Vorratsdatenspeicherung: Data-Mining und der „Datenraum“

Wie aktuelle Beispiele zeigen, ist der beste Datenschutz noch immer Datenvermeidung. Denn wenn Datensätze einmal existieren, werden sie allzu oft zweckentfremdet genutzt. Auch die Vorratsdaten wecken Begehrlichkeiten bei „Bedarfsträgern“ und Profilern. Welche Möglichkeiten diese Datenberge für Data-Mining-Techniken bergen, ist nur schwer vorstellbar.

Diese Gefahr versucht Oliver Leistert in seinem Paper Data Retention in the European Union: When a Call Returns in der aktuellen Ausgabe des International Journal of Communication zu illustrieren. Er argumentiert, dass uns die Sprengkraft digitaler Datenberge wie die der Vorratsdatenspeicherung gar nicht genügend bewusst ist, weil wir keine bildliche Vorstellungskraft dafür entwickeln können. Um diesen Mangel anzugehen, schlägt er die Metapher „Datenraum“ (data space) vor, zu dem die über Monate gesammelten Verbindungsdaten bei einer Gesamtbetrachtung werden. Eine Datenbank mit dem chronologischen Abbild sämtlicher Kommunikationsvorgänge wird navigierbar durch Raum und Zeit und bekommt damit eine ganz neue Bedeutung.

Eine einfache Übersetzung des Abstracts:

Digital vorgehaltene Metadaten von Telekommunikationsverbindungen verwandeln sich durch ihre Vorhaltung in ein Überwachungs-Programm. Ursprünglich ledglich eine technische Notwendigkeit, werden Metadaten mit der Vorratsdatenspeicherung in einen „Datenraum“ gefüttert, der die Zeit-Achse manipulierbar und navigierbar macht. Diese Massnahme ist dabei nur ein Beispiel für die Errichtung von Post-9/11 Überwachungs-Technologien, die nicht mehr traditionell wie eine Kamera beobachten, sondern die Bevölkerung mittels Computern regelrecht prozessieren und verarbeiten. Da diese Datenverarbeitung noch relativ jung und nur schwer sinnlich vorstellbar ist, sind deren Mächtigkeiten nicht ausreichend reflektiert, geschweige denn im allgemeinen Verständnis verankert. Um die Mächtigkeit der Vorratsdaten bildlich vorstellbar zu machen, wird die Metapher eines „Datenraums“ ausformuliert, in dem Bewegungen zwischen und innerhalb von Daten möglich sind.

Das Paper ist recht akademisch, der Autor führt viele interessante Gedankengänge und Zusammenhänge aus. Er erläutert die unterschiedliche Bedeutung von Kommunikationsdaten für Maschinen und Menschen und illustriert das am Beispiel von IP-Adressen und Domains. Wenn diese beiden symbolischen Welten jedoch miteinander verschmelzen, produzieren sie etwas Neues. Dabei entsteht ein in Zeit und Raum navigierbarer, also vierdimensionaler „Datenraum“. Ortsdaten wie die Funkzellendaten von Mobiltelefonen stellen dies besonders plastisch dar, damit können Bewegungen visualisiert und in eine navigierbare Form gebracht werden.

Für Profiler ist dieser Datenraum ein Schatz. Brachte die bisherige Beobachtung der Kommunikation von Einzelpersonen jeweils sternförmige Topologien zustande, kann man jetzt Netzwerke mit potentiell endloser Tiefe generieren. Mit der enormen Rechenkraft moderner Computer ist sogar eine mehr als vier-dimensionale Datenwelt möglich, da jede topologische
Konstruktion berechenbar wird. Mit weiteren statistischen Methoden werden aus diesem präzisen Abbild der Vergangenheit sogar Prognosen für die Zukunft.

Den historischen Inbegriff des allgegenwärtigen Überwachungsstaats, das Panoptikum, hält der Autor jedoch hierfür für unzureichend. Da der Einzelne im Panoptikum nie wissen konnte, ob er gerade überwacht wird, verinnerlichte er deswegen ein konformes Verhalten, als ob er überwacht würde. Die aktuelle sicherheitspolitische Entwicklung seit 9-11 kann jedoch besser mit dem Begriff des Panspectron beschrieben werden. Dabei werden erst einmal so viel wie möglich Daten ohne einen Anfangsverdacht gesammelt. Einzelne Individuen tauchen dann nur noch auf, wenn konkrete Fragen (mittels Data Mining) beantwortet werden müssen.

Das große Problem dabei ist jedoch, dass den Überwachten das Bewusstsein dafür fehlt.

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