EU-GerichtAnlasslose Vorratsdatenspeicherung bleibt illegal

Der Europäische Gerichtshof entschied erneut über die Vorratsdatenspeicherung. Einer pauschalen Massenspeicherung erteilte Luxemburg eine Absage, erlaubt aber die massenhafte Sammlung und Speicherung von Kommunikationsdaten in Ausnahmefällen.

GCHQ
Banksy-Graffiti nahe der Zentrale des Geheimdienstes CCHQ in Cheltenham CC-BY 2.0 Dunk

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am heutigen Dienstag ein mit Spannung erwartetes Urteil zur Vorratsdatenspeicherung gefällt. Das Gericht betont darin, dass das anlasslose und massenhafte Sammeln von Kommunikations- und Standortdaten von allen Nutzer:innen eines Telekommunikationsdienstes nicht mit der EU-Grundrechtecharta vereinbar sei. Zugleich öffnen die Richter:innen ein Tor für Ausnahmen, in denen weiterhin die Speicherung von Daten in Bausch und Bogen denkbar ist.

Das Gerichtsurteil fasst gleich mehrere Klagen aus Großbritannien, Belgien und Frankreich zusammen. Im Kern geht es immer um die Frage, ob massenhaft Telekommunikationsdaten gesammelt und gespeichert werden dürfen.

Im Fall aus dem Vereinigten Königreich klagte die NGO Privacy International gegen die Geheimdienste GCHQ und MI6, weil diese im im großen Stil Profile von weiten Teilen der Bevölkerung anlegen. Nach Darstellung der NGO speichern die Dienste Pass- und Reisedaten, aber auch Daten aus sozialen Medien und Kommunikationsdaten aus verschiedenen Quellen.

Privacy International brachte den Fall erst vor ein Sondergericht für Überwachungsfragen. Das britische Investigatory Powers Tribunal fragte dann das EU-Gericht, ob für die Arbeit der Geheimdienste überhaupt EU-Recht und die dazu gehörenden Datenschutzgesetze gelten. Auch sollte das Gericht in Luxemburg klären, inwiefern die Dienste Schutzmaßnahmen für Grundrechte einhalten müssen.

In den französischen Fällen liegen dem EU-Gericht verwandte Fragen vor. Die NGO La Quadrature du Net, ein Verband von nicht-kommerziellen Internetprovidern und weitere Organisationen klagten gegen die massenhafte Speicherung von Verbindungsdaten zur Terrorbekämpfung durch den französischen Staat. Auch eine weitere belgische Klage wurde behandelt.

Zuvor hatten Privacy International und andere Menschenrechtsorganisationen die Überwachung durch GCHQ bereits vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg gebracht. Das Gericht urteilte 2018, die von Edward Snowden aufgedeckten Überwachungstechniken des GCHQ stellten Menschenrechtsverletzungen dar, allerdings sei grundsätzlich das massenhafte Sammeln von Daten durch Sicherheitsbehörden mit Schutzmaßnahmen zulässig.

Auf die Beschwerden hin beschied der Generalanwalt des EuGH im Januar in einer rechtlich nicht bindenden Meinung, dass auch Terrorgefahr keine unbegrenzte Datensammlung durch die Geheimdienste rechtfertige. Das EU-Gericht hatte bereits zweimal zuvor Verpflichtungen zur Vorratsdatenspeicherung als mit den Grundrechten nicht vereinbar aufgehoben.

Lücken für die nationale Sicherheit

Die Vorratsdatenspeicherung ist nach dem heutigen Gerichtsurteil etwa dann rechtmäßig, wenn „der betreffende Mitgliedstaat mit einer ernsthaften Bedrohung der nationalen Sicherheit konfrontiert ist, die sich als echt und konkret oder vorhersehbar erweist“, heißt es in einer Pressemitteilung des Gerichts. Die Maßnahme müsste dann für einen begrenzten Zeitraum gelten und von einem Gericht oder einer unabhängigen Behörde geprüft werden. Damit möchte der EuGH offenbar die Massenüberwachung im Fall etwa einer konkreten terroristischen Bedrohung ermöglichen, allerdings ist unklar, wie überprüft werden kann, was als „ernsthafte Bedrohung“ gilt und was nicht.

Ebenfalls für rechtmäßig hält das Gericht die Vorratsdatenspeicherung, wenn sie auf bestimmte Personengruppen oder Gebiete für eine gewisse Zeit beschränkt ist. Behörden sollen Provider sogar über bisher begrenzte Zeiträume hinweg zur Datenspeicherung anhalten dürfen, wenn es der Aufklärung ernster Verbrechen oder von Angriffen auf die nationale Sicherheit diene, oder wenn solche Anlassfälle vermutet werden müssten.

Das Gericht betont darüber hinaus, dass die geltende E-Privacy-Richtlinie auch einer Echtzeitüberwachung nicht im Wege stehe, wenn es sich um Verdächtige in Terrorfällen handle und eine justizielle Erlaubnis bestehe. Weiters hält das Urteil auch fest, dass nationale Gerichte in Straffällen Beweise und Informationen ignorieren müssten, die aus EU-rechtswidriger Vorratsdatenspeicherung stammten.

NGOs mit unterschiedlicher Einschätzung

Bei den klagenden Organisationen gab es in ersten Reaktionen auf das Urteil gemischte Gefühle. Privacy International begrüßte die Entscheidung des EU-Gerichtes in einer Pressemitteilung. „Das heutige Urteil stärkt die Rechtsstaatlichkeit in der EU“, sagte demnach Caroline Wilson Palow, die Leiterin der Rechtsabteilung der NGO. In demokratischen Gesellschaften müsse es Grenzen und Kontrollen für behördliche Überwachungsbefugnisse geben.

La Quadrature du Net in Frankreich zeigte sich deutlich kritischer. Zwar habe das Gericht bestätigt, dass die französischen Behörden den Providern nicht länger massenhafte Datenspeicherpflichten auferlegen könnten, aber es gebe dabei bedeutende Ausnahmen. „Die Entscheidung ist eine Niederlage in dem Sinn, dass diese Ausnahmen die Wirksamkeit des Rechts auf Privatsphäre beschränken und unweigerlich zu Missbrauch führen werden“, betonte die Organisation. Beide NGOs kündigten ausführlichere Analysen des 85-seitigen Urteils an.

Update vom 6. Oktober 2020: Die Stellungnahmen von Privacy International und La Quadrature du Net wurden nachträglich hinzugefügt.

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7 Ergänzungen

  1. Eure Überschrift finde ich irreführend. Tatsächlich hat der EuGH den Behörden doch weitgehend einen Freibrief ausgestellt. Wann jetzt massenhaft überwacht werden darf, ist bloß noch eine Frage von juristischen Definitionen. Die Voraussetzungen für flächendeckende Überwachung werden sich immer finden lassen. Schon die angebliche „Beschränkung“ auf Gebiete ist ein katastrophales Einfallstor für Grundrechtsangriffe der Behörden.

    Man sieht hier leider sehr deutlich, dass nach 20 Jahren Paranoia inzwischen auch der EuGH weichgekocht ist. Konsequenter Grundrechteschutz sieht anders aus.

    1. Stimmt. In Brandenburg liefen die Systeme zur Erfassung von KFZ-Kennzeichen auf Autobahnen ja auch 24/7 obwohl das so eigentlich nicht erlaubt gewesen wäre. Die Genehmigungen hat man sich im Wechsel bei den Richtern abgeholt: in Dorf A wurde in ein Haus eingebrochen -> 6 Wochen alle Kennzeichen überwachen!; 5 Wochen später: oh, jetzt wurde in Dorf B eingebrochen -> 6 Wochen alle Kennzeichen überwachen; etc. bis man das ganze Jahr durchgehend überwacht hat. Mit 8-12 Einbrüchen im Jahr hat man so alle 52 Wochen des Jahres abgedeckt. Super!
      Und das Löschen hat man dann ja auch noch „vergessen“.

      1. „Und das Löschen hat man dann ja auch noch „vergessen“.“
        Man hätte die nicht-gesuchten Kennzeichnen gar nicht erst abspeichern dürfen! Lediglich ein Abgleich mit Fahndungsdaten war erlaubt!!! Eigentlich ein Riesenskandal, aber kein Schwein hat es interessiert. Traurig.

  2. Ich halte die Ueberschrift fuer irrefuehrend.

    Der EuGH hat dargelegt, unter welchen Umstaenden eine VDS zulaessig ist, diesen jetzt definierten Rahmen werden die Gesetzgeber maximal dehnend ausschoepfen und erneut eine VDS einfuehren. Die Infrastruktur, etc, pp, ist damit alles zulaessig und wird errichtet. Dann werden die Umstaende allgemein angenommen, dagegen kann man jeweils klagen, aendert aber alles nichts mehr an der etablierten und legal, illegal, scheissegal genutzten Infrastruktur.

  3. @ Anonymous & hs

    Ich muss euch leider zustimmen. Nach diesem Urteil ist klar, dass wir den Kampf gegen die Vorratsdatenspeicherung auf europäischer Ebene verloren haben. Das Bundesverfassungsgericht wird in spätestens 5 Jahren nachziehen.

    Eine Schande für Europa und den EuGH.

  4. Wenn es beim Aufbau des totalen Überwachungs- und Kontrollstaates eine Salamitaktik gibt, dann war dieses Urteil eine richtig fette Scheibe Salami, die auch die Union und die SPD bald schon genüsslich und schmatzend in Deutschland verzehren werden. Die Ausnahmen, die der EuGH hier ermöglicht hat, können bei entsprechender Auslegung vermutlich sehr schnell zum Aufbau einer umfangreichen und andauernden Überwachung herangezogen werden. Und wie die Erfahrung lehrt, sind die Auslegungen oftmals sehr kreativ, wenn es darum geht Grund- und Freiheitsrechte einzuschränken.

    Persönlich finde ich es bedauerlich, dass nun mit dem EuGH für mich eine der letzten Hoffnungen in eine demokratische und freiheitliche Zukunft der EU gestorben ist. Die Reise auf dem Weg in die Postdemokratie und digitale Kontrollgesellschaft wird unaufhaltsam fortgesetzt. Statt einem grimmig dreinschauenden „Big Brother“ ist es das lächelnde Angesicht von Ursula von der Leyen, das uns von Plakaten und Bildschirmen im „Neuen Normal“ begrüßt.

    1. Bei der Auslegung wäre dann aber das Verfassungsgericht mit dran, falls ich das richtig interpretiere, sonst wäre das ganze „sehr bald“ wieder vor dem EU-Gerichtshof.

      Das könnte sehr interessant werden… Transparenz, Whistleblowing… Duldungshaltung gegenüber konstentem Beschuss des Verfassungsgerichts und des EU-Gerichtshofes… ich bin nicht so sicher, dass das für die Akteure hinter diesen Sachen wirklich gut geht. Ich nehme an man kann da von Akteuren sprechen, und wenn es nur ein Geist diesert Zeit ist. Geister kann man auch brechen, und es gibt kaum Gesetze dazu. Mal sehen wie die Bude brennt, wenn der Konsens an der Stelle so weit zerbröselt ist, dass es auch irgendwelchen Inseltalenten auffällt.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.