Interview„Wir brauchen eine neue Vision der Digitalisierung“

Wir brauchen mehr als digitale Souveränität, nämlich eine neue Leitidee für die digitale Transformation unserer Gesellschaft, sagt die Kommunikationswissenschaftlerin Julia Pohle. Im Gespräch mit netzpolitik.org erklärt sie, warum sich diese Idee nicht auf die technologische Unabhängigkeit von den USA beschränken darf.

EU-Skyline mit Elbphilharmonie, Akropolis und Eiffelturm, dahinter Zeilen von Nullen und Einsen, darüber ein Netzwerk und der Schattenriss einer Person, die mit dem Fernglas auf die EU schaut
Das Konzept der digitalen Souveränität kann staatliche Überwachung und die Interessen der Privatwirtschaft verschleiern. (Symbolbild) – Alle Rechte vorbehalten Illustration: IMAGO/Ikon Images; EU-Skyline und Server: KI-generiert; Montage: netzpolitik.org

Hinter der Debatte um digitale Souveränität steht die Frage danach, wie der digitale Raum ausgestaltet sein sollte und wie wir mit der Tech-Dominanz der USA umgehen. Immer weniger Staaten wollen deren Übermacht weiter hinnehmen.

Wir haben darüber mit Julia Pohle gesprochen. Sie fordert eine neue Leitidee der Digitalisierung, warnt aber zugleich davor, diese mit dem Konzept der digitalen Souveränität zu verbinden. Denn damit könnten wirtschaftliche und geopolitische Interessen einiger weniger an Einfluss gewinnen. Pohle ist Co-Leiterin der Forschungsgruppe „Politik der Digitalisierung“ am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin (WZB). Die Kommunikationswissenschaftlerin arbeitet zu den Themen Globale Internet Governance sowie Europäische Digitalpolitik vor dem Hintergrund des internationalen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Wettbewerbs.

Portraitfoto von Julia Pohle
Julia Pohle, Kommunikationswissenschaftlerin am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin - Alle Rechte vorbehalten Privat

„Es gibt verschiedene Geschichten des Internets“

netzpolitik.org: Der Begriff der digitalen Souveränität ist derzeit überall zu vernehmen. Wie kam es dazu, dass wir heute alle darüber sprechen?

Julia Pohle: Das hat auch mit den Anfängen des Internets zu tun. Großen Einfluss hatte hier eine Strömung, die als Cyber- oder Internet-Exzeptionalismus bekannt ist. Sie sieht, wie der Name andeutet, das Internet als Ausnahme. Die technische Infrastruktur des Internets eröffnete demnach einen ganz neuen Raum, der sich grundlegend von anderen Kommunikationsräumen und -technologien unterscheidend.

Aus Sicht des Internet-Exzeptionalismus ist dieser Raum grenzüberschreitend, auch im territorialen Sinne. Und er ist nicht hierarchisch aufgebaut. Es gibt keine zentralen Kontrollpunkte oder Machtstellungen. Alle Menschen können hier, so der Grundgedanke, auf dem gleichen Niveau miteinander kommunizieren. Diese Idee der Offenheit und Verbundenheit haben die Urväter des Internets in seine technische Infrastruktur eingeschrieben.

Daneben gab es den Cyber-Libertarismus. Ihm zufolge gelten in diesem Raum bestimmte Freiheiten. Gut zum Ausdruck brachte das John Barry Barlows Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace. Barlow betont, dass staatliche Macht in diesem neuen Raum keine Rolle spielen dürfe. Alle Internetnutzer verteidigen ihre individuellen und kollektiven Freiheiten nach außen gegen Staaten. Diese Ideologie hat die Internetpolitik über Jahrzehnte hinweg geprägt und ist bis heute in der US-amerikanischen Politik sehr wirkmächtig.

netzpolitik.org: Die Idee, dass das Internet ein grenzenloser Ort ist, klingt doch gut.

Julia Pohle: Ja, das tut sie. Und diese Idee, ein solches grenzüberschreitendes digitales Netzwerk aufzubauen, hatten nicht nur die US-amerikanischen Gründer:innen des Internets, sondern lag auch alternativen Projekten in anderen Ländern zugrunde. Es gibt verschiedene Geschichten des Internets, nicht alle fokussieren auf die Entstehung in den USA.

Allerdings hat sich bald gezeigt, dass Staaten sehr wohl das Internet trotz seiner dezentralen Natur unter ihre souveräne Macht bringen können. Außerdem wirkte auch die Kommerzialisierung des Internets der Offenheit und Freiheit unserer digitalen Vernetzung entgegen und begünstigte damit viele der uns heute bekannten Probleme.

Wie Staaten Einfluss aufs Internet gewannen

netzpolitik.org: Wer hat zuerst Kontrolle aufs Internet ausgeübt, Staaten oder wirtschaftliche Akteure?

Julia Pohle: Genau kann man das nicht sagen. Sobald das Internet zu einem globalen Netzwerk heranwuchs, versuchten Staaten diesen Raum zu kontrollieren und zu überwachen. Etwa im Jahr 1993 kamen außerdem die ersten kommerziellen Browser auf den Markt und es wurde möglich, wirtschaftliche Transaktionen über das Internet abzuwickeln. Private Akteure wollten frühzeitig vom Netzwerkcharakter des Internets profitieren und ihre Marktmacht ausbauen.

netzpolitik.org: Wie verschafften sich Staaten Einfluss auf das Internet?

Julia Pohle: Sie hatten Einfluss darüber, wie das Internet und seine Anwendungen aufgebaut wurden. Eine wichtige Rolle spielte Anfang der 2000er-Jahre auch der Diskurs um die Informationsgesellschaft. Damals wurde dem Staat die Rolle zugesprochen, durch Deregulierung wirtschaftliche Freiheiten im Internet zu sichern. Das war der Einfluss der neoliberalen Politik, die auch aus den USA kam und gerade im Digitalbereich wirkte. Sie hat großen Einfluss darauf gehabt, wie sich die Digitalwirtschaft entwickelte.

Außerdem haben Staaten über den Weltgipfel zur Informationsgesellschaft, den die Vereinten Nationen 2003 und 2005 organisierten, die globale Koordination der Internetentwicklung beeinflusst. Der Gipfel hat internetpolitische Themen überhaupt erst in die öffentliche Debatte und auf die Agenda von Regierungen weniger entwickelter Länder gebracht. Auch ein Teil der deutschen netzpolitischen Community wurde über diesen Weltgipfel politisiert.

Staatliche Einflussnahme erfolgte aber auch durch Interventionen auf Ebene der Infrastruktur selbst, zum Beispiel durch das Blockieren bestimmter Webseiten, das Abschalten des Internets oder den Ausschluss bestimmter Gegenden und Communitys von der Internetinfrastruktur. Diese staatlichen Interventionen gab es von Anfang an, und sie nahmen über die Zeit zu.

Das Ringen um digitale Souveränität

netzpolitik.org: Springen wir in die Gegenwart: Was hat diese Ausgangssituation mit der aktuellen Forderung nach digitaler Souveränität zu tun?

Julia Pohle: Zunächst ist die Idee, dass Staaten ihre Souveränität im digitalen Raum behaupten müssen, keineswegs neu. Sie kam bereits in der Anfangszeit des Internets auf, spätestens während des Weltgipfels. Schon damals ging es den teilnehmenden Staaten darum, sich der dominanten Position der USA und der Privatwirtschaft zu erwehren.

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Die Vereinigten Staaten hatten damals gefordert, dass der Privatsektor und die technische Community die Regeln und Normen für das Internet setzt, im Sinne der Selbstregulierung. Und schon damals verlangten andere Staaten mit Verweis auf ihre Souveränität, dass sie in die Gestaltung dieser Regeln einbezogen sein sollten.

Doch die USA waren mit ihrer Ideologie eines freien und offenen Internets so einflussreich, dass sie die meisten westlichen Staaten auf ihre Seite brachten. Das Ergebnis war das Multi-Stakeholder-Prinzip, das bis heute vor allem für die Verwaltung der kritischen Infrastrukturen des Internets besteht.

Gezieltere Forderung nach digitaler Souveränität erhoben dann ab den 2010er-Jahren vor allem autoritäre Staaten: Russland, China sowie einige arabische Staaten. In China ist der Begriff „Cyber-Souveränität“ schon relativ lange in Gebrauch und ab 2010 fand er sich auch in offiziellen politischen Strategien wieder. Dahinter steht der Wunsch nach einer strikten staatlichen Kontrolle des digitalen Raums und dem Schutz vor ausländischer Einflussnahme.

Aber auch in Europa tauchte der Begriff bald auf. In Frankreich gibt es Forderungen nach technischer Souveränität bereits seit längerem. Und spätestens mit den Snowden-Enthüllungen im Jahr 2013 gewinnt der Begriff in der europäischen Politik an Bedeutung. Allerdings wird er hier natürlich anders ausgelegt als in China oder Russland.

netzpolitik.org: Inwiefern haben die Snowden-Enthüllungen zu dieser Entwicklung beigetragen?

Julia Pohle: Die Idee, dass das Internet frei ist, wurde auf einen Schlag entzaubert. Die Enthüllungen haben zum ersten Mal öffentlich vor Augen geführt, wie stark wir von digitalen Infrastrukturen und Diensten abhängig sind, die nicht unkontrollierbar sind – wie von den Cyber-Exzeptionalisten versprochen, sondern die wir in Europa nicht kontrollieren können. Das hat den Wunsch nach digitaler Souveränität verstärkt. Viele verlangten nach Grenzen im digitalen Raum, um sich sowie die eigene Unabhängigkeit und Selbstbestimmungsfähigkeit besser zu schützen.

„Es drohen mehr staatliche Macht und Überwachung“

netzpolitik.org: In der Debatte werden häufig der politische Einfluss der USA und der privatwirtschaftliche Einfluss von Big-Tech gleichgesetzt. Ist das aus Ihrer Sicht begründet?

Julia Pohle: Es sind unterschiedliche Akteure, auch wenn beide unsere digitale Kommunikation überwachen und Daten ausspähen. Gleichzeitig muss man sich klarmachen, dass US-Geheimdienste nicht nur mit anderen westlichen Geheimdiensten kooperieren, sondern auch mit kommerziellen Anbietern. Die Sicherheitsbehörde in den USA sind deshalb stark daran interessiert, die Vormachtstellung der amerikanischen Tech-Konzerne aufrechtzuerhalten. Und die amerikanische Politik hat Interesse daran, die Wirtschaftsmacht und den kulturellen Einfluss der Vereinigten Staaten weiter auszubauen.

netzpolitik.org: Wie sinnvoll ist dann der aktuelle Wunsch nach digitaler Souveränität in Europa?

Julia Pohle: Die Forderung ist nachvollziehbar. Die Frage ist nur, ob der Ruf nach Souveränität der richtige Weg ist.

Aus meiner Sicht wäre es sinnvoller, präzisere Forderungen zu stellen. Gerade auch deshalb, weil „Souveränität“ ein politisch aufgeladenes Konzept ist, das auch mehr zentrale Kontrolle und Überwachung vorsehen kann.

Tatsächlich kann hinter der Forderung nach digitaler Souveränität auch das Streben nach mehr staatlicher Macht stehen, was dem Ziel individueller Selbstbestimmung widerspricht.

„Wir brauchen eine neue Leitidee“

netzpolitik.org: Was für ein Internet sollten wir als Zivilgesellschaft heute anstreben? Wie viel staatlicher und privatwirtschaftlicher Einfluss ist gut?

Julia Pohle: Schon der Weltgipfel in den Jahren 2003 und 2005 wollte dieses Verhältnis auszutarieren. Der Multi-Stakeholder-Ansatz ist sinnvoll, er beteiligt verschiedene Akteure aus Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft und Tech-Szene daran, das Internet zu gestalten. Aber der Ansatz hat seine Schwächen, da er sich von dominanten Akteuren kapern lässt. Außerdem setzen Staaten und Unternehmen einfach außerhalb der Multi-Stakeholder-Prozesse eigene Regeln.

Wir sollten uns aber nicht nur fragen, welches Internet wir haben wollen. Sondern wir brauchen auch eine gesellschaftliche Vision, die der gesamtgesellschaftlichen digitalen Transformation zugrunde liegt. Es reicht längst nicht mehr, nur über das freie und offene Internet zu sprechen. Diese Leitidee hat ausgedient.

Es muss eine neue Leitidee her. Eine solche aber mit den Prinzipien der digitalen Souveränität zu verknüpfen, wie es die Europäische Kommission derzeit versucht, halte ich für überaus problematisch. Nicht nur, weil der Begriff so viele, auch widersprüchliche Interessen vermengt. Sondern weil er darüber hinaus wirtschaftliche und geopolitische Interessen verdeckt, die mit den Interessen der Zivilgesellschaft unvereinbar sind. Und es besteht die Gefahr, dass diese Interessen unter dem Deckmantel einer wertebasierten Digitalpolitik an Einfluss gewinnen.

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12 Ergänzungen

  1. Das Vertrauen ist weg, denn gebrochen ist gebrochen.
    Die Politiker fordern Überwachung. Der Staat und einige Gewerkschaften fordert 24/7 Kontrolle. Die Firmen wie die Internetanbieter filtern heimlich. Alle haben das „go dark“ Schlüsselloch- Syndrom! Und mit der KI gehts massenhaft einfach flüssiger.
    Bleiben nur die privaten und die Vereine, die jedoch der Staat auch bald kontrollieren oder manipulieren wird und wenn dort nur der Staatstrojaner eingeschleust wird.
    Ja, ja! So sind die Astreinen.

  2. Digitalisierung ist ja so viel mehr als nur Internet. U.a die Jobs in Büro und Industrie die von KIs ersetzbar sind. Mit folgen für Arbeitsmarkt und soziale Ungleichheit usw. Neue Elitenbildung während andere sozial absteigen werden.

    Die Öffentlichkeit mobilisieren ist eben mit den Netzpolitik Nerd Themen schwer aber wenn man die ganze soziale Komponente mit hinzu nimmt dann ergibt sich ja ein viel größeres Bild. Wenn KI bald Intelligenter ist als jeder einzelne Durchschnittsmensch, diese Ersetzbarkeit, diese Austauschbarkeit die entsteht. Das wird doch erheblichen Einfluss auf den Sozialen Status, Einkommen und Lebensqualität der Menschen haben und zwar ganz direkt im Alltag. Vor allem auch jener Menschen die sich bisher kaum mit Digitalisierung beschäftigt haben.

    Ich denke der Schlüssel dazu, das man mehr Menschen für eine andere Digitalpolitik mobilisieren kann. Der Schlüssel dazu findet sich indem man das Digitale direkt mit der Sozialen Frage in Verbindung bringt. Das ganze also aus einem ganzheitlichen Blickwinkel betrachtet und kommuniziert und somit auch eine Breitenwirkung erzielen kann welche auch für Menschen außerhalb der Digital-Nerd Szene daher überzeugender ist und somit mehr Zivilgesellschaftliches Mobilisierungspotential entfaltet. Ich denke da ist noch viel Potential das Netzpolitisch bisher noch nicht erschlossen worden ist.

  3. Allgemein tolles Interview. Empfinde ich als Bereicherung der übrigen Artikel.

    Der letzte Absatz führt imho auch einen neuen Gedanken ein, den ich gerne mit ein paar Beispielen untermauert hätte. Was ist nun genau damit gemeint? Der digitale Euro? Die Verwaltung – und wenn ja welche, denn die bspw. französischen Softwareprojekte, die ich gesehen habe, sind hier ja insoweit souverän als dass die Software selbst geschrieben *und* quelloffen bereitgestellt wird. Entsprechend kann es sich um diese schwerlich handeln.

    Und noch eine kleine redaktionelle Anmerkung:
    Der Link bei »ein politisch aufgeladenes Konzept ist« verweist auf exakt diesen Artikel und keinen anderen. Soll das so?

    1. Danke für die Ergänzung. Der letzte Absatz ist offen, denn eine Antwort darauf muss in einer öffentlichen Debatte gefunden werden.

      Der Link führt zu einem Interview mit Thorsten Thiel über das Konzept der digitalen Souveränität.

  4. „Wir haben darüber mit Julia Pohle gesprochen. Sie fordert eine neue Leitidee der Digitalisierung, warnt aber zugleich davor, diese mit dem Konzept der digitalen Souveränität zu verbinden.“

    Aha!

    Meine digitale Souveränität geht mir über ihre Leitidee. Ich denke, dass ich am Ideal meiner digitalen Souveränität schon sehr nahe bin, da ich das OS GNU/Linux (konkret: Debian mit der Benutzeroberfläche Gnome) benutze, die Empfehlungen von PRISM Break (Link: https://prism-break.org) beachte, die Festplatte mit LUKS verschlüsselt habe und meine E-Mail Kommunikation für den Austausch mit vertraulichen Infos Ende-zu-Ende verschlüsselt erfolgt. Da ich meine Bewegungsdaten nicht preisgeben will, ist mein Mobiltelefon (nicht Smartphone) zu 99 Prozent ausgeschaltet und meine variablen Lebenshaltungskosten bezahle ich ausschließlich in bar (wann, wo ich wieviel Geld für was ausgebe geht NIEMANDEN etwas an).

    Carpe diem.

    1. Hi, was leider in dem Interview keinen Platz mehr gefunden hat, ist genau dieses interessante Verständnis von digitaler Souveränität bei uns in Deutschland: dass man digitale Souveränität auch als Einzelperson erreichen kann, also individuelle digitale Souveränität. Ich habe mich lange damit auseinandergesetzt, warum in Deutschland in der öffentlichen Debatte digitale Souveränität mit Datenschutz, Verschlüsselung etc. verknüpft wird, aber in den meisten anderen Ländern (inkl. Frankreich) und auf der EU-Ebene nicht. Das hat wohl wirklich was damit zu tun, dass wir nur in Deutschland das Konzept der „Souveränität“ nicht auf Kollektive (Staat, Wirtschaft, Gesellschaft, Nutzergruppen), sondern auf einzelne Personen anwenden („XY geht souverän mit etwas um“). Die Frage ist aber auch, ob wir jeder einzelnen NutzerIn zumuten können, selbst seine/ihre digitale Selbstbestimmung zu verteidigen oder ob wir nicht gesellschaftliche und politische Lösungen brauchen, die das einfacher bzw. zum Standard machen. VG, Julia

      1. Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland Art 10
        „(1) Das Briefgeheimnis sowie das Post- und Fernmeldegeheimnis sind unverletzlich.
        (2) Beschränkungen dürfen nur auf Grund eines Gesetzes angeordnet werden. Dient die Beschränkung dem Schutze der freiheitlichen demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes, so kann das Gesetz bestimmen, daß sie dem Betroffenen nicht mitgeteilt wird und daß an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt.“

        Der Absatz (2) wird durch die Staatsgewalten meiner Meinung nach inzwischen WILLKÜRLICH angewendet. Eine zuverläassige Kontrolle durch die Judikative findet auch nicht statt, da die Besetzung der Gerichte (BVerfG s. Art. 93 GG Abs. (2) und alle anderen Bundesgerichte s. Art. 95 GG Abs. (2)) eben dies NICHT zulässt; und genau darin liegt die Krux.

        An anderer Stelle habe ich hierzu einen kritischen Kommentar abgegeben, welcher von der Redaktion oder wem auch immer als nicht veröffentlichbar galt.

        Zweiter und letzter Versuch: Das GG ist gem. Art. 146 durch eine vom Volk zu beschließende Verfassung abzulösen. In diese Verfassung gehören meiner Meinung nach folgende Verfassungsartikel hineingeschrieben:

        a) Grundrechte sind nicht verhandelbar, nicht aussetzbar und nicht einschränkbar.
        b) Eine Änderung, Hinzufügung oder Aufhebung von Verfassungsartikeln ist mehrheitlich von mindestens der Hälfte aller wahlberechtigten Bundesbürger zu beschließen. *)

        *) Das GG ist seit inkrafttreten am 23. Mai 1949 inzwischen über vierzig Mal geändert worden und das meist zum Nachteil vom Volk.

      2. Nur ist diese individuelle Souveränität in einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft wie unserer ohnehin unmöglich.

        Das ist eine sinnfreie Diskussion, die nur ablenkt. Damit ist sie in Deutschland natürlich so beliebt wie verbreitet.

        1. „Wer etwas erreichen will, findet Wege.
          Wer etwas verhindern will, findet Gründe.“

          Natürlich ist die individuelle digitale Souveränität vollumfänglich möglich. Geht ganz einfach: man ist nur analog unterwegs. Und nun?

          Und das Beste ist, man kann digital sehr wohl auch seine Souveränität behalten. Wie das geht, kann ich auf Anfrage sogar beantworten!!!

          1. „Natürlich ist die individuelle digitale Souveränität vollumfänglich möglich. Geht ganz einfach: man ist nur analog unterwegs. Und nun?“

            Nun könnte man erkennen, dass man noch immer das Subjekt digitaler Prozesse von Dritten ist, wenn man sich nicht vollständig aus Gesellschaft und Staat ausklinkt. Letzteres ist übrigens nicht einfach und schnell mal tödlich.

  5. Interessanter Beitrag, gern gelesen. Eine Frage bitte an Euch und Julia Pohle:

    Wie schätzt Ihr in diesem Zusammenhang den Global Digital Compact ein?
    https://www.un.org/global-digital-compact/en

    Meine ersten Gedanken dazu: Es ist noch eine sehr junge internationale Vereinbarung. Dennoch wurden meines Erachtens viele oben angesprochenen Punkte auf weltweiter Bühne, über-staatlich angegangen. Natürlich lässt diese Vereinbarung viel Spielraum zum Gestalten. Ich war überrascht, wie viel Einigkeit in Sachen (digitale) Menschen-Rechte im ersten Anlauf bereits verankert werden konnten. (Bei der Bundes-Regierung in spe ist davon allerdings wenig bis gar nix bisher angekommen.) Leider ein großes Kommunikations-Problem des Global Digital Compact. Dass er auch in Eurem Gespräch keine Rolle spielte, zeigt mir, dass er noch viel zu wenig bekannt ist. Oder Absicht Eurerseits?

    Besten Dank.

    1. Danke für die Nachfrage. Für mich ist der Global Digital Compact (GDC) nur ein Dokument von einer langen Reihe an zwischenstaatlichen Erklärungen zum Internet, der digitalen Transformation etc. Die WSIS-Erklärungen, die in Interview kurz erwähnt wurden, waren der Anfang und seitdem gibt es immer wieder Verhandlungen und Dokumente. Dass dabei der große Wurf einer globalen Vision für die Digitalisierung herauskommen könnte, war unwahrscheinlich, da in zwischenstaatlichen Verhandlungen zu viele konträre Ideen und Interessen aufeinanderstoßen. Bereits in den WSIS Dokumenten gab es viele Prinzipien, die auf (digitale) Menschenrechte Bezug nehmen. Das liegt auch daran, dass es in Verhandlungen der Vereinten Nationen ja immer schon Dokumente und Formulierungen gibt (gerade zu Human Rights), die lange verhandelt wurden und auf die man einfach Bezug nehmen kann, ohne das ganze Fass erneut aufzumachen. Das Problem daran ist nur, dass 1) Länder sehr unterschiedliche Auffassungen haben, was diese Menschenrechte genau bedeuten und was es für Maßnahmen braucht, um sie zu schützen bzw. wie weit man gehen kann, ohne sie zu verletzen (also der Gestaltungsspielraum, den Du auch erwähnst); und 2) dass etliche Regierungen und Unternehmen zwar auf der einen Seite diese Dokumente mittragen, aber dann einfach tun, was sie für richtig halten. Auch der GDC hat ja keinerlei bindende Wirkung.
      Aber tatsächlich war ich auch über das geringe Interesse überrascht, mit dem auch viele Vertreter der Internet Governance Community in Deutschland und weltweit auf die GDC-Verhandlungen reagiert haben. Die Gründe dafür sind sicherlich vielfältig… eine gewisse Resignation und Müdigkeit, was solche VN-Prozesse angeht; Frustration mit dem intransparenten Multistakeholder-Verfahren (völlig unklar, wie Beiträge zum Prozess wirklich in die Verhandlungen einfließen); etc.

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