Internetpioniere warnen vor Uploadfiltern im Kampf gegen Terror

Ein dutzend prominenter Stimmen sprechen sich entschieden gegen den Gesetzentwurf der EU-Kommission aus, der die Verbreitung von mutmaßlich terroristischen Inhalten im Internet eindämmen soll. Uploadfilter und kurze Löschfristen könnten nur große Plattformen umsetzen, heißt es in einem offenen Brief an EU-Abgeordnete.

Rot-Grün-Verschiebung
Unscharfe Definitionen (Symbolbild) – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Matúš Kovačovský

Die von der EU-Kommission vorgeschlagene Verordnung gegen terroristische Inhalte im Netz werde das Internet in Europa beschädigen, ohne bedeutsam zum Kampf gegen den Terror beizutragen. Das schreiben ein Dutzend Internetpioniere und Innovatoren, darunter WWW-Erfinder Tim Berners-Lee, Wikipedia-Gründer Jimmy Wales und netzpolitik.org-Chefredakteur Markus Beckedahl, in einem offenen Brief an führende EU-Abgeordnete.

Gegen Terrorismus vorzugehen sei ein notwendiges politisches Ziel und das Internet spiele eine wichtige Rolle dabei, heißt es in dem Brief. Gleichzeitig müssten die unternommenen Schritte evidenz-basiert, angemessen und wohl begründet sein, um das gesetzte Ziel zu erreichen. Aus Sicht der Unterzeichner ist der Gesetzentwurf der Kommission jedoch nicht dazu geeignet, stattdessen werde er Grundrechte europäischer Internetnutzer beschneiden.

Uploadfilter und kurze Löschfristen

Der im Herbst vorgestellte Entwurf der EU-Kommission zielt darauf ab, mutmaßlich terroristische Inhalte aus dem Netz zu entfernen. Dies soll die Radikalisierung von Nutzern eindämmen und in einem weiteren Schritt dazu führen, dass weniger Terroranschläge verübt werden, führte jüngst die Justizkommissarin Věra Jourová gegenüber netzpolitik.org aus.

Umsetzen will die Kommission das mit einer engmaschigen Zensurinfrastruktur, die für alle in Europa tätigen Online-Dienste gelten soll. Innerhalb von nur einer Stunde müssten sie auf einen Hinweis von Behörden reagieren und mutmaßlich terroristische Inhalte auf ihren Plattformen sperren oder löschen.

Zudem sieht der Entwurf „proaktive Maßnahmen“ vor, also Uploadfilter, mit denen die Anbieter solche Inhalte direkt nach dem Hochladen erkennen, einschätzen und gegebenenfalls entfernen sollen. Im Falle von Verstößen kann der Einsatz von Uploadfiltern angeordnet werden, hohe Geldstrafen sollen für Abschreckung sorgen.

Gesetz schießt übers Ziel hinaus

Mit vier Punkten gehen die Unterzeichner besonders hart ins Gericht. Ein ungenaue Definition von „terroristischen Inhalten“ würde durch ihre „extreme Bandbreite“ dazu führen, dass im Zweifel zu viel als zu wenig gelöscht würde, auch journalistische oder wissenschaftliche Inhalte. Da die Verordnung für alle Anbieter gelten soll, also auch für Plattformen, die von solchen Inhalten nicht betroffen sind, sei sie unverhältnismäßig und würde weit übers Ziel hinausschießen.

Die kaum umsetzbare Löschfrist würde zudem insbesondere kleinere Anbieter hart treffen und neben befürchteten „Overblocking“-Effekten auch „große multinationale Plattformen“ stärken, die sich den Aufwand leisten könnten. Erst recht gelte dies für die „proaktiven Maßnahmen“, welche bestenfalls eine Handvoll von Anbietern selbst umsetzen und an kleinere lizenzieren könnten.

„Der Vorschlag legt die Latte so hoch, dass sie nur von den größten Plattformen bewältigt werden kann“, schreiben die Unterzeichner. Darüber hinaus riskiere der Einsatz der bis auf Weiteres mangelhaften Technologie das Unterdrücken wichtiger Nachrichten, etwa Zeitungsartikel oder Berichterstattung aus Kriegsgebieten.

Unter diesen Gesichtspunkten müssten die EU-Abgeordneten darauf hinwirken, die „perversen Folgen“ des Entwurfs zu verhindern. „Zumindest muss jedes Gesetz dieser Natur deutliche stärkere Schutzmechanismen und eine Verhältnismäßigkeit beinhalten, die sicherstellen, dass große wie kleine Unternehmen die Vorgaben umsetzen und auf dem europäischen Markt konkurrieren können“.

Parlament vor entscheidender Abstimmung

Derzeit liegt der Entwurf im EU-Parlament, mehrere Abstimmungstermine im federführenden Innen- und Bürgerrechtsausschuss (LIBE) wurden aufgrund der weitreichenden Folgen des Vorschlags verschoben. Sollte sich in den nächsten Tagen ein Kompromiss finden, soll am kommenden Montag abschließend abgestimmt werden.

Während die EU-Mitgliedstaaten, auf die der Entwurf der Kommission zurückgeht, die Verordnung weitgehend unverändert und in Rekordgeschwindigkeit angenommen haben, gestaltet sich die Entscheidungsfindung im Parlament deutlich schwieriger. Beratende Ausschüsse haben etwa die Uploadfilter ersatzlos gestrichen oder ihnen zumindest die giftigsten Zähne gezogen.

Im entscheidenden LIBE-Ausschuss zeichnet sich ein Kompromiss ab, der statt „proaktiver“ lediglich „spezifische“ respektive zielgerichtete Maßnahmen sowie gewisse Erleichterungen bei der Löschfrist vorsieht – sehr zum Missfallen der Kommission, die ihren Entwurf am liebsten unverändert und noch in dieser Legislaturperiode unter Dach und Fach bringen möchte.

4 Ergänzungen

  1. „Sollte sich in den nächsten Tagen ein Kompromiss finden, soll am kommenden Montag abschließend abgestimmt werden.“

    Wie sollen sich da ein:e Abgeordnete:r geschweige denn die Öffentlichkeit eine Meinung bilden können, wenn bisher kein endgültiger Text vorliegt.
    Wenn dann ( könnte ja auch sein dass wieder Northstream 2 zu unerwarteten Kompromissen zwingt) endlich ein Text ausgemauschelt ist, dann soll möglichst Ruck Zuck abgestimmt werden.

    Ein Demokratie unwürdiger Vorgang.

    Dabei handelt es sich bei dem Gesetzesvorhaben um nichts anderes als eine massive Einschränkung der Meinungsfreiheit.

    Zur Erinnerung:
    Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
    Artikel 19
    Jeder hat das Recht auf Meinungsfreiheit und freie Meinungsäußerung; dieses Recht schließt die Freiheit ein, Meinungen ungehindert anzuhängen sowie über Medien jeder Art und ohne Rücksicht auf Grenzen Informationen und Gedankengut zu suchen, zu empfangen und zu verbreiten.

    GG, Art. 5 Abs. 1:
    Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“

    1. Bitte bei den Tatsachen bleiben: Die jeweiligen Entwürfe der Kommission und des Rats liegen selbstverständlich öffentlich vor. Das gilt auch für die IMCO- und CULT-Berichte wie auch für den LIBE-Berichtsentwurf. Siehe unsere bisherige Berichterstattung oder einfach direkt auf der Parlamentsseite.

      Der aktuelle Verhandlungsstand lässt sich einigermaßen einfach besorgen und liegt mir auch vor, und die Abgeordneten, die gerade verhandeln, kennen den Text natürlich auch. Wie sollte es bitte anders sein? Ich gehe zudem davon aus, dass sich alle (oder die allermeisten) LIBE-Mitglieder vor der Abstimmung selbst ein Bild machen.

      Wie auch immer der LIBE-Ausschuss abstimmen wird, der Text wird anschließend öffentlich gemacht werden. Wie es bei jedem legislativen Vorgang der Fall ist. Und danach stehen noch Abstimmungen über das Verhandlungsmandat, über den im (leider tatsächlich intrasparenten) Trilog verhandelten endgültigen Text an usw. usf.

      An dem Verordnungsentwurf gibt es einiges auszusetzen, Verschwörungstheorien braucht es dazu nicht.

  2. Du hast ja Recht, Tomas, aber der Brief der Netz-Pionier*innen (oder wie auch immer) ist leider auf Stand des Kommissionsvorschlages vom 12. September des letzten Jahres. Wenn du selber schreibst, dass dir der aktuelle Verhandlungsstand vorliegt, dann solltet ihr mal lieber darüber berichten. Letzter Stand: keine Referrals, keine Uploadfilter (sogar explizites Verbot, die als Behörde anzuordnen), keine grenzüberschreitenden Removal Orders (mega-wichtiger Punkt, auch mit Blick auf eEvidence), Duties or Care nur noch als „haltet euch an den Buchstaben dieses Gesetzes“. Als Problem bleibt die eine Stunde Reaktionszeit für Removal Orders, aber sogar da gibt es Erleichterungen. Und einen alternativen Kompromissantrag von Grünen und Linken. DER bräuchte etwas Aufmerksamkeit und Unterstützung. Hier haben die Mitte-Links-Fraktionen mit einem konservativen Berichterstatter, der ausnahmsweise mal das Internet versteht, wirklich exzellente Arbeit gemacht und fast alle grundlegenden Probleme rausverhandelt. Kann man auch gern mal loben. (Full Disclosure: Ich habe das für die Grüne Europafraktion mitverhandelt.)

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