Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat wiederholt gegen die Vorratsdatenspeicherung geurteilt. Trotzdem überlegt die EU-Kommission, einen neuen Anlauf zu unternehmen. Dabei erwägen EU-Beamte verschiedene Szenarien für eine Neuauflage des umstrittenen Gesetzes.
Die unterschiedlichen Überlegungen schildert ein vertrauliches „Non-Paper“ der Kommission, das im Juni an die Mitgliedsstaaten ging. Berichtet hat darüber das französische Medium Contexte, wir veröffentlichen es im Volltext. Die Vorschläge in dem Dokument sollen eine Form der Vorratsdatenspeicherung ermöglichen, die mit dem Urteil des EuGH aus dem Vorjahr gegen eine anlasslose Massenüberwachung vereinbar sei.
Mit der Vorratsdatenspeicherung werden Anbieter von Telekommunikationsdiensten dazu verpflichtet, Daten über ihre Kundschaft für eine gewisse Zeit zu speichern und auf Anfrage Ermittlungsbehörden zur Verfügung zu stellen. Ein Mobilfunkanbieter muss dann etwa Auskunft erteilen, wann und mit wem eine tatverdächtige Person telefoniert hat.
Eine solche Verpflichtung gab es in der Vergangenheit bereits: Ein EU-Gesetz führte sie 2006 in der ganzen Union ein. Allerdings hob der EuGH die Richtlinie 2014 als unzulässigen Eingriff in das Recht auf Privatsphäre auf. Eine anlasslose Speicherung der Daten von fast allen Menschen in Europa für lange Zeiträume sei mit den Grundrechten nicht zu vereinbaren. Seither urteilte der EuGH immer wieder gegen neuerliche Versuche zur Einführung der Vorratsdatenspeicherung – zuletzt erst im März.
Anzeichen für neues VDS-Gesetz verdichten sich
Ob die EU-Kommission wirklich einen neuerlichen Anlauf unternimmt, ist noch nicht entschieden. Allerdings verdichten sich die Anzeichen dafür, einzelne Staaten fordern dies bereits.
In dem Dokument, das wir veröffentlichen, ist von mehreren Optionen die Rede. Eine davon sei, auf ein neues EU-Gesetz zu verzichten, aber Mitgliedsstaaten bei der Umsetzung nationaler Regelungen zu unterstützen oder EU-weite Empfehlungen zu machen.
Wesentlich detaillierter sind hingegen die geschilderten Möglichkeiten für eine neue gesetzliche Regelung. Eine Variante ist demnach eine allgemeine Verpflichtung von Diensteanbietern zur Herausgabe von Identitätsdaten an Behörden. Das soll auch sogenannte Over-the-top-Dienste (OTT) wie WhatsApp, Instagram oder Skype einschließen. Allerdings zielt diese Variante offenbar nicht auf Verkehrs- und Standortdaten ab.
Eine weitere Option ist aus Sicht der Kommission eine generelle Speicherpflicht für Verkehrs- und Standortdaten für Provider, darunter auch OTT-Dienste, allerdings ausschließlich für Zwecke der nationalen Sicherheit. Denn diese habe der EuGH in seinem jüngsten Urteil von seinem Verbot einer allgemeinen Vorratsdatenspeicherung ausgespart, so die Rechtsmeinung der Kommission.
Eine dritte Möglichkeit, die die Kommission schildert, ist eine Speicherpflicht für Verkehrs- und Standortdaten für „schwerwiegende Verbrechen“ sowie ernste Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit. Um diese weitgehende Vorratsdatenspeicherung rechtskonform zu machen, könne sie in den zu speichernden Datenkategorien, den Zielpersonen und den Zeiträumen auf das „strikt notwendige“ eingeschränkt werden.
„EU-Staaten reiten ein totes Pferd“
Kritik an den Ideen der Kommission kommt von EU-Abgeordneten. Selbst eine „vermeintlich ‚gezielte Vorratsdatenspeicherung‘ nach den Vorstellungen der EU-Kommission könnte Millionen unschuldiger Menschen betreffen, etwa Touristen, Nutzer öffentlicher Verkehrsmittel oder gar an Mautstellen“, sagte der Piraten-Europaabgeordnete Patrick Breyer zu netzpolitik.org.
Auch die pauschale Datenspeicherung für Zwecke der nationalen Sicherheit habe der EuGH nur vorübergehend etwa zur Abwehr drohender Terrorattacken erlaubt, nun „droht die EU-Kommission sie zur Regel und zum Dauerzustand zu machen“.
Für Breyer ist keine Form der allgemeinen Vorratsdatenspeicherung grundrechtskonform. „Kein anderes Überwachungsgesetz greift so tief in unsere Privatsphäre ein wie eine unterschiedslose Vorratsspeicherung unserer Kontakte, Bewegungen und Internetverbindungen.“
Jeder neue Versuch für die Einführung der Vorratsdatenspeicherung werde scheitern, sagt auch der FDP-Europaabgeordnete Moritz Körner. „Die Mitgliedsstaaten sollten endlich erkennen, dass sie seit Jahren ein totes Pferd zu reiten versuchen. Kein Gesetzesvorschlag, der sich nicht an die strengen Vorgaben des EuGH zur Vorratsdatenspeicherung hält, wird bei den derzeitigen Mehrheitsverhältnissen im Europäischen Parlament eine Mehrheit bekommen.“
Ergänzend möchte ich darauf hinweisen, dass hingegen Kritik über die bestehende Vorratsdatenspeicherung mit Bezug auf den (digitalen) Zahlungsverkehr selten wahrzunehmen ist.
10 Jahre Speicherungsdauer nach Ende der Geschäftsbeziehungen respektive über den Tod hinaus ist Minimum im klassischen Bankensystem. Blockchain und Schattendatenbanken (Travel-Rule-Regularien, Chainanalysis) verpassen dem Ganzen nun ein Update bis in die Ewigkeit.
Die Zivilgesellschaft scheint diese Thema nicht für sich entdecken zu wollen. Warum?
Wir hatten darüber berichtet, siehe https://netzpolitik.org/2018/eu-geldwaescherichtlinie-ueberwachen-und-jahrelang-speichern/
Aber ich stimme Dir zu, dass es wirklich wenig Widerstand gab und auch wenig Berichterstattung.