Funkzellenabfrage geht weiter: Jeder Berliner ist jedes Jahr zwei Mal verdächtig (Update)

Die umstrittene Massenüberwachung von Mobilfunk-Kommunikationsdaten geht in Berlin ungehindert weiter. Das geht aus Zahlen des Berliner Senats auf Antrag der Piratenfraktion hervor. Dadurch sollen überwiegend Diebstähle aufgeklärt werden, auch Drogendelikte werden mittels Funkzellenabfrage verfolgt.

Gestern wurden im Innenausschuss des Berliner Senats neue Zahlen zur Funkzellenabfrage der letzten vier Jahre veröffentlicht. Aus dem Scan der Tischvorlage für die Abgeordneten haben wir mal die Zahlen rauskopiert:

Anzahl Funkzellenabfragen

Zeitraum Verfahren mit FZA   durchgeführte FZA
2009 262 302
2010 278 338
2011 441 568
2012/01-07   128 200
Gesamt 1.109 1.408

 
Statistisch wird also in Berlin fast jeden Tag eine Funkzellenabfrage gemacht. Letztes Jahr waren die Zahlen besonders hoch.

Einzelfallauswertung

  • Verfahren 2009 bis 2012/04: 302
  • Datensätze: 6.619.155
  • Anschlussinhaberfeststellungen: 5.383
  • Verfahren mit neuen Ermittlungsanhalten: 116

Von 1.408 Funkzellenabfragen lieferte der Berliner Senat nur für 302 konkretere Informationen. Schon allein dabei wurden mehr als sechseinhalb Millionen Verbindungsdaten abgefragt. Hochgerechnet auf alle genannten Abfragen wären das mehr als 30 Millionen Datensätze.

Deliktsbereiche

Deliktsbereich Anzahl FZA
Qualifizierte Bandendelikte (§§ 243, 244 StGB)   215
Branddelikte (§§ 306 ff StGB) 33
Raub/Erpressung 31
Mord/Totschlag 15
Vergewaltigung 4
Betäubungsmitteldelikte 3
Schwerer Landfriedensbruch 1

 

Politisch begründet wird die Funkzellenabfrage immer wieder mit schwersten Straftaten gegen Leib, Leben oder die sexuelle Selbstbestimmung. In der Praxis fallen nur sechs Prozent aller Funkzellenabfragen unter diese Definition. Von den 302 „Einzelfallauswertungen“ sind nur 15 gegen Mord/Totschlag und vier gegen Vergewaltigung. Mehr als zwei Drittel der Funkzellenabfrage werden gegen Diebstahl und Einbrüche eingesetzt. Sogar gegen Drogen werden ganze Stadtteile gerastert.

Damit wird die Funkzellenabfrage weiter eingesetzt als wäre nichts gewesen.

Dabei wurde immer noch keine einzige betroffene Person je darüber informiert, dass ihre Mobilfunk-Daten bei der Polizei gelandet sind. Noch nichtmal die über 5.000 Anschlussinhaber/innen, deren Namen und Adressen eingeholt wurden, haben eine Benachrichtigung erhalten. Bereits im Januar hatten wir berichtet, dass das jedoch vorgeschrieben ist:

Keine einzige betroffene Person ist je darüber informiert worden. So hält man die Benachrichtigung für einen neuen Eingriff. Zudem sei eine Benachrichtigung gar nicht erforderlich, wenn nur die Rufnummer ermittelt worden ist. Außerdem war der Polizei ein “Interesse an einer Benachrichtigung nicht ersichtlich”.

Vor allem dieser Punkt erzürnte den Berliner Beauftragten für Datenschutz Dr. Alexander Dix. Die Gesetze sagen ausdrücklich, dass eine Benachrichtigung erfolgen muss und die Regel zu sein hat. Jede Nicht-Benachrichtigung müsse einzeln begründet werden. Zudem teilt er meine Einschätzung, dass man nicht nur die 960 Menschen, deren Namen und Adressen man ohnehin schon hat, benachrichtigen kann. Von den übrigen hat man ja bereits die Telefonnummer und im Gesetz steht nirgends, dass die Benachrichtigung per Brief erfolgen muss. Man könnte ja einfach mal anrufen.

Das sieht auch die Piratenfraktion so. Darüber hinaus will diese weiterhin die Funkzellenabfrage „erschweren“ und über eine Streichung diskutieren.

Update: Der Berliner Beauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit wird „in Kürze“ einen Prüfbericht zur Funkzellenabfrage veröffentlichen.

10 Ergänzungen

  1. „Wir wollen aber weiterhin verbrecherisch die Verbrecher jagen – scheiss doch auf Gesetze!“

    wäre ja fast komisch, wenn’s nicht einhelliger Tenor der Ermittlungsbehörden und Ministerien wäre.

  2. Würd mir wünschen dass dieses Thema – auch von netzpolitik – weiter verfolgt wird und deutlich mehr politischer Druck auf die Verantwortlichen ausgeübt wird. Es kann und darf einfach nicht sein, dass sich die Polizei mit „Interesse an einer Benachrichtigung nicht ersichtlich“ rausreden kann.

  3. Leider wird die Funkzellenabfrage solange so weitergehen, bis auf Grundlage der schlichten Masse und des grundrechtseinschränkenden Charakters ein Beweisverwertungsverbot für die Ergebnisse der Funkzellenabfrage und der darauf begründeten Beweismittel ausgesprochen wird.
    Also ewig.

  4. Was muss man sich denn eigentlich unter einer „Funkzellenabfrage“ genau vorstellen, eine Funkzelle, eine zusammen mit den benachbarten, alle berliner Funkzellen (ja, ich habs gelesen, ganze Stadtteile, oder doch die ganze Stadt ;), von allen Providern, nur nach einer bestimmten Nummer, nur nach Trollen oder einfach mal so drauf los … macht einen gewissen, um nicht zu sagen totalen Unterschied, wies im Detail aussieht, durch Bewegungsprofile kann man etwa eine deutlich genauere Aussage als 50 m Umkreis machen, da reichen Algorithmen von vorm Krieg.

    Sehr interessant wäre auch, was mit den gespeicherten Datensätzen passiert, passiert ist, und wieviele und welche Daten ein Datensatz enthält, auch ist mir die rechtliche Grundlage noch nicht so ganz klar, zum einen sind die Provider allesamt privat, zum anderen wird man auch in Gebäuden geortet, etwa in seiner privaten Wohnung, wenn die Technik so weiter macht auch bald auf den Meter genau beim Psychoonkel auf der Couch, oder beim Frauenarzt, oder der Polizist im Etablissement des ältesten Gewerbes der Stadt, womöglich zusammen mim OB, oder werden die womöglich gar nicht gescannt, so als unverdächtige Gutmenschen … hm.

  5. Vielen Dank! Hab kein Handy/Smartphone und das bleibt auch die nächsten 1000 Jahre so. Solche Bestätigungen tun immer wieder gut. Den man wird deswegen schon heftigst angefeindet.

  6. Aller guten Dinge sind drei – weitersuchen will ich grade nicht.
    Die OSM-Attributierung hier ist da, aber mindestens mangelhaft.
    1) fehlt weiterhin der Link zu OSM und zur Lizenz
    2) Ist die Attributierung nur für den aufmerksamen Zuschauer überhaupt lesbar, für Software – ob Bots oder Screenreader – überhaupt nicht.
    3) ist das ganze so klein, dass auch der interessierte Zuschauer mehr wissen muss, was da steht, als dass er das wirklich lesen könnte.

  7. Vielen Dank für das Material und das ihr dran bleibt :)

    Mich würde mal wirklich interessieren, was da technisch im Detail passiert, damit ich die Zahlen besser einordnen kann.
    Wird bei einer Anfrage nur eine einzelne Funkzelle (oder Basisstation mit n Funkzellen) eines Anbieters, oder gleich alle Anbieter eines Bereichs abgefragt?
    Dabei wird vermutlich eine Liste aller eingebuchter Geräte und Sim-Karten geliefert, oder auch gleich die KundenIDs bzw. deren Klarnamen?
    Was ist eigentlich mit der Statusinfo des Handys zu diesem Zeitpunkt (idle, SMS; Gespräch, …)?
    Wie wird das tracken der Leute durch wiederholte Abfrage und Zellwechsel vermieden?

    Kurzum mir ist da die Bezeichnung „Datensatz“ etwas zu weich. Ich kann mir auch nicht so recht vorstellen, wie man damit Vergewaltiger aufspüren soll. Da müsste ich zu dem Areal in dem das passiert ist ja alle Anbieter fragen welche Handys+SIMs im fraglichen Zeitraum dort waren und deren Namen ermitteln. Und all die wären dann automatisch verdächtig und müssten zu einer Gegenüberstellung (so keine Akten vorliegen)? Klingt irgendwie nicht wirklich hilfreich für solche Delike, genauso wie für Diebstahl etc.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.