Der Bundestag hat gestern mit einer Mehrheit von 355 Stimmen aus CDU/CSU und SPD das Gesetz zur Anpassung des Verfassungsschutzrechts angenommen. Es erlaubt allen 19 Geheimdiensten Geräte wie Smartphones oder Computer mit Staatstrojanern zu hacken. Alle Oppositionsparteien haben das Gesetz zuvor heftig kritisiert und dagegen gestimmt. Aus dem namentlichen Abstimmungsergebnis wird deutlich, dass auch fünf Mitglieder der SPD-Fraktion gegen das Gesetz stimmten, drei enthielten sich. 34 Abgeordnete der Regierungsparteien gaben keine Stimme ab.
Bereits am Dienstagabend hatte sich die Große Koalition auf einen Änderungsantrag geeinigt. Mit dem Gesetz bekommen die Verfassungsschutzämter auf Bundes- und Länderebene, der Militärische Abschirmdienst und der Bundesnachrichtendienst die Erlaubnis, Geräte zu hacken um Kommunikation auszulesen.
Außerdem verpflichtet das Gesetz Internet-Provider, bei der Installation von Schadsoftware zu helfen. Andere Telekommunikationsanbieter wie Messenger- oder E-Maildienste sind davon ausgenommen. Die G-10-Kommission soll um sechs Richter:innen verstärkt die Fälle kontrollieren, in denen Staatstrojaner zum Einsatz kommen.
Die Quellen-Telekommunikationsüberwachung (Quellen-TKÜ), auch „kleiner Staatstrojaner“ genannt, bedeutet, dass Behörden Schadsoftware auf Geräten installieren und ab diesem Zeitpunkt laufende Kommunikation überwachen. Der große Staatstrojaner, die „Online-Durchsuchung“, leitet nicht nur laufende, sondern auch gespeicherte Daten aus – zum Beispiel ältere Chatnachrichten, die vor der Installation der Schadsoftware gesendet und empfangen wurden.
Quellen-TKÜ plus: mehr als der kleine Staatstrojaner
Bei der nun beschlossenen Verfassungsschutzrechts-Novelle handelt es sich um einen Kompromiss aus kleinem und großem Staatstrojaner: die „Quellen-TKÜ plus“. Diese ermöglicht den Zugriff auf laufende Kommunikation plus die Kommunikation, die vor Installation der Schadsoftware, aber nach Anordnung der Überwachungsmaßnahme stattgefunden hat.
Ursprünglich wollte Innenminister Horst Seehofer mit seinem ersten Gesetzentwurf im März 2019 den großen Staatstrojaner für BND und Verfassungsschutz durchsetzen. Damals stieß das noch auf heftige Kritik beim Koalitionspartner SPD. Die Parteivorsitzende Saskia Esken sagte, sie lehne Staatstrojaner ab, die SPD werde das Vorhaben der Union nicht unterstützen.
Der zweite Gesetzentwurf des Innenministeriums im Juni 2019 sah dann den kleinen Staatstrojaner vor – aber für alle 19 Geheimdienste. Und die Kritik der SPD verstummte mehr und mehr: Im Oktober 2020 setzte sich das Innenministerium mit seinem Vorschlag durch und die Koalition einigte sich, alle Geheimdienste mit Staatstrojanern auszustatten.
Verfassungswidrig und schädlich für innere Sicherheit
Viele Sachverständige und Jurist:innen schätzen die Quellen-TKÜ als verfassungswidrig ein, da sie weit in die Grundrechte eingreift. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte erwägt, gegen die Regelung zu klagen. Gegen andere Gesetze, die den Einsatz von Staatstrojanern erlauben, laufen bereits Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht.
Auch die Organisation Reporter ohne Grenzen kündigte gestern an, mit dem Berliner Rechtsanwalt Prof. Niko Härting Verfassungsbeschwerde einzulegen. Sie sieht die Pressefreiheit und den digitalen Quellenschutz durch das Gesetz bedroht. „Einen so massiven Angriff auf die Vertraulichkeit journalistischer Recherchen und die Anonymität von Quellen dürfen wir nicht hinnehmen“, so Geschäftsführer Christian Mihr.
Kritik an den Staatstrojanern vereint auch internationale Tech-Konzerne wie Google und Facebook mit zivilgesellschaftlichen Organisationen wie dem Chaos Computer Club, die sich in einem offenen Brief gegen diese Form von Überwachung wehren.
Die Unionsfraktion begründet den Einsatz von Staatstrojanern damit, dass man den Verfassungsschutz so auf den Stand der Technik bringe. „Als die Leute sich noch mit Rauchzeichen oder Topfschlagen verständigt haben, da konnte jeder mithören“, so der CDU Abgeordnete Mathias Middelberg in der Aussprache im Bundestag. Die Quellen-TKÜ plus sei einfach „die Anpassung an technische Verhältnisse“ und wichtig, um Terrorismus abzuwehren und die innere Sicherheit zu verbessern.
Es sei „ein guter Tag für die Sicherheit in Deutschland“, meinte der CSU-Abgeordnete Michael Kuffer im Bundestag. „Ein massives Sicherheitsproblem, was sie hier veranstalten“, nannte es der Grünen-Abgeordnete Konstantin von Notz. Auch Stephan Thomae von der FDP warnte vor dem Sicherheitsrisiko, das Staatstrojaner mit sich bringen.
Staatstrojaner brauchen offene Sicherheitslücken
Um Staatstrojaner zu installieren, müssen Behörden IT-Sicherheitslücken auf Geräten ausnutzen. Es entsteht also ein Anreiz, bekannte Sicherheitslücken offen zu halten. Und das kann der inneren Sicherheit mehr schaden als nützen.
Dieses Problem kennt die SPD-Parteivorsitzende Esken. Sie schrieb noch am Tag vor der Abstimmung, dass sie die beschlossenen Mittel falsch findet, denn sie „schaden der Idee demokratischer Netze und unser aller Sicherheit.“ Sie stimmte aber im Bundestag nicht dagegen, sondern gab gar keine Stimme zu dem Gesetz ab. Die Jugendorganisation der SPD versuchte kurz vor der Abstimmung mit einem offenen Brief, die Bundestagsfraktion von ihrer Zustimmung zum Gesetz abzuhalten.
Vergeblich: Kurz vor dem Ende der Legislaturperiode haben SPD und Union gleich zweimal grünes Licht für Staatstrojaner gegeben. Denn auch für die Bundespolizei hat die Große Koalition den Einsatz von Staatstrojanern in dieser vorletzten Sitzungswoche des Bundestags ausgeweitet. Die Polizei darf die Überwachungsmethoden schon anwenden, wenn noch gar keine Straftat begangen wurde.
A) Nicht mit der GROKO!
B) Wir waren ja auch dagegen, aber letztlich sind Kompromisse in einer Demokratie unumgänglich.
CHOR: Wenn ihr sie nur machen lasst…
Ich habe eine ernstgemeinte Frage und bitte um ernstgemeinte Antworten:
Wo genau, d.h. bei welchen Maßnahmen,verläuft denn im Moment die Trennungslinie zwischen Polizei und Nachrichtendiensten, wenn es um Kriminalität geht? (D.h. ich meine z.B. nicht Auslandsspionage) Anders gefragt: Was sind heute noch rein nachrichtendienstliche Mittel?
> Nachrichtendienste dürfen eigene Leute in Organisationen einschleusen bzw Informanten anheuern. Die Polizei auch.
> Nachrichtendienste dürfen Leute im echten Leben verfolgen und überwachen (Observationen). Die Polizei auch.
> Nachrichtendienste dürfen (analoge) Wanzen in Häusern, Autos, etc, anbringen. Die Polizei auch.
> Nachrichtendienste dürfen Computer/Geräte hacken, um vergangene/aktuelle/zukünftige Kommunikationen abzufangen. Die Polizei auch.
> Nachrichtendienste dürfen (versuchen) verschlüsselte Dateien (zu) entschlüsseln. Die Polizei auch.
> Nachrichtendienste dürfen große Datenmengen (der Bevölkerung) auswerten, um Entwicklungen vorherzusagen. Die Polizei auch – Stichwort: präventive Maßnahmen.
Ja, was dürfen die Dienste denn noch, was die Polizei nicht darf?
Methoden, Gegenstände und Instrumente zur heimlichen Informationsbeschaffung werden auch durch Polizeibehörden angewandt, aber nicht als nachrichtendienstliche Mittel bezeichnet,
Quelle:
https://de.wikipedia.org/wiki/Nachrichtendienstliche_Mittel
Der Unterschied zwischen Politizei und Nachrichtendiensten in der Inneren Sicherheit wird mit dem Trennungsgebot beschrieben und soll (wie im Dritten Reich) zu viele Befugnisse, deren Bündelung in einer Behörde und Machtmissbrauch vorbeugen.
Kurz heißt das:
Polizei: Straftatenverfolgung und -vorbeugung
Verfassungsschutz: Informationsbeschaffung
„Die Polizei darf alles, weiß aber nichts – die Nachrichtendienste dürfen nichts, wissen aber alles.“ so kann man das wohl ganz gut zusammenfassen.
Natürlich gerät dieses Prinzip durch eine Angleichung der Befugnisse zunehmend unter die Räder, wie wir anhand neuer sicherheitspolitischer Maßnahmen sehen. Auch wird unter Jurist*innen über den Verfassungsrang des Prinzips gestritten. Spätestens seit der Gründung des GTAZ geht man jedoch davon aus, dass das Gewohnheitsrecht die Angleichung der Maßnahmen erlauben könnte, auch wenn das Klar zu Lasten der Freiheit geht.
Leider fürchte ich, dass die meisten Abgeordneten tatsächlich ein Spiegel der Gesellschaft sind – sie wissen nicht was sie tun. Die Vorratsdatensspeicherung ist ja auch noch nicht vom Tisch und die Herrenriege im Heimat(schutz)ministerium träumt bestimmt noch vom Verbot sicherer Verschlüsselungsverfahren und des Verbots des Tor-Browsers.
Angesichts der Tatsache, dass ein einfaches Gesetz das Wahlverfahren der Richter des Bundesverfassungsgerichts regelt (und nicht das Grundgesetz) wird mir angst und bange. Die momentan geforderte 2/3 Mehrheit könnte mit einfacher Mehrheit im Parlament gekippt werden. Bisher hat sich dieses Gesetz als einzige ernsthafte Hürde vor dem allwissenden Staat erwiesen. Es möge so bleiben.
Wie hier inzwischen vorsätzlich und wie ganz selbstverständlich gegen jegliche Grund- und Freiheiterechte verstoßen wird, das macht mich nur noch fassungslos. Es wird nicht einmal mehr versucht, einen legalen Anschein zu wahren. Aber was will man nach 16 Jahren Merkel auch erwarten. Die Katze lässt halt das Mausen nicht!?
Was mir besondere Sorge bereitet, ist die Tatsache, dass sie „Ihre Leute“ in praktisch allen wichtigen Posten installiert hat. Sämtliche Minister, EU, Geheimdienste, NGOs und sogar der vorsitzende Richter des Bundesverfassungsgerichts ist ein treuer Merkel- Mann.
Aber jedes Volk hat halt die Regierung, die es verdient. Oder hat ernsthaft jemand gedacht, dass jahrelange Unterstützung oder Gleichgültigkeit der Merkelherrschaft keine Folgen hat?!
„Ungeachtet aller Warnungen der Sachverständigen wollen die Regierungsfraktionen nun allen Nachrichtendiensten die Möglichkeit zum Hacking vertraulicher Kommunikation und Daten einräumen.“ Journalisten seien dabei als potenzielle Ziele bewusst nicht ausgeschlossen worden, kritisiert RSF-Geschäftsführer Christian Mihr.
„Einen so massiven Angriff auf die Vertraulichkeit journalistischer Recherchen und die Anonymität von Quellen dürfen wir nicht hinnehmen.“ Es solle nun zügig Verfassungsbeschwerde eingereicht werden, „um einen angemessenen Schutz des Kommunikationsgeheimnisses im Digitalen Raum und der Pressefreiheit in Karlsruhe zu erstreiten“. —
Wenn Reporter ohne Grenzen den Text für eine Verfassungsbeschwerde schafft, dann schaffen FDP, Bündnis90/Grüne und Linke zusammen doch auch den Text für eine abstrakte Normenkontrollklage, die uns den Einsatz des Gesetzes ersparen könnte, bevor es wieder jahrelang in Kraft ist, – eben solange, bis ROG in Karlsruhe gewinnt. —
Das schlimmste was passieren könnte, wenn man die Normenkontrollklage wenigstens mal versucht, wäre doch, dass Karlsruhe sie nicht annimmt ? Das schlimmste was passiert, wenn man es gar nicht versucht, ist dagegen: man ist mitschuldig. —
Wenn wir Verfassungsbruch nicht stoppen, wird’s bei uns wie in Polen, Ungarn, Großbritannien, … – ich verstehe es einfach nicht !
„Die Polizei darf die Überwachungsmethoden schon anwenden, wenn noch gar keine Straftat begangen wurde.“
Ich hätte nicht gedacht, daß „precrime“ so schnell real wird, aber nun gut, ich sehe die Deutschen nicht protestieren, daher scheint es wohl ihrem Wunsch zu entsprechen. Blöd, wenn irgendwann mal die ganz falschen an die Macht kommen und sowas dann nutzen, aber sowas könnte in Deutschland zum Glück niemals passieren, dafür sind wir viel zu autoritäts- und staatskritisch.