Sogenannte Indépendantisten sorgen in dem französischen Überseegebiet Neukaledonien für Unruhen. Sie protestieren gegen eine von Paris geplante Verfassungsreform. In der vergangenen Woche kam es in der Hauptstadt Nouméa zu Plünderungen, Geschäfte und öffentliche Einrichtungen wurden in Brand gesteckt. Es gab mehrere Tote.
Vergangenen Mittwoch rief daraufhin der französische Premierminister Gabriel Attal gemeinsam mit dem Ministerium für Inneres und Überseegebiete und dem Justizministerium für das Archipel den Ausnahmezustand aus, der zunächst für 12 Tage gelten soll. Infolgedessen entsandte Frankreich Streitkräfte in Richtung Pazifik – und die beliebte Social-Media-Plattform TikTok wurde in der Region blockiert.
Diese Entscheidung ist eine Premiere in der Europäischen Union. Kommunikationsmittel in Zeiten gewaltsamer Proteste anzugreifen, das ist eine Maßnahme, die man von autokratischen Regimen erwarten würde – nicht aber auf französischem Staatsgebiet. Dort wäre eine womöglich langwierige Einigung vor Gericht von Nöten gewesen, um eine solche Forderung umzusetzen.
So rechtfertigen Behörden die Sperre
Die französische Regierung hat sich bisher nicht offiziell dazu geäußert, aus welchen Gründen sie TikTok sperrte und warum andere Plattformen verschont blieben.
Attal begründete die Sperre der chinesischen Plattform damit, sie würde von Gruppen genutzt, die für Gewalt auf der Insel verantwortlich seien. Dem französischen Magazin Numerama gegenüber gab der Premier an, TikTok sei aufgrund von Einmischung und Manipulation faktisch verboten worden. Die App würde als Medium zur Verbreitung von Desinformation in sozialen Netzwerken genutzt. Die Zeitung Le Monde berichtet, die Plattform sei ins Visier geraten, weil darauf „Botschaften des Hasses und Aufrufe zur Gewalt“ geteilt worden seien. Philippe Gomes, der ehemalige Präsident der Regierung von Neukaledonien, erklärte gegenüber Politico, die Entscheidung solle Demonstranten davon abhalten, „Versammlungen und Proteste“ über die App zu organisieren.
Das Dekret der Regierung stützt sich auf ein Gesetz zum Ausnahmezustand aus dem Jahr 1955. 2017 wurde darin ein Absatz ergänzt: „Der Innenminister kann jede Maßnahme ergreifen, um die Unterbrechung jedes öffentlichen Online-Kommunikationsdienstes zu gewährleisten, der zur Begehung von Terrorakten aufruft oder diese verherrlicht.“ Auf die Frage, um welche Postings es sich dabei konkret handelte, gab das französische Innennministerium bis zu Zeitpunkt der Veröffentlichung keine Antwort.
Die Presseabteilung von TikTok teilte gegenüber netzpolitik.org mit, weder neukaledonische Behörden noch die französische Regierung hätten vor der Sperrung Bedenken bezüglich der Inhalte auf TikTok kommuniziert. Es sei bedauerlich, dass der Hochkommissar von Neukaledonien beschlossen habe, den Dienst auszusetzen.
TikTok gehört dem chinesischen Tech-Unternehmen ByteDance, das seinen Sitz in Peking hat. Die Kurzvideo-App hat eigenen Angaben zufolge mehr als 150 Millionen monatliche Nutzer:innen in der EU und ist damit eine der meistgenutzten Plattformen. Die Europäische Kommission leitete im Februar eine Untersuchung gegen TikTok ein, wegen möglichen Verstößen gegen das Digitale-Dienste-Gesetz der EU.
Keine klare Rechtsgrundlage
Nicolas Hervieu, Anwalt für öffentliches Recht und europäisches Menschenrecht, zweifelt die Rechtmäßigkeit dieser “beispiellosen” Entscheidung zur Sperrung von TikTok an. Einen Zusammenhang mit Terrorismus bezeichnet er als „mehr als zweifelhaft“. Für den Anwalt und Rechtspraktiker Maître Eloas könnte diese Maßnahme im Rahmen des Ausnahmezustands verhältnismäßig sein. „Wenn sich herausstellt, dass die Randalierer TikTok nutzen, um zur bewaffneten Rebellion anzustiften und zu koordinieren“, schrieb er auf X.
Die französische NGO La Quadrature du Net (LQDN) kritisiert das Vorgehen der französischen Regierung scharf. In Wirklichkeit sei die Sperrung von TikTok nicht auf terroristischer Inhalte zurückzuführen, sondern auf die Tatsache, dass sich die App zu einer zentralen Plattform für die Kommunikation der Demonstrierenden entwickelt hat.
Auch Access Now, eine NGO mit Schwerpunkt digitale Bürgerrechte, sorgt sich um die Folgen der Entscheidung. Frankreichs Übergriff schaffe einen gefährlichen Präzedenzfall, sagt Eliška Pírková, Senior Policy Analyst und Leiterin der Abteilung für globale Meinungsfreiheit bei Access Now. Regierungen auf der ganzen Welt könnten vermehrt willkürliche Sperrungen verhängen. Auch wenn französisches Recht die Maßnahme zulässt, sei sie weder nach dem Ditale-Dienste-Gesetz (DSA) noch nach internationalen Menschenrechtsnormen zu rechtfertigen.
LQDN geht nun gegen die Maßnahme vor Gericht. Der Interessenverband forderte am Freitag in einem Eilverfahren, die Entscheidung aufzuheben. Mit der Anordnung versetze die französische Regierung der Meinungsfreiheit im Internet einen besonders schweren Schlag. Ein solcher Erlass durch ein angeblich rechtsstaatliches Regime sei nicht zu rechtfertigen – weder durch den lokalen Kontext noch durch schädliche Inhalte auf der Plattform.
EU-Gesetz gilt nicht in Neukaledonien
Mit dem Gesetz über digitale Dienste, das seit Februar diesen Jahres in der Europäischen Union gilt, ist die Maßnahme nicht vereinbar. Neukaledonien ist allerdings kein Teil der EU. Anders als die französischen Überseegebiete Polynesien, Wallis und Futuna oder Saint Pierre und Miquelon gilt das Archipel seit 2003 als Überseegemeinschaft mit besonderem Status.
Auch der DSA lässt grundsätzlich zu, dass bestimmte Plattformen in extremen Fällen auf nationaler Ebene gesperrt werden. Allerdings bedarf es einer gerichtlichen Zustimmung und ein Verbot kann immer nur zeitlich begrenzt stattfinden. EU-Kommissar Thierry Breton sagte dazu letztes Jahr, dass der DSA nicht für willkürliche Abschaltungen verwendet werden könne. Zuvor hatte es Protest gegen solche Szenarien seitens verschiedener NGOs gegeben.
Blockade bereits aktiv
Das Mobilfunknetz in Neukaledonien wird von nur einem einzigen Betreiber verwaltet. Das macht es viel einfacher und schneller, TikTok dort sperren zu lassen, als wenn die Maßnahme das französische Festland und seine Vielzahl an Betreibern betroffen hätte. Auf dem französischen Festland wäre eine Blockade komplizierter umzusetzen, sie bleibt aber trotzdem eine „sehr reale und schädliche Möglichkeit“, erklärt Felicia Antonio, #KeepItOn Kampagnenmanagerin bei Access Now.
Das Magazin BFM Tech&Co berichtet, Attals Kabinett habe die Sperre bestätigt. Sie sei bereits in Kraft, bislang nur auf Mobiltelefonen. TikTok wird allerdings vor allem auf Smartphones genutzt, die Hochkant-Videos sind dafür optimiert. Über den Browser lassen sich die Inhalte auch auf anderen Geräten aufrufen, doch das ist umständlich.
Unabhängig von der Rechtmäßigkeit der Entscheidung lässt sich das Verbot leicht umgehen. Ein einfacher VPN reicht aus, um als vermeintlich nicht-neukaledonischer Nutzer auf TikTok zuzugreifen und so die ortsspezifische Sperre zu meiden.
Verfassungsreform soll Wahlrecht ausweiten
Auslöser für die Gewaltausschreitungen auf der Inselgruppe ist eine Verfassungsreform, die von der französischen Nationalversammlung bereits beschlossen, aber vom Parlament noch nicht verabschiedet wurde.
Bisher durften dort nur Bürger:innen an den Wahlen teilnehmen, die seit 25 Jahren in Neukaledonien ansässig sind, außerdem deren Kinder. Künftig sollen auch diejenigen wählen können, die erst seit zehn Jahren dort leben. Die Indépendantisten befürchten, dass mit dem neuen Wahlrecht der Einfluss der Ureinwohner Neukaledoniens – den Kanaken – schwinden könnte. Sie machen etwa 40 Prozent der Bevölkerung aus. Nach den Gesetzen der Französischen Republik ist die bisher gültige Sonderregelung jedoch undemokratisch und daher verfassungswidrig.
Die Indépendantisten hoffen schon lange auf einen eigenen Staat. Für Frankreich ist das rund 17.000 Kilometer entfernte Gebiet aber geopolitisch, militärisch und wegen der dortigen Nickelvorkommen von großer Bedeutung. Neukaledonien hatte bereits durch ein Abkommen im Jahr 1998 im Rahmen der Dekolonialisierung weitgehende Autonomie erlangt.
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