. Das Unterschieben wird dann allerdings ein klein wenig schwieriger, und wer Werbung für „gegen die großen Plattformen“ macht, wird sich gegebenenfalls dann exponieren, weil das nicht in der Übersicht, und auch nicht im Gesetz steht. Ansonsten wäre das Gesetz eben adäquat zu benennen…

  2. Das ist doch gar nicht die Frage die sich stellt… Viel interessanter wäre es, warum niemals die Produzenten des Materials erwischt werden und falls doch häufen sich die Suizide und Ermittlungspannen… In der EU verschwinden pro Jahr 250.000 Kinder. Es kann einem doch keiner weiß machen, dass es da keine Spuren gibt. Siehe Marc Dutroux mit seiner Playse im Knast. Diese Welt hat einfach nur fertig.

    1. Nein. Totalüberwachung ist 1. Schwierig 2. tödlich wenn das System nicht perfekt ist. Daraus folgt, das einiges möglich ist, bzw. sein muss. Danach aber folgt so einiges, wo vieles besser laufen könnte.

      Wie viele Kinder tauchen denn wieder auf? Gibt es da eine Statistik?

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