Das Internet, wie wir es kennen, ist bedroht – durch das Dienstleistungsabkommen „Trade in Services Agreement“ (TiSA). Das legen Dokumente aus den Verhandlungen nahe, die netzpolitik.org heute in Zusammenarbeit mit Greenpeace veröffentlicht hat. Konkret sind Datenschutz, Netzneutralität und die Sicherheit Kritischer Infrastrukturen wie Atomkraftwerke durch TiSA gefährdet. Das Freihandelsabkommen für Dienstleistungen wird zwischen fünfzig Staaten verhandelt, darunter die EU-Staaten und die USA.
Die wichtigsten Punkte aus dem Leak haben wir in einem Überblicksartikel zusammengefasst. Alle Details und Hintergründe finden sich in dem ausführlichen Artikel „Neue TiSA-Leaks: Handelsinteressen gehen vor Datenschutz, Netzneutralität und IT-Sicherheit“.
Das schreiben die Medien
Eine Reihe von Publikationen hat den Leak bereits aufgegriffen. So schreibt Heise.de, dass die nun ans Licht gekommenen Geheimpapiere „netzpolitisch wenig Gutes verheißen“ – zum Beispiel beim Thema Netzneutralität:
Weiter aushöhlen wollen die USA zudem die Netzneutralität: Erlaubt werden soll ihnen zufolge ein „angemessenes“ beziehungsweise „verhältnismäßiges“ Verkehrsmanagement, während die EU bislang auf Lösungen setzt, die übertragende Datenpakete nicht „diskriminieren“ sollten. Der weniger strenge Ansatz Washingtons könnte einem Zwei-Klassen-Netz mit Mautstraßen und den von den Providern immer wieder ins Spiel gebrachten ominösen Spezialdiensten den Weg ebnen.
Spiegel-Online titelte heute Morgen „Wie ein Abkommen den Datenschutz durchlöchert“ und schreibt:
Vieles, was die TTIP-Gegner schon abgewehrt glaubten, könnte über diese Hintertür nun doch noch Wirklichkeit werden.
In der deutschen Ausgabe von WIRED zeigt Max Biederbeck, wie die Bundesregierung durch TiSA und weitere Vorhaben den Datenschutz opfert. Über den neusten Leak schreibt er:
Die veröffentlichen Dokumente zeigen aber, wie das Abkommen den Datenschutz in Europa zugunsten guter Handelsbeziehungen aushebelt. Es erlaubt Staaten zwar eigene Bestimmungen zum Datenschutz, diese dürfen aber keine „nicht zu rechtfertigende Diskriminierung“ gegenüber anderen Staaten darstellen. So dürften Daten, die eigentlich in der EU gespeichert werden müssen, in Zukunft wieder auf ungeschützten Servern weltweit liegen.
Im Tagesspiegel kommt netzpolitik.org-Chefredakteur Markus Beckedahl zu Wort. Er erklärt die Sicherheitsrisiken, die durch das Handelsabkommen entstehen:
Anders als in früheren Versionen des Abkommens erlaube der Text der 20. Verhandlungsrunde den Staaten nicht mehr, den Quellcode der Programme kritischer Infrastruktur einzusehen. In Zukunft könnte ein Land dann etwa nicht mehr die Software eines Atomkraftwerkes auf Sicherheitsrisiken und Hintertüren überprüfen.
Wie sich Donald Trump zu TiSA verhalten könnte, erläutert Patrick Beuth bei Zeit-Online. Er mutmaßt:
Im Gegensatz zu TTIP, das Trump während seines Wahlkampfs heftig kritisierte, wird er Tisa aber eher nicht so kritisch sehen. Denn während TTIP auch den Güterhandel liberalisieren soll und damit potenziell der US-Industrie schaden könnte, dürften US-Unternehmen von dem reinen Dienstleistungsabkommen eher profitieren.
Der Wirtschaftskorrespondent der Frankfurt Allgemeinen Zeitung versteht derweil die Aufregung nicht. Greenpeace würde einen wichtigen Punkt übersehen. Weitere Berichterstattung findet sich bei Deutschlandfunk, Golem, der Luxemburger Tageszeitung Wort, dem Linux-Magazin und SWR3. Auch erste internationale Medien berichten.
Datenschutzbeauftragte: „Grundrecht auf Datenschutz ist nicht verhandelbar“
Andrea Voßhoff, Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, kommentierte die Veröffentlichung wie folgt:
Das Grundrecht auf Datenschutz darf nicht verhandelbar sein! Politik und Wirtschaft sollten den Datenschutz zum Qualitätsmerkmal entwickeln und nicht als Handelshemmnis abstempeln.
SPD: Europäische Datenschutzstandards bewahren
Erste Reaktionen kamen auch aus der Bundespolitik. Lars Klingbeil, netzpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, warnte gegenüber netzpolitik.org davor, Datenschutz und Datensicherheit im TiSA-Abkommen zu nichttarifären Handelshemmnissen zu bestimmen:
Es muss bei den Verhandlungen zu allen Handelsabkommen klargestellt werden, dass die europäischen Datenschutzregeln und Datensicherheitsvorgaben keine nicht-tarifären Handelshemmnisse sind. Sollten Datenschutzregeln und Datensicherheitsvorgaben in den Handelsabkommen als nicht-tarifäre Handelshemmnisse definiert werden, weil zum Beispiel EU-Datenschutzvorgaben über das US Recht hinausgehen, könnte es zu einem Downsizing mit Blick auf den europäischen Datenschutz- und Datensicherheitsstandard kommen und die digitale europäische Souveränität in Frage stellen.
Grüne: Netzneutralität und Datenschutz sind keine Wettbewerbshindernisse
Die Grünen-Abgeordneten Katharina Dröge und Konstantin von Notz bemängeln in einer Pressemitteilung, dass bei TiSA „über die Köpfe der Betroffenen hinweg“ Grundrechte abgeschafft werden würden. Sie fordern, dass die EU-Kommission den nun publik gewordenen Verhandlungsvorschlägen auf keinen Fall zustimmt.
Datenschutz, Open Source und Netzneutralität als Wettbewerbshindernisse zu betrachten, ist gestrig und grundfalsch. Diese sind ganz im Gegenteil die Grundvoraussetzung für Gemeinwohl, Verbrauchervertrauen und fairen Wettbewerb im digitalen Zeitalter. Hohe Standards für alle – das würde Handelsabkommen nicht hemmen, sondern vielmehr legitimieren. Gerade im Internet, wo Nutzer viele Dienste mit ihren persönlichen Daten statt mit Geld bezahlen, müssen Grenzen der Datenweitergabe möglich sein.
Dieter Janecek, wirtschaftspolitische Sprecher der Grünen, warnt gegenüber netzpolitik.org davor, hinter die erst kürzlich festgelegten Standards der EU-Datenschutz-Grundverordnung zurückzufallen.
Bei den TiSA-Verhandlungen muss für die EU und alle Mitgliedsstaaten glasklar sein: Vereinbarungen, die Datenschutzstandards oder Netzneutralität aushöhlen oder Open-Source-Software blockieren, sind nicht zustimmungsfähig. Datenschutz ist ein Grundrecht, kein Handelshemmnis! Auch aus wirtschaftlicher Sicht wäre es kurzsichtig, Schutzstandards zu schleifen oder die Netzneutralität, die für einen fairen Marktzugang von neuen Anbietern und Startups wichtig ist, in Frage zu stellen. Europa und insbesondere Deutschland würden dadurch bedeutende Standortvorteile aufgeben.
CDU: Alles nur Skandalisierung
Ganz anders sieht das Joachim Pfeiffer, wirtschaftspolitischer Sprecher der CDU/CSU im Bundestag. Pfeiffer sieht in TiSA einen großen Fortschritt für den Handel von Dienstleistungen und wehrt sich gegenüber die seiner Meinung nach unbegründete Skandalisierung, wie er gegenüber netzpolitik.org sagte:
Deutschland als Exportnation braucht den freien Austausch. Man sägt nicht an dem Ast, auf dem man sitzt. Bereits jetzt beträgt das Handelsvolumen bei Dienstleistungen mehr als eine halbe Milliarde Euro pro Jahr. Beim Datenschutz gelten die EU-Regelungen, es gibt keine Absenkung oder Aushöhlung. Hier wird eine Skandalisierung betrieben, wo es nichts zu skandalisieren gibt. Das ist ein vorsätzlicher, plumper Versuch der Empörungsindustrie, mit künstlich geschürten Ängsten der Menschen Geschäfte zu machen.
Bürgerrechtler: „TiSA gefährdet die Meinungsfreiheit“
Joe McNamee, Geschäftsführer der Bürgerrechtsorganisation European Digital Rights (EDRi) aus Brüssel, sieht insbesondere die Meinungsfreiheit gefährdet. In einem Blogpost schreibt er:
Die Vorschläge zur privaten Zensur sind besonders beunruhigend. Das Erstellen einer Fähigkeit, unsere Meinungsfreiheit ohne Rechenschaftspflicht einzuschränken, ist waghalsig und gegensätzlich zu allen relevanten Bestimmungen internationalen Rechts. [Eigene Übersetzung]
Die Aktivisten von Campact nehmen in ihrem Blog das Kapitel zu Transparenz in Augenschein:
Eines der geleakten Dokumente ist das sogenannte „Transparenz“-Kapitel. Transparenz begrüßen wir sehr, doch wer annimmt, dass es in diesem Kapitel um eine erhöhte Transparenz in den bisher geheimen Verhandlungen geht, wird leider enttäuscht.
EU-Parlamentarierin: Leaks sind Folge von intransparenten Verhandlungen
Gegenüber netzpolitik.org erklärte Jude Kirton-Darling, Schattenberichterstatterin für das TiSA-Abkommen für die sozialdemokratische Fraktion S&D im Europäischen Parlament:
Wenn Handelsgespräche nicht vollständig transparent sind, gibt es immer das Risiko von Misstrauen und Leaks. Die Sozialdemokratischen Abgeordneten des Europaparlaments sind vehement für Transparenz eingetreten, um das zu verhindern. Darüber hinaus ist das Europäische Parlament dahingehend eindeutig, dass es jedes künftige TiSA-Abkommen nur unterstützen wird, wenn die EU-Datenschutzregeln vollständig geachtet werden.
Wir haben weitere Politiker*innen und Verbände um ihre Meinung zu den TiSA-Leaks gebeten und aktualisieren den Artikel kontinuierlich.
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