Verhandlungen bei der WTODigitalwirtschaften ärmerer Länder sollen weiter schutzlos bleiben

Die Verhandlungen zum Verbot von Zöllen auf elektronische Übertragungen am Rand der Welthandelsorganisation gehen weiter. Ein geleaktes Dokument zeigt den aktuellen, festgefahrenen Stand. Vor allem die Digitalwirtschaft ärmerer Ländern könnte unter der Dominanz der großen Digital-Exporteure leiden. Manche verfolgen einen neuen Ansatz.

Mehrere Menschen sitzen in einem Computerraum
Indien exportiert als Schwellenland sehr viele digitale Güter. CC-BY-SA 3.0 Maverickmaddy

Die größten Technologieunternehmen der Welt sitzen in den USA und China. Für diese Unternehmen nimmt die Bedeutung von ärmeren Ländern wie Indien oder Nigeria immer weiter zu: Einerseits als Lieferanten von Daten, andererseits als Abnehmer für die daraus erstellten Produkte. Das hat einige Nachteile für dortige Tech-Unternehmen und Regierungen.

Die Unternehmen müssen mit internationalen Riesen konkurrieren, mit deren Kapital, Know-How und lang gewachsenen und gut gepflegten Lobbybeziehungen. Für die Regierungen fallen damit Steuereinnahmen weg, denn internationale Unternehmen bezahlen oft dort Steuern, wo sie am wenigsten bezahlen müssen.

Von 95 Ländern, die sich bei der Welthandelsorganisation (WTO) als Entwicklungsländer bezeichnen, importieren 86 mehr digitalisierbare Waren wie Bücher, Filme und Software als sie exportieren. Das stellte 2019 die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD) in einer Studie fest.

Wenn Regierungen den Einfluss ausländischer Unternehmen auf den eigenen Markt als zu groß empfinden, dann greifen gern sie zu einem Werkzeug mit Tradition: zu Zöllen. Zölle sind Abgaben auf Waren, die beim Übertreten der Grenze erhoben werden. Damit werden indirekt heimische Unternehmen unterstützt, da diese die Zölle nicht bezahlen müssen. Für viele ärmere Länder sind Zölle auch nach wie vor eine wichtige Einnahmequelle: Während sie für die USA nur ein Prozent der Staatseinnahmen ausmachen, sind es zum Beispiel für Bangladesch oder Namibia beinahe dreißigmal so viel. Das stellte unter anderem ein Bericht des Third World Networks fest.

Das Problem: Zölle auf elektronische Übertragungen sind seit 1998 nicht erlaubt.

Damals unterzeichneten die Mitgliedsstaaten der WTO das sogenannte Moratorium. Darin verpflichteten sie sich, „die aktuelle Praxis, keine Zollabgaben auf elektronische Übertragungen zu erheben“, beizubehalten.

Was genau das heißt, weiß niemand. „Keine der drei Schlüsselbegriffe ‚aktuelle Praxis‘, ‚Zollabgaben‘ oder ‚elektronische Übertragungen‘ wurde definiert. Trotz diverser Seminare, Workshops und Arbeitsprogramme gibt es immer noch keine Klarheit, was sie bedeuten“, so der Bericht des Third World Networks.

Klar ist aber, dass die Menge – und damit der Wert – der vom Moratorium eingeschlossenen Produkte in den letzten zwanzig Jahren rapide angestiegen ist. Die UNCTAD-Studie geht davon aus, dass 2017 mehr als die Hälfte der digitalisierbaren Waren auch digital gehandelt wurden, weltweit im Wert von über 139 Milliarden Dollar. Ärmeren Ländern gingen dadurch bis zu acht Milliarden US-Dollar an Zolleinkünften verloren – und die Zahl steigt jedes Jahr.

Showdown bis nach Corona vertagt

Damit nicht genug. Eine Gruppe von Staaten, darunter die USA, Japan, China und die EU, will das Moratorium dauerhaft festschreiben. Seit 2017 verhandeln sie am Rand der WTO – aber nicht im Rahmen von offiziellen Verhandlungen. Denn damit neue Handelsregelungen in den WTO-Kanon aufgenommen werden, braucht es Einstimmigkeit, und die gibt es momentan nicht. So ist unklar, was die Joint Statement Initiative (JSI) irgendwann mit dem Ergebnis ihrer Verhandlungen machen will.

Ende 2019 sah es schon einmal so aus, als ob ein Showdown kurz bevorstehen würde. Damals drohten Indien und Südafrika, das Moratorium nicht weiter zu verlängern. Das müssen eigentlich alle unterzeichnenden Staaten alle zwei Jahre tun.

Warum ausgerechnet diese beiden Staaten? Laut der schon erwähnten UNCTAD-Studie importiert Indien von allen Entwicklungsländern am zweitmeisten digitalisierbare Güter, Südafrika am viertmeisten.

Schließlich wurde ein Kompromiss erreicht, das Moratorium vorläufig bis zur nächsten Minister*innenkonferenz der WTO zu verlängern. Die sollte im Sommer 2020 in Kasachstan stattfinden, dann kam Corona.

Staaten könnten für immer eingeschränkt werden

Ein permanentes Moratorium könnte neben finanziellen Einbußen auch noch andere negative Folgen für ärmere Länder haben. Der Bericht des Third World Networks warnt, dass ein permanentes Moratorium Entwicklungsländer „in Handschellen und mit Augenbinde ins finanzielle Unbekannte führen“ würde:

Der Appell der Befürworter*innen, sie würden ‚E-Commerce für die Entwicklung’ liefern, aus dem kleine und mittlere Unternehmen Vorteil ziehen würden, ist eigennützig und zynisch.

Ein permanentes Moratorium würde den politischen Spielraum von Entwicklungsländern, „mit dem sie auf den rapide wachsenden und schlecht definierten Handel mit digitalisierten Gütern reagieren können, stark einschränken“. Das sieht auch Rashmi Banga, Autorin der UNCTAD-Studie, so: „Das Moratorium zu Zöllen auf elektronische Übermittlungen permanent zu machen, wird den Globalen Süden für immer dieses politischen Spielraums berauben und kann ihn für digitale Produkte und Technologien für immer von den Industrieländern abhängig machen.“

Dabei betont der Bericht des Third World Network auch, dass die ärmeren Staaten der Welt sehr unterschiedliche Wirtschaften haben. Manche würden vielleicht auch ohne Moratorium keine Zölle erheben, das sollte aber ihre Entscheidung bleiben. Dem stimmt auch Professor Abhijit Das, Leiter des indischen Zentrums für WTO-Studien, zu:

Wir sollten nicht annehmen, dass, sobald das Moratorium entfernt wird, Länder automatisch anfangen werden, Zölle auf elektronische Übertragungen zu erheben. Länder werden tun, was für sie gut ist. Wir sollten ihnen dazu die Chance geben, indem wir das Moratorium entfernen.

Die Seiten stehen sich gegenüber

Momentan sind die Fronten festgefahren. Die JSI verhandelt weiter. Inzwischen waren 86 Staaten an den Verhandlungen beteiligt, aber nur ein kleiner Teil davon wirklich aktiv. Das zeigt sich auch in einem „konsolidierten Verhandlungstext“ vom Dezember. Der Text ist nicht öffentlich, wurde aber im Februar geleakt. An den verschiedenen Vorschlägen für Formulierungen lässt sich ablesen, wer bei den Verhandlungen den höchsten Redeanteil haben dürfte: Japan, die USA und China, gefolgt vom Vereinigten Königreich, der EU, Südkorea und Brasilien.

Karte mit den Mitgliedern der E-Commerce-Verhandlungen
Gelb: Mitglied der E-Commerce-Verhandlungen, Blau: WTO-Mitglied und kein
Mitglied der E-Commerce-Verhandlungen, Grau: Kein (volles) WTO-Mitglied.
Stand Februar 2021. - CC-BY-SA 3.0 Karte: Wiz9999, Bearbeitung: netzpolitik.org

Auf Anfrage von netzpolitik.org sagte ein Vertreter der japanischen Vertretung in Genf, dass das Moratorium für Unternehmen und Konsument*innen Stabilität und Vorhersehbarkeit beim globalen digitalen Handel bieten würde. Das sei förderlich für die umfassende und nachhaltige Entwicklung der Welt. Die Vertretungen von USA, EU und China antworteten nicht auf unsere Anfrage.

Die EU trägt den Kurs zum permanenten Moratorium mit ihrem eigenen Entwurf mit, setzt sich allerdings auch dafür ein, dass Datenschutz und Privatsphäre als grundlegende Rechte mit aufgenommen werden. Das ist Indien und Südafrika aber egal, meint Parminder Jeet Singh, Leiter der indischen NGO IT for Change, im Gespräch mit netzpolitik.org: „Im Allgemeinen sollte das die indische und südafrikanische Position nicht verändern, weil für diese Länder Fragen rund um wirtschaftliche Kontrolle oder Besitz von Daten wichtiger waren als nur der Schutz von Privatsphäre.“

Auch das der Stand der Verhandlungen mit dem Leak des „konsolidierten Verhandlungstexts“ nun öffentlich ist, dürfte an der festgefahrenen Situation nichts ändern. Das sieht zumindest Parminder Jeet Singh so. Auf die Frage nach möglichen Auswirkungen auf den Standpunkt von Indien und Südafrika antwortet er: „Es hat sich nichts bei den grundlegenden Elementen geändert. Und die sich gegenüberstehenden Länder sehen momentan keine Notwendigkeit, irgendwelche Verhandlungen zu E-Commerce zu führen.“

Das sehen aber nicht alle Staaten so.Der Inselstaat Indonesien etwa legt die vagen Formulierungen des Moratoriums seit Jahren auf eine eigene Art aus: Das Verbot von Zöllen beziehe sich nur auf die elektronischen Übermittlungen, nicht aber auf deren Inhalt. Damit könnten Software und digitale Güter also doch mit Zöllen belegt werden – sogar ohne das Moratorium ablehnen zu müssen. Indonesien hat sogar schon Regulierungen für solche Zölle beschlossen, die liegen momentan aber noch bei null Prozent. Indien und Südafrika haben sich dieser Idee offenbar angeschlossen, aber innerhalb der JSI-Verhandlungen steht Indonesien damit isoliert da.

Ärmere Länder können sich die komplexen Verhandlungen nicht leisten

Im letzten Jahr haben auch noch Burkina Faso, Guatemala und Ecuador an den Verhandlungen teilgenommen. Aber die Delegation von Côte d’Ivoire beschreibt Schwierigkeiten dabei:

Unsere Länder haben eher begrenzte Fähigkeiten, an Verhandlungen teilzunehmen: Unsere Delegationen in Genf sind recht klein und unsere Beamten haben verschiedene Verpflichten außerhalb der WTO. Wir können es uns nicht leisten, Expert*innen zu senden, um alle Bereiche der Verhandlungen abzudecken. Wir können es uns nicht leisten, technische Unterstützung aus unseren Hauptstädten heranzuziehen, wie es die entwickelteren Länder können.

Themen wie E-Commerce seien sehr komplex und man konzentriere die begrenzten Ressourcen auf Fragen, die für das eigene Land besonders wichtig seien.

„Es gibt geteilte Probleme in den Corona-Zeiten von virtuellen Verhandlungen. Aber es ist problematischer für E-Commerce, das wesentlich komplexer ist als innerstaatliche Regulierung, Investitionsförderung oder Fischereiverhandlungen“, bestätigt Professorin Jane Kelsey, eine der Autor*innen des Third-World-Network-Berichts.

Deshalb sollte die WTO ärmeren Staaten Geld zur Verfügung stellen, damit Expert*innen aus deren Hauptstädten teilnehmen könnten, fordert die Delegation von Côte d’Ivoire. Außerdem sollten Berichte zu den Verhandlungen immer in allen drei Sprachen der WTO veröffentlicht werden, alle Sitzungen sollten Simultanübersetzung anbieten und bei der Vergabe von Terminen andere Verhandlungen mitgedacht werden.

„Wir schätzen nützliche Beiträge von Entwicklungsmitgliedern wie Côte d’Ivoire aufrichtig. Sie sind essenziell, um den Prozess und das Ergebnis der Verhandlungen zu verbessern“, so die japanische Mission in Genf.

Vorschlag für mehr Transparenz ohne Ergebnis

Schließlich gibt es da noch das Problem der Transparenz. Da die JSI-Verhandlungen nur am Rand der WTO stattfinden, sind die teilnehmenden Staaten nicht zu Transparenz verpflichtet. Manche, darunter die EU, haben ihre Entwürfe veröffentlicht, andere nicht. Neuseeland hat zwar bereits vor einem Jahr vorgeschlagen, auch die „konsolidierten Verhandlungstexte“ zu veröffentlichen – der Text vom Dezember ist immer noch vertraulich und nur durch ein Leak öffentlich geworden.

Und die E-Commerce-Verhandlungen sind nicht nur irgendwelche Verhandlungen. „Es geht darum, die WTO neu zu gestalten“, so Professorin Kelsey. „E-Commerce wird immer weiter ein Stellvertreterkriegsgebiet für die Zukunft der WTO“, schrieb sie schon 2018.

Damals sah sie drei Möglichkeiten für die reichen Mitglieder der WTO: Sie könnten die Verhandlungen unter Beachtung ihrer Versprechen von Entwicklung weiterführen, die aktuelle Pattsituation mit juristischen Risiken, aber auch Manövrierraum, könnte weitergehen – oder die reichen Staaten könnten annehmen, dass die WTO weiter eine Arena nur für sie bleiben wird.

„Wenn sie letzteres wählen, dann werden sie die Zukunft der WTO gefährden“, so Kelsey.

2 Ergänzungen

  1. Nehmen wir mal an in den ärmeren Ländern würden mehr Menschen Filme und andere digitale „Produkte“ per Torrent runterladen, dann würde dies doch das Außenhandelsdefizit verringern und somit die lokale Wirtschaft stärken.

    P2P wäre somit also doch im Grunde eine sehr wirksame Möglichkeit der Entwicklungshilfe. Findet ihr nicht auch ?

  2. „Damit werden indirekt heimische Unternehmen unterstützt, da diese die Zölle nicht bezahlen müssen.“

    Da hast Du eine Seite der Medaille ganz elegant weggelassen. :-) „Unterstützt“ (d.h. eigentlich: vom Weltmarkt abgeschirmt) werden nur die Unternehmen, die im Inland die Leistungen anbieten, die sonst importiert würden. ALLE ANDEREN Unternehmen werden belastet.

    Das bedeutet: Wenn ein Land Zölle einführt, bevorzugt es eine kleine Gruppe heimischer Unternehmen auf Kosten einer großen Gruppe heimischer Unternehmen.

    Abgesehen davon sind Zölle moralisch immer fragwürdig, da sie nach Herkunft diskriminieren.

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