Wochenrückblick KW 43Staatstrojaner für alle

Das Bundeskabinett bringt den Staatstrojaner für alle deutschen Geheimdienste auf den Weg. Die Reform des BND-Gesetzes lässt besseren Schutz der Pressefreiheit vermissen. Im EU-Rat macht sich Deutschland für mehr Überwachungskompetenz bei Europol stark. Die Themen der Woche im Überblick.

Süßes Tapir
Ein besonders glücklickes Tapir freut sich ’nen Ast. CC-BY-ND 2.0 Tambako The Jaguar

Wir starten ins Ende einer Woche, in der das Bundeskabinett wieder ein krasses Überwachungsgesetz auf den Weg gebracht hat. Allen 19 Geheimdiensten in Deutschland soll der Einsatz von Staatstrojanern erlaubt werden. Noch im März, als wir den ersten Referentenentwurf aus dem Bundesinnenministerium veröffentlichten, sprach sich die SPD-Spitze dagegen aus.

Jetzt hat sie sich offenbar mitsamt Deutschlands mächtigster Netzpolitikerin Saskia Esken auf einen Kompromiss eingelassen, bei dem sich Bundesinnenminister Horst Seehofer von der CSU durchgesetzt hat. Ob nun Quellen-TKÜ oder Online-Durchsuchung, die Geheimdienste des Landes dürfen zukünftig unsere Geräte hacken, um Kommunikation auszuleiten. Als nächstes geht das Gesetz in den Bundestag.

Reform des BND-Gesetz

Die Reform des BND-Gesetz wird von einer regen Debatte bei uns in Form von Gastbeiträgen begleitet. Im Mai erklärte das Bundesverfassungsgericht das bisherige Gesetz für verfassungswidrig. Lisa Dittmer von Reporter ohne Grenzen warnt davor, dass der von uns geleakte aktuelle Vorschlag des Kanzleramts zur Reform des BND-Gesetzes ausländische Medienschaffende gefährdet. Er gesteht dem BND Definitionsmacht darüber zu, wer in den Genuss von Schutzrechten als „echte“ Journalist:in kommt. Die BND-Überwachung mit einem solchen Ermessensspielraum auszustatten, hat zahlreiche Gefahren, so ihre Analyse.

Der Journalist Daniel Moßbrucker sieht darüber hinaus im Referentenentwurf des BND-Gesetz ein neues Paradigma in der Überwachung ausländischer Medien. Sobald diese über Informationen verfügen, die für die Bundesregierung nützlich sind, können sie einer „politischen Überwachung“ unterworfen werden. Die Schutzrechte seien zu verwässert, um zu verhindern, dass die massenhafte Überwachung von Journalist:innen durch den BND beendet würde.

Rechtsextremismus in der Polizei

Für die Aufarbeitung des NSU-Komplexes gab es zahlreiche Untersuchungsausschüsse in Parlamenten. Diese reichen aber nicht aus, um aufzuarbeiten, wie die Polizeien und Geheimdienste „auf dem rechten Auge blind“ waren. Warum die Aufklärung des NSU in Ausschüssen scheiterte und was für die Ermittlungen aktueller rechtsterroristischer Netzwerke gefordert werden sollte, erläutert Caro Keller von NSU-Watch in einem Gastbeitrag.

Die Zustimmung der SPD zum Staatstrojaner-Dammbruch hat Seehofer offenbar mit seiner unsäglich lang zurückgehaltenen Zustimmung zu einer Rassismusstudie in der Polizei erkauft. Unser Kommentar zu der „Wischi-Waschi-Studie“ fällt allerdings enttäuscht aus. Statt das Problem des strukturellen Rassismus und Rechtsextremismus in den Polizeiorganisationen zu beleuchtet, soll nun das Verhältnis der Polizei und Gesellschaft untersucht werden. Die verbale Blendgranate Seehofer hat gezündet und längst dafür gesorgt, dass Polizeikritik soweit tabuisiert wird, dass sie nun die Opferrolle spielen darf.

Die Pläne der deutschen EU-Ratspräsidentschaft für Europol

Die Bundesregierung nutzt ihren Vorsitz im EU-Rat dafür, das Abhören von Telekommunikation durch Polizeien und Geheimdienste europaweit auszuweiten und die EU stärker einzubinden. Dafür will sie eine Arbeitsgruppe bei Europol einrichten, die auf eine Gruppe beim BKA zurück geht. Diese „Ständige Gruppe der Leiter der Abhörabteilungen“ soll nun in allen Mitgliedsstaaten der EU die operativen Fähigkeiten verbessern und grenzüberschreitende Überwachung koordinieren.

Außerdem setzt sich das Bundesinnenministerium für ein neues informelles einheitliches gesamteuropäisches Überwachungsnetzwerk ein. Bisher organisieren sich Polizeibehörden in drei regionalen Netzwerken zum Austausch über Technik und Methoden der heimlichen Beobachtung, unabhängig von der Europäischen Union. Die existierenden Netzwerke versucht Deutschland jetzt in der „European Surveillance Group“ mit Anbindung an EU-Mittel und Europol zusammenzuführen, um auf veränderte Kriminalitätsphänomene zu reagieren.

Darüber hinaus hat Deutschland im EU-Rat einen Vorschlag für ein „koordiniertes Verfahren“ für die heimliche Personenfahndung gemacht. Außereuropäische Geheimdienste sollen von Europol eine Hintertür eingerichtet bekommen, um Personen in Europa zur Fahndung ausschreiben zu lassen. Das äußerst fragwürdige Verfahren könnte die strenge Trennung von Geheimdiensten und Polizeien unterlaufen.

EU-Digitalpolitik

Mit großen Schritten geht es auf das Digitale-Dienste-Gesetz zu, das die Karten im Netz neu mischt. Den ersten Aufschlag für die Regeln für Online-Dienste wie Google, Facebook und Amazon für die nächsten Jahre will das europäische Parlament aber nicht alleine der Kommission überlassen. Mit Berichten macht das Parlament jetzt Druck auf den Gesetzentwurf der Kommission, um mit dem neuen Gesetz die Macht der dominanten Big-Tech-Konzerne über die Online-Öffentlichkeit und ihren Überwachungskapitalismus zu brechen. Kommissarin Margrethe Vestager zeigte sich offen.

Einfluss auf die Netzpolitik der Kommission hat offenbar auch die Drehtür zwischen EU-Kommission und Lobbyverbänden, wie der Fall eines Vodafone-Lobbyisten zeigt. Dieser hatte lange für die Kommission gearbeitet, dann für Vodafone die politische Arbeit übernommen, mit Rückkehrrecht auf die Regulierungsseite. Unsere Beschwerde bei der zuständigen Ombudsfrau fördert zu Tage: die Kommission verweigert zu unrecht Auskunft gegenüber uns über die Beziehungen zu ehemaliger Beamt:innen, die die Seiten gewechselt haben.

Die EU-Kommission hat sich auf eine neue Open-Source-Software-Strategie für 2020 bis 2023 festgelegt. Damit will sie in den eigenen Reihen die Kultur verändern, ob dies aber gelingt, wird von der Open-Source Community in Frage gestellt. Die Vorgaben seien zu schwach und die Wirkung nach außen nicht der erhoffte große Wurf. Allerdings erkennt die Kommission die Vorteile von freier und offener Software für die Verwaltung vollumfänglich an.

Plattformregulierung: Kartellklage, Skandal, Netzsperren

Google konnte so groß und dominant werden, weil es sein Monopol auf dem Suchmaschinenmarkt und mit dem Smartphone-Betriebsystem Android ausgenutzt hat. So lautet der Vorwurf der US-Regierung und einiger Bundesstaaten in einer Kartellklage gegen Google. Das Geschäftsmodell kommt jetzt gerichtlich auf den Prüfstand. Wir berichten ausführlich, welche Praktiken Google vorgeworfen werden und wie es weitergehen könnte.

Die britische Datenschutzbehörde legt ihren Abschlussbericht zum Cambridge-Analytica Skandal vor. Anlass für andere Medien, die Bedeutung einer der wichtigsten Enthüllungsgeschichten des Jahrzehnts herunterzuspielen. In unserer Bilanz wird allerdings die wirkliche Bedeutung der Enthüllungen deutlich, von der Brexit-Kampagne bis zur Wahl Trumps.

Netzsperren im Namen des Jugendschutzes, das plant die Medienaufsichtsbehörde NRW seit längerem. Die Offensive will zunächst gegen die freie Zugänglichkeit von Porno-Portalen vorgehen, indem sie die Portale zwingt, die Ausweise ihrer Nutzer:innen kontrollieren. Als nächste Eskalationsstufe könnten Netzsperren verhängt werden, die von Politiker:innen und Medienpädagog:innen als ineffektiv und unnötig kritisiert werden.

Und sonst so?

Corona-Verschwörungsmythen kursieren bei bestimmten Influencer:innen auf Instagram. Was sie verbindet: ein Modeunternehmer aus Hamburg. Der nutzt seine Kenntnisse des Influencer-Marketings, um die ganze Palette der Verschwörungserzählungen zu verbreiten – von QAnon bis zur Reichsbürgerbewegung – verpackt in eine Peace-and-Love-Rahmung. Andere Influencer:innen mit hunderttausenden Follower:innen machen es ihm mehr und mehr nach.

Bis Ende November sollen mehr als ein Dutzend Corona-Warn-Apps in Europa interoperabel sein. Den Anfang gemacht haben die deutsche, irische und italienische App, die seit dieser Woche die verschlüsselten Tracing-Daten über eine europäische Serverfarm in Luxemburg austauschen können. Frankreich stellt sich bislang quer, kündigte aber eine Neuauflage ihrer Corona-App an, die eventuell kompatibel werden könnte.

Unser Kolumnist Leonhard Dobusch, der im ZDF-Fernsehrat den Bereich „Internet“ vertritt, kritisierte diese Woche die Reaktion der öffentlich-rechtlichen Sender ARD und ZDF auf den Entwurf der Urheberrechtsreform. Die Sender machten diese Erklärung nämlich nicht alleine, sondern mit dem Verband der Privatsender zusammen. In dieser unheiligen Allianz könnten die Rechte professioneller Kreativen unter die Räder kommen, warnt Leonhard.

In unserem Netzpolitik Podcast NPP unterhält sich diese Woche Chris mit dem Blogger und Buchhändler Linus Giese. Er hat in seiner Autobiografie unter anderem verarbeitet, was sein öffentliches Outing als trans Mann im gegenwärtigen Klima in Sozialen Medien ausgelöst hat. Die beiden sprechen über seine persönliche Geschichte, aber auch über die Folgen und seine Motivation für die öffentliche Sichtbarkeit im Internet, von Empowerment bis zum Umgang mit Hassbotschaften.

Wir wünschen euch ein schönes Wochenende!

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