Überwachungsgesamtrechnung: Vorratsdatenspeicherung ist der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt

ueberwachungsgesamtrechnungWir blicken auf ein Jahrzehnt zurück, das von Gesetzesverschärfungen gekennzeichnet ist, die technisierte Überwachung zum alltäglichen Standard hat werden lassen. Der eigentlich eher im geheimdienstlichen Bereich beliebte „Full take“ entwickelt sich langsam zum modus operandi, wie nicht nur die Neu-Einführung der Vorratsdatenspeicherung zeigt, bei der gesetzlich vorgeschrieben werden soll, die Metadaten der Kommunikation der gesamten Bevölkerung ohne jeden Anlass abzuspeichern.

Was macht das mit einer Gesellschaft, deren Menschen verpflichtet werden, biometrische Gesichtsbilder bei den Behörden abzugeben, deren Flugverbindungen abgespeichert werden und die wissen, dass hunderttausende Telefonate jedes Jahr abgehört werden und jede Kommunikationsregung in Datenbanken landet?

Ob sich solche Grundrechtseingriffe kumulieren, wird in der Rechtswissenschaft schon mehrere Jahre diskutiert. Man versucht, mit einer ganzheitlichen Sicht auf die technischen Überwachungstendenzen zu blicken.

Das Bundesverfassungsgericht hatte den Gedanken vor einigen Jahren angeregt, dass man eine Art Überwachungsgesamtrechnung aufmachen müsse. Als es im Jahr 2005 über den Einsatz des Global Positioning Systems (GPS) als Observationsmethode entschied, legte es erstmals Regeln für den zeitgleichen Einsatz von verschiedenen technischen Überwachungswerkzeugen gegen einen Verdächtigen fest und benannte Risiken einer viele Ebenen des menschlichen Umfeldes erfassenden Überwachung (BVerfGE 112, 304 (316-321)). Man müsse solche „additiven Grundrechtseingriffe“ mitbedenken und nicht nur die einzelne Maßnahme, um eine „Rundumüberwachung“ zu verhindern.

Bei der Einführung neuer Überwachungsmaßnahmen wie der Vorratsdatenspeicherung ist es also höchste Zeit, eine „Überwachungsgesamtrechnung“ aufzumachen, die nicht nur die einzelne gesetzliche Regelung zu betrachten, sondern die Fülle an Überwachungsregelungen und Befugniserweiterungen einzubeziehen. Professor Alexander Roßnagel von der Universität Kassel kommt zu dem Schluss, dass dies im Sinne der Grundrechte getan werden müsse:

Die Notwendigkeit, alle staatlichen Überwachungsmöglichkeiten auf ein Maß zu beschränken, bei dem die Freiheitswahrnehmung der Bürger nicht total erfasst und registriert wird, zählt sogar zur europarechtsfesten „verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland“. (Rossnagel, NJW 2010, Heft 18, pdf)

Ein sich an den Grundwerten der Verfassung orientierender Gesetzgeber müsste also korrigierend eingreifen, wenn sich verschiedene Überwachungsgesetze zu einem Gesamtbild fügen, das kaum noch überwachungsfreie Räume zulässt.
nsa-telefon
Was die Vorratsdatenspeicherung angeht, sollte man sich nicht nur aus Gründen der Gesamtschau der Überwachungsproblematik besinnen, sondern auch, weil Geheimdienste das Datenreservoir anzapfen werden. Außerdem öffnet sich mit der Vorratsdatenspeicherung eine Tür zu weiteren anlasslosen Datensammlungen. Die Humanistische Union hatte es anlässlich des Streits um den sog. Großen Lauschangriff gefordert, man solle

nicht wegen eines vermeintlichen Sachzwanges grundlegende Prinzipien unserer Verfassung preisgeben. Sicherheitspolitik, die fundamentale Freiheitsrechte beseitigt, verändert den demokratischen Verfassungsstaat.

Wenn Justizminister Heiko Maas im Rahmen seiner hilflosen Begründungsversuche zur Einführung der Vorratsdatenspeicherung von der „Wahrung der Verhältnismäßigkeit der Eingriffsintensität“ spricht, dann unterschlägt er den Effekt „additiver Grundrechtseingriffe“, die nämlich auch insgesamt verhältnismäßig sein müssen.

Dass der Staat Schutzpflichten hat, wenn es um die Wahrung der Grundrechte geht, wird in der derzeitigen Diskussion schnell unter den Tisch gekehrt. Es reicht nicht nur ein Reinigungseid. Der Gesetzgeber muss ordentlich begründen, warum er Überwachungsmaßnahmen plant und eben gleichzeitig einkalkulieren, ob sich diese Maßnahmen kumulieren.

Hans-Jürgen Papier, ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, hatte im letzten Jahr sogar vorgeschlagen, dass in Zukunft „Unterlassungen von Schutzpflichten einklagbar sein“ können sollen.

Die anlasslose Vorratsdatenspeicherung ist ohnehin nicht verhältnismäßig, aber sie einführen zu wollen, ohne wenigstens mal über das Gesamtbild der anderen anlasslosen Datensammlungen und der anderen technischen Überwachungspotentiale in ihrer Gesamtheit nachzudenken, zeugt schon von einer bemerkenswerten Ignoranz.

Lizenzen der Bilder: CC BY-SA 2.0 via flickr
Marcus Sümnick

15 Ergänzungen

  1. Wer hat das gesagt: Ich kann die Freiheit nicht schützen, wenn ich sie vorher abschaffe.

  2. Wenn die deutsche Bundesregierung darum bemüht ist Leib und Leben der Bundesbürger schützen zu wollen sollte sie Tempo 100 sofort einführen. Der Erfolg wird schon binnen eines Monats statistisch relevant feststellbar sein.

    Und wo – liebe Bundesregierung – finde ich denn bitte beim statistischen Amt die Rubrik „durch Terrorismus verletzte und getötete Bundesbürger“ ??? Wahrscheinlich auf Seite 0 …

    1. …allein die 10.-15.000 Tote pro Jahr durch resistente Krankenhauskeime wäre nen guter Beschäftigungsansatz für die Politik, da mal endlich konsequent zu handeln!
      Die zwei Terrortoten bisher sind da „Peanuts“ im Verhältnis! (kann Spuren von Ironie und Sarkasmus enthalten)

  3. @ Constanze

    Wäre es eine gute Idee, die Überwachungsmaschinerie mit Hilfe von Seitenkanalangriffen zu bremsen?

    All die überwachungskritischen Bedenken hinsichtlich Menschenrechten, Verfassung und Demokratie sind berechtigt, aber leider zu abstrakt für die meisten Leute.

    Man könnte doch die Ausgaben für Überwachung umrechnen. Oben hat jemand die tausenden Toten jährlich wegen Krankenhauskeimen genannt. Wenn man die Kosten z.B. für Vorratsdatenspeicherung in Krankenhausärzte und Pflegepersonal umrechnet, könnte man veranschaulichen, wie falsch die gesellschaftlichen Ressourcen verteilt werden.

    Überall herrscht Geldmangel. In Krankenhäusern herrschen Personalmangel, Zeitmangel, tödliche Behandlungsfehler und multiresistente Killerkeime. Hier könnte man wirklich Menschenleben retten. Warum ist die Regierung bei diesem Thema so inaktiv? Es geht doch um unsere Sicherheit! „Sicherheit über alles“ verspricht uns die Regierung doch ständig.

    1. Es geht nicht um Sicherheit, es geht um Kontrolle.
      Man möchte schließlich wissen, wer oder was die eigene Macht in Frage stellt.
      Die Rettung von Menschenleben ist der Soundtrack für gute Unterhaltung.

      1. @ „Politik als Inszenierung“

        Ach was! Da hast du mir aber jetzt so richtig die Welt erklärt du Schlaumeier! Wie mich solche sinnlosen Kommentare ankotzen! Was soll das? Wie bringt uns das weiter? Warum gibt es so viele destruktive Einsiedler hier bei NP.org und überall sonst im Internet, die alle Frust und Unzufriedenheit vor sich hertragen, aber NICHTS zum Besseren bewegen?

        Jeder Kommentar, der nicht praktische Hilfestellung (technisch, rechtlich, rhetorisch, politisch etc.) oder NEUE Informationen liefert, ist sinnlos und sollte von NP.org ausgeblendet werden! (Komplett löschen wäre ja Zensur, geht also nicht.)

        Ich könnte mich jeden Tag auskotzen über diese sinnfreien Trolle, Provokateure, Jammerlappen, Meckerliesen, Miesmacher, Schwarzmaler, Weltuntergangsbeschwörern, selbstbemitleidenden ARSCHLÖCHER!

        Nochmal: WAS SOLL DAS? Verschwendet nicht eure Kraft für solche beschissenden Kommentare! Nutzt eure Energie, um was zu ändern!

        Kapiert es endlich! Wenn ihr was ändern wollt, STEHT ENDLICH AUF UND BEWEGT EUREN FETTEN FAULEN ARSCH!

        PS: Was wollt ihr euch am Sterbebett sagen können? Was wird eure Lebensleistung sein? Die Dinge, die ihr ändern konntet oder es wenigstens versucht habt? Oder besteht eure Lebensleistung aus den Dingen, die ihr ERST GAR NICHT VERSUCHT habt?

      2. „Politik als Inszenierung“ ist eine ziemlich treffende Beschreibung des öffentlich wahrnehmbaren Teils von Politik. Diese Auffassung ist so gut, dass sie ins Mark trifft und Aufschreie erzeugt. Aufschreie jener, die das Kulissenschieben noch nicht bemerkt haben oder schlicht nicht sehen können/wollen.

        Den aktuellen Stand hoher politischer Theaterkompetenz konnte zuletzt in Elmau gesehen, bewundert aber kaum ausgepfiffen werden. Es war ein Gipfel der Zumutungen der besonderen Art. Wer es an die Sonderzone geschafft hat konnte die Differenz zwischen angeblichem demokratischem Anspruch und politischer Praxis erkennen.

        „Es reicht“ tatsächlich, die politische Gegenwart als Demokratie zu bezeichnen. Während einige mit guten Argumenten bereits eine post-demokratische Era ausrufen, betrachten andere Demokratie als Zukunftsprojekt (!). Beiden jedoch ist gemeinsam, dass Gegenwart die Bezeichnung demokratisch nicht (mehr) verdient.

        Ich hoffe, dass der Autor, der „Politik als Inszenierung“ zur Diskussion stellt sich nicht durch unflätige Anwürfe einschüchtern lässt, denn Schau und Spiel, wird selbst von gestandenen Politikern (leise und selten öffentlich) eingestanden. Manche sprechen gar von einer Parallel-Gesellschaft der politischen Szene, was nicht nur Abgehobenheit bezeichnet, sondern letztlich Diskriminierung von politischer Teilhabe offenbart.

        Da kann man letztlich seinen „trainierten Arsch“ so oft bewegen wollen, wie man will: Am Spiel einer geschlossenen Gesellschaft wird man nicht teilnehmen können – selbst wenn man es will. Übrig bleiben Spielwiesen, zur Wahrung einer Anschein-Demokratie. Für Systemgläubige gibt es gar Übungsräume(!) zur Ertüchtigung demokratischer Handlung, so wie es Übungsräume für jene gibt, die sich für eine Arbeit nach dem Sterbebett weiter qualifizieren können.

      3. @mir reichts
        Ich verstehe den Unmut. Ich denke aber das die angesprochene Kommentierungsart aus einer Situation von Frust und Ohnmacht erwächst. Mir geht es gleichfalls so. Die Zeiträume bis eine Veränderung greift ist zu lang. Ich denke da aktuell an die Herausgabe der Selektorenliste. Dieses ständige taktieren und unterbinden der Kontrollfunktion des Parlaments stinkt mir auch gewaltig. Der NSAUA wird, so sehe ich das inzwischen, bis zum Ende dieser Legislaturperiode im Amt bleiben, aber keine Selektorenliste einsehen. Die Bundesregierung lässt in quasi am langen Arm verhungern. Eine Klage auf Herausgabe der Liste nimmt zuviel Zeit in Anspruch. Vor Ende 2017 hast die keine Möglichkeit der Einflussnahme und bis dahin haben die Wähler ihren Unmut wieder vergessen. Und Druck auf die Regierung kannst du nur mithilfe der Medien ausüben. Mit wenigen Ausnahmen inzwischen ein zahnloser Tiger. Würden sie mal die Härte an den Tag legen wie in der Causa Wulff. de Maizere, Steinmeier und Co. wären dann schon längst aus dem Amt.

    2. Natürlich könnte man die Überwachungskosten umrechnen, sie erstmal überhaupt zu beziffern, wäre auch nicht verkehrt.

  4. Rechnungen, Nutzen und Nachteile:
    * Was kostet der nicht nur technisch, sondern auch finanziell exponentiell wachsende Sicherheits-Nachtwächterstaat angelsächsicher Prägung den Steuerzahler?
    * Wird im Zugriff soziale Komplexität differenziert oder entdifferenziert?
    * Welche menschlichen Kompentenzen werden bei dessen so arg innovativen Arbeitsumschichtungs- und -beschaffungsmaßnahmen an Humankapital gefördert (und welche nachhaltig generationsübergreifend zerstört)?
    * Was leistet dagegen das bekannte rheinische Modell und seine differenziertere Rahmensetzungskompetenz hinsichtlich Entstehungsherden und nachhaltigen sozialen Folgekosten?

    Das Alte steht nicht dem Neuen gegenüber. Das Neue wird nämlich nicht von Gott aus dem Nichts auf die Erde geworfen. Es entsteht hier aus dem bekannten. Vorhaltungen, das rheinische Modell und sein Umgang mit dem Sozialen sei veraltet bzw. man sei ‚konservativ‘ fallen meistens leicht auf die Sender zurück: Seit 15-25 Jahren wird das angelsächsische Modell immer wieder aufgekocht, selbst wenn es immer stärker tunnelblick-vereinfacht vor sich hin suppt. Aber es gilt ja noch immer *nicht* als ‚konservativ / altbacken‘ daß daraus immer nur ‚weiter so‘ wird und noch mehr Manpower und Finanzen investiert wird. ‚Passive‘ / reaktive, steinzeitliches ansprechenden Furcht- und Zittern-Szenarien lassen sich durch Mut zur gesellschaftlich differenzierterer Evidenzbasierung ‚aktivieren‘.

    Welchen Vorteile abseits von weiter so hat ein Modell, daß Mißtrauen generiert, stetig erweitert, nachhaltig weitgreifend entmächtigt und dessen Jobmaschine nicht nur direkt, sondern auch indirekt nur noch differenzlose soziale Tunnelblicke eröffnet, nachhaltig die humane Zukunft vergiftend und ohne jedes Gespür im sozialen Entstehen gesellschaftlicher Probleme. Gibt es denn wirklich keine Politik mehr? Oder was war noch mal deren Anlaß? Der größte Vorteil des angelsächsischen Modell scheint schlicht der zu sein, daß sich berufene Politiker in dessen unmittelbarer Nutzenoptimierungssicht wiederfinden und darüber vergiftet offenbar jedes Gespür für ihre ehemaligen Motivationen und gesamtgesellschaftliche politische Zukünfte verlieren. Dieses sozialefreie Individualismus-Gift realisieren scheints noch nicht einmal Parteien, wenn sie nicht gerade als Ein-Mann-Partei daherkommen wollen. Und brauchts das ernsthaft in Zukunft wieder?

    Macht endlich gesamtgesellschaftliche Folgerechnungen des digitalen Komplexes auf nach Art des Club of Rome für eine lebbare humane Zukunft für unsere Kinder und kommt endlich wieder aus dem ach so hyperaktiven angelsächsischen und / oder techno-libertären Scheuklappenblick raus. Politik braucht aktuell offenbar wieder strikte Ausnahmen, um andere Wege sichtbar werden zu lassen. Auch für die, für die bisher bereits gesorgt scheint. Auch die haben teils wohl Kinder. Und nicht nur in Gated Communities.

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