Global Majority HouseWie Digital-Aktivist:innen bei der EU für globale Perspektiven werben wollen

Ein Zusammenschluss globaler Digital-NGOs will Einfluss auf die Tech-Regulierung der EU nehmen. Wir haben mit der pakistanischen Aktivistin Nighat Dad über das Vorhaben und die Herausforderungen der Plattformregulierung gesprochen. Aus ihrer Sicht muss die EU gerade jetzt mehr globale Verantwortung für digitale Grundrechte übernehmen.

Eine graue Betonwand, auf der eine stilisierte Weltkarte in Poligon-Optik zu sehen ist
Das Global Majority House soll in Brüssel für eine andere Sicht auf die Welt werben. – Alle Rechte vorbehalten Marjan Blan

Gemeinsam mit anderen Aktivist:innen aus aller Welt will Nighat Dad in Brüssel ein „Global Majority House“ errichten, also ein „Haus der Globalen Mehrheit“. Der Begriff ist eine Sammelbezeichnung für Menschen mit afrikanischem, asiatischem, indigenem, lateinamerikanischem oder ethnisch gemischtem Hintergrund, die etwa 85 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen. Laut Oxford Dictionary umfasst er alle Menschen, die nicht als weiß gelesen werden.

Wir haben mit Nighat Dad über das Global Majority House, die Fallstricke der Internetregulierung und verengte Sichtweisen der Europäischen Union gesprochen. Nighat ist Juristin und Aktivistin aus Pakistan. Mit ihrer Nichtregierungsorganisation Digital Rights Foundation kämpft sie gegen geschlechtsbasierte Diskriminierung und für ein besseres Internet für alle. Sie ist Mitglied des Oversight Board von Meta, einem externen Gremium, das über Streitfälle in der Moderationspolitik des Konzerns entscheidet. 2015 wurde Nighat Dad vom Time Magazine als „Next Generation Leader“ gekürt.

Zensur unter dem Deckmantel der Internetregulierung

A woman with glasses
Nighat Dad - Alle Rechte vorbehalten Digital Rights Foundation

netzpolitik.org: Bevor wir über das Global Majority House sprechen, kannst du uns ein wenig über eure Arbeit mit der Digital Rights Foundation erzählen?

Nighat Dad: Wir sind eine digitale Menschenrechtsorganisation und arbeiten seit fast 15 Jahren gegen Online-Belästigung, die sich gegen Frauen und geschlechtliche Minderheiten richtet. Wir haben zum Beispiel eine Hotline eingerichtet, um Betroffene zu unterstützen. In den vergangenen Jahren hat sich unsere Arbeit über Pakistan hinaus ausgeweitet. Wir engagieren uns inzwischen in ganz Südasien und beteiligen uns an den globalen politischen Diskussionen um Technologie, Plattformen und Menschenrechte. Das hat sich organisch entwickelt und uns dazu gebracht, einen breiteren Ansatz zur Bekämpfung von Online-Gefahren zu verfolgen.

netzpolitik.org: Wie hat sich euer Schwerpunkt verschoben?

Nighat Dad: Wir haben erlebt, dass Regierungen in unserer Region Vorschriften unter dem Vorwand erlassen haben, dass sie gegen Online-Gefahren wie Desinformation, Terrorismus und Cyberkriminalität helfen sollen. Bei genauerer Betrachtung merkt man, dass diese Gesetze oft dazu benutzt werden, Widerspruch zu unterdrücken und die freie Meinungsäußerung im Internet einzuschränken.

Deshalb untersuchen wir nun beides: Erstens, wie Plattformen weltweit gegen Online-Gefahren vorgehen. Das ist besonders wichtig, weil diese meist von Menschen außerhalb unseres Kontextes betrieben werden, Zweitens prüfen wir die von unseren Regierungen erlassenen Vorschriften kritisch. Dazu gehört auch der Blick auf die oft undurchsichtige Zusammenarbeit zwischen Regierungen und Plattformen, von der die Öffentlichkeit nur selten erfährt.

Plattformen müssen sich auf unterschiedliche Kontexte einlassen

netzpolitik.org: Bei diesen Themen drängt sich eine globale Perspektive geradezu auf, oder?

Nighat Dad: Wir mussten feststellen, dass diese mächtigen Akteur:innen uns manchmal erhören und manchmal nicht. Andere Player wie die EU können sich bei diesen Fragen weltweit Gehör verschaffen. Wir leben hier in einer Region, in der sich sogenannte Demokratien oder Semi-Demokratien zunehmend in autokratische Regime verwandeln und man fragt sich: Welche Rolle können wir hier eigentlich spielen? Also schaut man in Regionen, die noch demokratische Werte hochhalten – um Hoffnung zu schöpfen, aber auch, um Lehren zu ziehen, die sich auf unseren Kontext übertragen lassen. Wir wollen herausfinden, wie wir Einfluss auf das digitale Ökosystem nehmen können, insbesondere mit Hinblick auf die Rechenschaftspflichten von Plattformen und Regierungen.

netzpolitik.org: Demokratische Plattformregulierung findet ja immer auf einem schmalen Grat statt: Auf der einen Seite gibt es die Notwendigkeit, zur Schadensbegrenzung einzugreifen. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr von autokratischer Vereinnahmung und Overblocking. Wie finden wir das richtige Gleichgewicht?

Nighat Dad: Ich habe lange den Standpunkt vertreten, dass Regierungen und Staaten private Akteure zur Rechenschaft ziehen müssen. Und ich vertrete diese Ansicht immer noch, weil sie nun mal die einzigen sind, die die Macht dazu haben. Aber gleichzeitig müssen wir uns fragen: Wer überwacht die Wächter? Auch die Staaten selbst müssen zur Rechenschaft gezogen werden.

Ich glaube, dass dieses Gleichgewicht nur durch die Einbeziehung verschiedener Akteure erreicht werden kann. Die Rolle von zivilgesellschaftlichen Organisationen, Forscher:innen und Aktivist:innen sehe ich darin, diese ausgleichende Kraft zu sein. Wir sind an einem Punkt angelangt, an dem eine Regulierung unumgänglich ist, denn die Menschen auf der ganzen Welt haben die unkontrollierte Macht der Plattformen satt. Aber es ist wichtig, dass diese Regulierungen gut sind. In diesem Punkt liege ich oft über Kreuz mit Leuten aus der EU oder anderen Teilen der Welt, die einen starken Rechtsstaat haben.

netzpolitik.org: Warum das?

Nighat Dad: Menschen aus Regionen, in denen die Menschenrechte geachtet werden und in denen Regierungen zur Rechenschaft gezogen werden können, haben oft eine andere Sicht auf Regulierung als wir. Das mag in ihren Jurisdiktionen funktionieren, aber in unseren nutzen Regierungen dieselbe Sprache, um Andersdenkende zum Schweigen zu bringen. Ich glaube, das richtige Gleichgewicht kommt durch die Achtung unterschiedlicher Jurisdiktionen und kontextueller Gegebenheiten. Plattformen können bei Meinungsfreiheit und Online-Gefahren keinen One-Size-Fits-All-Ansatz mehr fahren.

Außerdem ist das Argument immer schwerer zu halten, dass US-Plattformen eine Politik der Meinungsfreiheit verfolgen, die auf dem Ersten Verfassungszusatz beruht. Wir haben erlebt, wie Soziale Medien schädliche Narrative verstärken können und wie Eigentümerschaft und Governance-Entscheidungen bei Plattformen durch persönliche oder politische Interessen geprägt sein können. Wenn eine Plattform wirklich global sein will, muss sie ein breiteres Spektrum an Werten und Rechtstraditionen widerspiegeln, nicht nur die eines Landes. Andernfalls besteht die Gefahr, dass sie nur einem begrenzten Publikum dient und nicht den vielfältigen globalen Communitys, die sie zu vertreten vorgibt.

Zu wenig Bewusstsein für globale Auswirkungen von EU-Regulierung

netzpolitik.org: Lass uns über eure Pläne für das Global Majority House sprechen. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man sagen, dass Pakistan weit weg von Europa ist. Wie wirken sich EU-Regelungen wie der Digital Services Act (DSA), mit dem die EU große Plattformen wie Instagram und TikTok reguliert, auf Menschen in Ländern der Globalen Mehrheit aus?

Nighat Dad: Die EU muss verstehen, dass ihre Vorschriften globale Auswirkungen haben. Nehmen wir zum Beispiel die Datenschutzgrundverordnung. Sie ist zum globalen Goldstandard für den Datenschutz geworden und hat auch den Datenschutzrahmen in unserer Region erheblich beeinflusst.

Banner mit Text: Koalitionsvertrag so: Überwachung und Rückschritt Ich so: Spende an netzpolitik.org

Ähnlich verhält es sich mit dem Digital Services Act. Er könnte dazu führen, dass Plattformen bestimmte Anforderungen weltweit umsetzen, nur weil sie in der EU dazu verpflichtet sind. Das ist etwas, was wir begrüßen würden, insbesondere wenn es um die Transparenz-Auflagen für Plattformen geht. Wir hoffen auch, dass wir mit dem Global Majority House Solidarität finden und Koalitionen schmieden werden, die uns dabei helfen, solche Standards bei mächtigen Akteuren auf der ganzen Welt durchzusetzen.

netzpolitik.org: Manche nennen das den „Brüssel-Effekt“. Hast du das Gefühl, dass sich die politischen Entscheidungsträger:innen der EU über die Verantwortung bewusst sind, die mit der Macht einhergeht, globale Standards zu setzen?

Nighat Dad: Ich glaube nicht. Und das sage ich in aller Höflichkeit …

netzpolitik.org: … das wäre gar nicht nötig.

Nighat Dad: Aber ich meine es ernst. Ich habe großen Respekt vor dem, was die EU tut. Aber manchmal wird implizit angenommen, dass die EU bei der technischen Regulierung vorangeht und der Rest der Welt dann einfach ihre Standards übernehmen kann. In unseren Regionen sind viele mit europäischen Werten aufgewachsen und werden weiterhin von ihnen beeinflusst. Die EU trägt auch deshalb eine Verantwortung, die globalen Auswirkungen ihres Handelns zu berücksichtigen.

Es ist wichtig zu erkennen, dass die EU-Standards zwar stark, aber nicht perfekt sind. Es gibt immer Raum für Wachstum und Lernen von anderen. Viele von uns, die an der Einrichtung des Global Majority House beteiligt sind, bringen zum Beispiel umfangreiche Kenntnisse im Bereich systemischer Risiken und dem Umgang mit Krisen mit. Ich bin fest davon überzeugt, dass das Global Majority House ein Gewinn sowohl für uns als auch für die EU ist, um sich auszutauschen und zusammenzuarbeiten.

“Eine Möglichkeit, direkt mit uns zu sprechen und nicht über Dritte“

netzpolitik.org: Erzähl uns etwas über die anderen Organisationen, die hinter der Initiative stehen.

Nighat Dad: Wir haben 7amleh, das Arab Center for Social Media Advancement, das sich für die digitalen Rechte der palästinensischen und arabischen Zivilgesellschaft einsetzt. Es gibt das Myanmar Internet Project, ein Kollektiv von Forscher:innen, Praktiker:innen und Anwält:innen. What to Fix ist eine gemeinnützige Organisation, die sich für die Integrität des Internets einsetzt. Die London Story Foundation ist eine zivilgesellschaftliche Organisation von Mitgliedern der indischen Diaspora, die sich für Gerechtigkeit, Frieden und kollektives Handeln gegen Menschenrechtsverletzungen einsetzt. Und wir haben die Bürgervereinigung „Zašto ne“, das bedeutet „Warum nicht“, die sich für eine sichere und stabile Gesellschaft in Bosnien und Herzegowina und in der gesamten Balkanregion einsetzt.

Wir haben also ganz unterschiedliche Organisationen hinter diesem Projekt. Das Global Majority House soll uns helfen, Vorschriften und politische Maßnahmen aus unserer eigenen Perspektive zu betrachten und nach Wegen zu suchen, für inklusive Ansätze aus der Perspektive der Globalen Mehrheit zu werben. Gleichzeitig bietet es politischen Entscheidungsträger:innen die Möglichkeit, direkt mit uns zu sprechen und nicht über Dritte, die in unserem Namen sprechen.

netzpolitik.org: Soll das Haus eigentlich ein physischer Raum werden, ein Haus aus Stein und Glas?

Nighat Dad: Das ist die Idee. Viele von uns, die zur globalen Mehrheit gehören, bringen oft ihre Perspektiven in die verschiedensten Diskussionen ein, zum Beispiel bei Anhörungen. Aber wir sind dort nur Gäste: Wir werden vielleicht gehört, aber nicht wirklich einbezogen. Meist ist es so, dass wir unseren Beitrag machen und dann beiseitetreten müssen, sodass wir nicht wissen, ob und wie er aufgenommen wird. Wir wollen mit dem Global Majority House einen Raum zurückerobern, in dem wir ohnehin bereits sind. Wir müssen gar nicht alle auf einmal da sein, sondern bestehen als Gemeinschaft, die Sinn stiftet. Je mehr Organisationen und Einzelpersonen der Globalen Mehrheit nach Brüssel kommen, desto mehr wird dieser Raum ein Gefühl der Zugehörigkeit und Unterstützung bieten. Es soll ein Ort sein, an dem sie wissen, dass sie nicht nur willkommen sind, sondern dass es auch ihnen gehört.

Europa muss jetzt voranschreiten

netzpolitik.org: Du hast Partnerschaften und Solidarität erwähnt. Seid ihr in Kontakt mit anderen Organisationen der digitalen Zivilgesellschaft aus Europa, wie zum Beispiel EDRi oder Access Now?

Nighat Dad: Auf jeden Fall. Wir haben viele von ihnen zu einem Roundtable-Gespräch eingeladen, den wir im Dezember organisiert haben, und es war ein sehr fruchtbarer Austausch. Um das klar zu sagen: Wir kommen nicht nach Brüssel, um die Arbeit bestehender zivilgesellschaftlicher Gruppen nachzuahmen, die sich mit dem Digital Services Act befassen. Es geht uns dabei auch nicht nur um den DSA. Als Global Majority House versuchen wir, unseren Platz im breiteren Ökosystem der Regulierung in Europa zu finden, und wir werden uns dort engagieren, wo wir unsere Perspektiven und Beiträge für relevant halten. Wir glauben, dass wir die Arbeit bestehender Organisationen ergänzen können, indem wir unsere Erfahrungen aus der Praxis, regionales Fachwissen und die Sichtweise der Globalen Mehrheit einbringen.

netzpolitik.org: Was sind die nächsten Schritte für das Global Majority House und wie können Menschen in der EU euer Anliegen unterstützen?

Nighat Dad: Als Global Majority House schauen wir gerade ganz genau auf die Entwicklungen rund um die Durchsetzung des Digital Services Act, die sich verändernde geopolitische Dynamik und die Reaktionen der Plattformen. Das ist gerade ein entscheidender Moment, der gemeinsames Handeln erfordert. Als nächstes wollen wir unseren Austausch mit politischen Entscheidungsträger:innen vertiefen, die überregionale Zusammenarbeit stärken und die Erfahrungen und das Fachwissen unserer Gemeinschaften in die Diskussionen zur globalen digitalen Governance einbringen.

Für unsere europäischen Verbündeten ist es ein entscheidender Zeitpunkt. Der Kampf für eine Regulierung, die inklusiv ist und die Rechte aller Menschen achtet, wird immer komplexer und dringlicher. Wir erleben gerade drastische Fördermittelkürzungen, jetzt müssen die Europäer:innen mit Mut und Überzeugung voranschreiten, um sich für digitale Rechte einzusetzen, insbesondere durch die Unterstützung von Global-Majority-Gruppen. Unsere Arbeit ist nicht nur für unsere Regionen wichtig, sondern für den gemeinsamen Erfolg von uns allen.

Wir sind der festen Überzeugung, dass wir nur dann sinnvoll vorankommen können, wenn wir zusammenarbeiten. Wir alle können gegenseitig von unseren Stärken und Erfahrungen profitieren, gerade von solchen, die aus der Zusammenarbeit Communities entstehen, die an vorderster Front handeln. Die europäische Zivilgesellschaft, politische Entscheidungsträger:innen und Institutionen können uns unterstützen, indem sie uns direkt zuhören und inklusive Räume schaffen, in denen wir gemeinsam gestalten können. Und wir müssen anerkennen, dass kein einzelner Akteur alle Antworten hat. Wir können nur dann erfolgreich sein, wenn wir nicht mehr nur in Silos arbeiten, sondern Solidarität aufbauen, die auf gegenseitigem Respekt, gemeinsamem Lernen und echter Zusammenarbeit beruht.

1 Ergänzungen

  1. Ich glaube kaum das sich die US Tech Bros an die EU Regulierung halten werden oder das die EU diese in den USA oder anderswo durchsetzen kann oder will.

    Vermutlich wäre es besser wenn die EU statt dessen voll dezentral geht. Mastodon für alle Behörden und kommunen Pflicht wird und die Verwendung von X für öffentliche Einrichtungen untersagt wird. Wenn ein großer Block dezentral gehen würde, da würden vermutlich viele User dann mitziehen.

    Aber ich befürchte eher das die EU dazu unwillig ist. Große Konzerne kann man halt einfacher nutzen um die Bevölkerung per Chatkontrolle zu überwachen als dezentrale Angebote.

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