Chaträume, in denen Hass auf Juden und Geflüchtete gepflegt wird, Messenger-Gruppen mit Hetze gegen Homosexuelle und „Systempolitiker“: Das ist seit einiger Zeit offenbar die Arbeitsumgebung von dutzenden Mitarbeiter:innen des Verfassungsschutzes. Wie die Süddeutsche Zeitung im September berichtete, sind mehr als hundert sogenannte virtuelle Agent:innen im Auftrag der Verfassungsschutzämter in der digitalen rechtsextremen Szene unterwegs, um Informationen zu sammeln.
Doch damit nicht genug: Wer nur passiv mitliest, kann angeblich kein Vertrauen gewinnen. Deshalb setzen sich die Geheimdienstmitarbeiter:innen nicht nur Perücken auf und machen professionelle Fotoshootings für ihre Fake-Profile, sondern beteiligen sich auch an dem, was in den Chatgruppen gepostet wird, wie die Süddeutsche Zeitung berichtet. Sie hetzen demnach gegen Minderheiten und Politiker:innen, verbreiten Hass gegen „Volksverräter“. Dass sie dabei Straftaten begehen, etwa Volksverhetzung posten, um glaubwürdig zu sein, sei an der Tagesordnung.
Dass es virtuelle Agent:innen gibt, war schon länger bekannt, nicht jedoch das Ausmaß. Die Zahl der geheimen Digitalermittler:innen ist dem Artikel zufolge in den letzten Jahren stark aufgestockt worden. Laut Verfassungsschutz eine Reaktion auf den Mord am CDU-Politiker Walter Lübcke im Jahr 2019, seitdem scheint der Geheimdienst die rechtsextreme Gefahr in Deutschland ernster zu nehmen. Aber vielfache Volksverhetzung für die gute Sache? Das wirft Fragen auf.
Dürfen Agent:innen überhaupt Straftaten begehen?
So stellt sich etwa die Frage, auf welcher Rechtsgrundlage die virtuellen Agent:innen handeln, ob ihr Einsatz also legal ist, gerade wenn sie wiederholt strafbare Äußerungsdelikte wie Volksverhetzung begehen.
Auf eine Presseanfrage antwortet uns das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), der Einsatz beruhe auf zwei Paragraphen des Bundesverfassungsschutzgesetzes, die besondere Befugnisse des Geheimdienstes bei der Informationsbeschaffung regeln (§9 Abs. 1 in Verbindung mit §8 Abs 2.). Eine dort festgeschriebene Liste mit „Methoden, Gegenständen und Instrumenten zur heimlichen Informationsbeschaffung“ wie etwa der Einsatz von Vertrauensleuten oder Observationen sei nicht abschließend, sodass die neue Taktik davon erfasst sei. Dass die Online-Undercover-Ermittler:innen Straftaten begehen dürfen, ergebe sich aus den Regelungen zu verdeckten Ermittler:innen (§ 9a, Abs. 2).
Doch Bijan Moini von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) ist skeptisch, dass die bestehenden Gesetze für den Online-Undercover-Einsatz geeignet sind. „Die Befugnisnormen zum Einsatz klassischer verdeckter Ermittler:innen passen nicht zum virtuellen Einsatz“, schreibt uns der Jurist auf Anfrage. Das Vertrauen, das die Agent:innen in den infiltrierten Gruppen erwerben, habe schließlich eine andere Qualität als bei Face-to-Face-Aktivitäten.
Zwar könnten auch digitale Beziehungen äußerst tief gehen, doch grundsätzlich sei „das Vertrauen im Netz weniger schutzwürdig, weil jede:r damit rechnen muss, dass das virtuelle Gegenüber eine falsche Identität vortäuscht“, so Moini. Gleichzeitig würden die virtuellen Agent:innen offenbar „mit deutlich weniger fokussiertem Auftrag im Netz unterwegs sein.“ Details zu den virtuellen Agent:innen sind kaum bekannt, weshalb eine fundierte Einschätzung schwerfällt.
Doch wenn die Annahme zutrifft, dass die Schwelle für ein Tätigwerden der virtuellen Ermittler:innen sehr niedrig ist, „also auf Vorrat virtuelle Agent:innen eingesetzt werden“, dann müsse gesetzlich geregelt werden, unter welchen Voraussetzungen das zulässig sei, sagt Moini. Erst kürzlich hatte der Jurist mit der GFF ein Urteil erstritten, in dem das Bundesverfassungsgericht hohe Hürden für den Einsatz von „echten“ verdeckten Ermittler:innen formuliert hat.
Für virtuelle Agent:innen seien die Hürden möglicherweise zu hoch, sagt Moini, weshalb diese Regelung nicht als Rechtsgrundlage geeignet sei. „Sich dann jedoch schlicht auf die Generalklausel in den Verfassungsschutzgesetzen zu berufen, wie offenbar das BfV, wird der Bedeutung von virtuellen Agent:innen nicht gerecht.“ Wenn eine potentiell schwerwiegende Maßnahme zum Standardinstrument werde, bedürfe es einer spezifischen Regelung.
Dürfen Agent:innen auch Klima-Aktivist:innen beschatten?
Den mutmaßlich weit gefassten Einsatzzweck der virtuellen Agenten:innen kritisiert auch Jan Rathje vom Center für Monitoring, Analyse und Strategie, kurz CeMAS. Die gemeinnützige Organisation analyisiert Antisemitismus, Verschwörungsideologien, Desinformationen und Rechtsextremismus auf digitalen Plattformen und bildet damit quasi einen zivilgesellschaftlichen Gegenpart zum Verfassungsschutz.
Im Gespräch mit netzpolitik.org setzt Rathje die virtuellen Undercover-Ermittler:innen in den Kontext des verstärkten Einsatzes der Geheimdienste gegen sogenannte „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“. Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat dies bei der Vorstellung des jährlichen Verfassungsschutzberichtes im Juni erstmals als neue Kategorie vorgestellt, um verschwörungsideologische Aktivitäten sowie gefährliche Reichsbürger:innen und Querdenker:innen erfassen zu können.
Für die neue Kategorie gebe es jedoch keine klare Definition, kritisierte Rathje. Ein schwammig formuliertes Beobachtungsfeld in Kombination mit niedrigen Einsatzhürden für digitale Ermittler:innen könne leicht dazu führen, dass die Überwachung aus dem Ruder laufe. „Eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz, auch wenn es sich nur um virtuelle Ermittler:innen handelt, ist immer eine Grundrechtseinschränkung.“ Deshalb müsse der Rahmen hierfür klar abgesteckt sein.
Gerade vor dem Hintergrund aktueller politischer Entwicklungen sei denkbar, dass der Verfassungsschutz nicht nur Online-Gruppen von mutmaßlichen Rechtsextremen und Reichsbürger:innen infiltriere, sondern auch von legitimen Protestgruppen, etwa im Rahmen der Klima-Proteste, spekuliert Rathje. Erst vor wenigen Tagen entschied sich etwa die Münchner Polizei, mehrere Aktivist:innen der Gruppe „Aufstand der letzten Generation“ ohne Gerichtsverfahren 30 Tage in Präventivhaft zu nehmen, nachdem diese sich wiederholt auf einer Straße festgeklebt hatten. Die Einführung der Präventivhaft im neuen Polizeiaufgabengesetz war von der bayerischen Regierung damit begründet worden, dass die Polizei damit terroristische Gefährder:innen von Anschlägen abhalten könne.
Machen aktive Agent:innen alles noch schlimmer?
Eine weitere Frage wirft der Mainzer Verfassungsrechtler Matthias Bäcker im Gespräch mit netzpolitik.org auf: „Wo verläuft die Grenze zwischen der gebotenen Aufklärung bestimmter Strukturen und der Aufrechterhaltung ebendieser Strukturen?“ Seine Sorge bezieht sich darauf, dass die Grenze zwischen Beobachten und Mitmachen bei den Agent:innen verschwimmt. Das heißt, allzu viel Eifer könnte die beobachteten Gruppen stärken oder gar am Leben halten.
Josephine Ballon ist Juristin bei HateAid, einer gemeinnützigen Organisation, die Opfer von Hass im Netz unterstützt. Sie verweist im Gespräch mit netzpolitik.org auf das NPD-Verbotsverfahren in den Nullerjahren. Das Verfahren ist daran gescheitert, dass der Verfassungsschutz zu viele V-Leute in der Parteispitze positioniert hatte. „Eine zu große und aktive Einmischung des Verfassungsschutzes kann dazu führen kann, dass dieser zu viel Einfluss nimmt und am Ende nicht mehr sicher bestimmt werden kann, ob die verfassungsfeindlichen Bestrebungen auch ohne dessen Beteiligung zustande gekommen wären.“ Diese Gefahr bestehe auch bei virtuellen Agent:innen, so Ballon.
Die Bundesregierung selbst gibt sich in der Antwort auf eine Kleine Anfrage gewiss, dass die Ermittlungstaktik keine negativen Auswirkungen habe. Die Anfrage kam ausgerechnet von der rechtsextremen AfD, deren Politiker:innen selbst seit Jahren dazu beitragen, das gesellschaftliche Klima zu verrohen. Die Fraktion wollte von der Regierung unter anderem wissen, ob die hohe Zahl der virtuellen Agent:innen Statistiken zu Online-Extremismus verfälsche.
Die Bundesregierung streitet solche Effekte pauschal ab. „Allgemein sind verdeckte oder legendierte Maßnahmen des BfV so angelegt, dass die bezeichneten Gefahren nicht bestehen.“ Auch Auswirkungen auf das gesellschaftliche Klima seien nicht zu befürchten.
Undercover-Agentin: „Ich bestärke Menschen in ihrem Weltbild“
In Hinblick auf die öffentliche Wahrnehmung von Rechtsextremismus widerspricht Jan Rathje von CeMAS der Bundesregierung. Selbst wenn der Verfassungsschutz dafür sorgen könne, dass die Fake-Accounts den Blick der eigenen Behörde nicht trübe: Das Bild könne schon allein deshalb verfälscht werden, weil auch Zivilgesellschaft, Journalismus und Wissenschaft den rechten Rand beobachten. Sie hätten nur indirekte Möglichkeiten zu erkennen, ob ein Account von einem Rechtsextemen oder von einer Geheimdienst-Mitarbeiterin bespielt wird.
Dass die Arbeit der virtuellen Agent:innen Auswirkungen hat, gibt gegenüber der Süddeutschen Zeitung unterdessen auch eine Ermittlerin zu. „Natürlich, ich bestärke Menschen in ihrem Weltbild“, wird die anonym bleibende Frau zitiert, die für eines der Verfassungsschutz-Landesämter als virtuellen Agentin tätig ist. „Ich verbreite im Prinzip eine Ideologie, die andere daraufhin auch besser finden.“
Verfasssungsrechtler Matthias Bäcker mahnt an, dass die Hass-Postings im Staatsauftrag „Vernetzungs- und Bestätigungseffekte“ haben können. „Warum sollte diese Gefahr von amtlicher Volksverhetzung nicht ausgehen?“ Dass die Bundesregierung pauschal alle unerwünschten Nebenwirkungen abstreite, sei „schon sehr kaltschnäuzig“, so Bäcker. Man müsse sich fragen, ob der Einsatz hunderter Fake-Accounts wirklich primär der Aufklärung diene, oder ob er nicht auch kontraproduktive Folgen wie die Stabilisierung extremer Ansichten und Gruppen haben könne.
Der Verfassungsschutz selbst, so Bäcker, könne diese Gefahr aufgrund der eigenen Befangenheit nicht einschätzen. Dieser habe erfahrungsgemäß ein zu großes Eigeninteresse, die eigenen Maßnahmen zur Beschaffung von Informationen nicht zu gefährden.
Wie viele staatliche Fake-Accounts sind im Einsatz?
Dies führt zu einem weiteren großen Fragezeichen. Um die Situation fundiert einschätzen zu können, fehlen der Öffentlichkeit derzeit schlicht Informationen.Die Süddeutsche Zeitung etwa legt nahe, dass die mehr als einhundert digitalen Undercover-Agent:innen jeweils mehrere Sockenpuppen-Accounts bespielen. Die Neue Zürcher Zeitung berichtet, das Bundesamt für Verfassungsschutz habe ihr gegenüber die Richtigkeit der Fakten im SZ-Artikel bestätigt. Doch wie viele rechtsextreme Fake-Accounts im Staatsauftrag genau unterwegs sind? Wir wissen es nicht. Auf unsere Anfrage wollen weder Innenministerium noch Bundesamt für Verfassungsschutz eine Auskunft geben, die über die erwähnte Antwort auf die Kleine Anfrage hinausgeht.
Dort antwortete die Bundesregierung, dass aus Geheimhaltungsgründen auch dem Parlament keine weitergehenden Informationen bereitgestellt werden können, nicht einmal in eingestufter Form. Selbst eine Hinterlegung der Informationen in der Geheimschutzstelle des Bundestages, wo sie nur von Abgeordneten eingesehen werden dürfen, gehe zu weit. Jede Information könne die aufgebauten Legenden der virtuellen Agent:innen gefährden und zur Entwicklung von Abwehrstrategien führen.
„Im Hinblick auf den Verfassungsgrundsatz der wehrhaften Demokratie hält die Bundesregierung die Informationen der angefragten Art für so sensibel, dass selbst ein geringfügiges Risiko des Bekanntwerdens nicht hingenommen werden kann“, schreibt die Bundesregierung.
Braucht es den digitalen Undercover-Einsatz überhaupt?
Es bleiben derzeit also viele Fragen offen. Die von uns befragten Expert:innen kommen trotzdem zu dem Schluss, dass der Einsatz virtueller Agent:innen grundsätzlich legitim sein kann, wenn bestimmte Voraussetzungen eingehalten würden. „Viele verfassungsfeindliche Bestrebungen finden heutzutage im Netz statt“, konstatiert etwa Josephine Ballon von Hate Aid. Das würden die jährlichen Berichte des Verfassungsschutzes zeigen. „Ebenso wie sich diese verlagern, muss sich auch die Tätigkeit der Behörden vermehrt ins Netz verlagern.“
Jan Rathje von CeMAS betont, dass der Schutz vor Verfassungsfeinden grundsätzlich Aufgabe des Staates sei und das dazu auch verdeckte Maßnahmen gehören könnten. Dieser Drahtseilakt gehöre zur liberalen Demokratie. Doch die Maßnahmen müssten immer verhältnismäßig eingesetzt werden. Mit dem Einsatz zahlreicher virtueller Agent:innen aber, so Rathje, „scheint der Verfassungsschutz über das Ziel hinauszuschießen“.
Er fragt zudem, ob das Begehen von Straftaten durch staatliche Sockenpuppen-Accounts überhaupt notwendig ist, um Informationen zu sammeln. Schließlich würden journalistische und zivilgesellschaftliche Untersuchungen in rechtsextremen Milieus immer wieder zeigen, dass sie relevante Informationen auch ohne diese zu tage fördern können. Rathje wünscht sich eine größere gesellschaftliche Debatte und klare Grenzen für die virtuellen Agent:innen.
Auch Verfassungsrechtler Matthias Bäcker kommt zu dem Schluss, dass der Einsatz „aus rechtsstaatlicher Sicht nicht komplett ausgeschlossen sein muss“. Allerdings hält er die Methode insgesamt für problematisch. „Jeder Einsatz muss jeweils einen sehr guten Grund und klare Begrenzungen haben“, sagt Bäcker. Wenn mithilfe verdeckter Ermittler:innen Drogendeals zustande kämen, könnte die Ware nach dem Deal direkt aus dem Verkehr gezogen werden – aber Volksverhetzung bleibe im Netz. Bäcker sagt: „Die Folgen einer einmal getätigten Aussage sind kaum absehbar.“
Nach der unrühmlichen Rolle des Verfassungsschutzes beim NPD-Verbot – damals war beim Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht herausgekommen, dass die NPD im wesentlichen der Verfassungsschutz war – stellt sich auch bei illegalen Online-Aktivitäten die Frage nach Huhn und Ei.
Wenn über 100 GeheimdienstlerInnen in Vollzeit illegale Inhalte im Internet absetzen – wie kann man dann noch feststellen, ob es in freier Wildbahn überhaupt rechtsextreme oder pädophile Inhalte in nenneswertem Ausmaß gibt.
Oder ob unsere Geheimdienste Problem basteln, mit denen die Regierung Schlagzeilen macht und Geheimdienste und BKA Budgets und Personal rechtfertigen?
Überhaupt nicht nachvollziehbar ist, wenn die Regierung diesen Sumpf auch noch unter den Teppich kehren will, und „aus Geheimhaltungsgründen auch dem Parlament keine weitergehenden Informationen “ geben will. Regierung und Geheimdienste müßten – wollten sie wirklich Kriminalität eindämmen – sogar sehr an Öffentlichtkeit interessiert sein: Zur Abschreckung. Geheimhaltung nutzt nur der Regierung und den Geheimdiensten. Wenn die nämlich weiterhin das Internet verseuchen und dann behaupten, dort „aufräumen“ zu müssen.