Patriot Act à la française: Braucht Frankreich weitere Überwachungsmaßnahmen?

source:laquadrature.net

Nur zwei Wochen nach den Anschlägen in Paris kündigte die französische Regierung ein ganzes Bündel von Sicherheitsmaßnahmen an, um im Zuge des „Kriegs gegen den Terror“ aufzurüsten. Aber braucht das Land überhaupt weitere Gesetze?

Unsere Nachbarn haben bereits seit über zehn Jahren die Vorratsdatenspeicherung, flächendeckende Videoüberwachung (die dort Videoschutz heißt) und auch die Fluggastdatenüberwachung wurde massiv vorangetrieben. Und jetzt, nach #CharlieHebdo, wird weder der eingeschlagene Weg in Frage gestellt noch werden bereits existierende Mittel evaluiert. Ganz im Gegenteil, Frankreichs Premierminister Manuel Valls kündigte an, dass Frankreich in einer „außerordentlichen Situation mit außerordentlichen Maßnahmen“ reagieren müsse. Aus der Opposition wurden sogar Stimmen laut, die eine Art PATRIOT Act forderten:

Die französische Regierung kündigte letzte Woche eine Liste aller geplanten Maßnahmen an, hier die für uns relevanten:

  • 735 Millionen Euro in den kommenden drei Jahren für die innere Sicherheit,
  • 2680 neue Arbeitsstellen – davon 1100 in Geheimdiensten,
  • Fluggastdatenspeicherung (PNR), geplant im September 2015 (Frankreich bekam von der EU-Kommission hierfür bereits 17 Millionen EUR),
  • eine neue Datenbank für Personen, die wegen des Verdachts auf Terrorismus verfolgt oder verurteilt wurden,
  • ein neues Geheimdienstgesetz («loi sur le renseignement») um das Abfangen von Kommunikationen zu erleichtern, geplant im April 2015
  • Websperren für Behörden, ohne Richterbeschluss (Durchführungsverordnung des Anti-Terror-Gesetzes vom November 2014)
  • „größere Verantwortung“ für Internetdienste und verstärkte „Kooperation“ mit Unternehmen.

Einzelne Details für den Bereich der Netzpolitik sind noch nicht bekannt – was die „generelle Mobilmachung gegen den Terrorismus“ bedeuten wird, lässt sich lediglich aus den Äußerungen des Innenministers Bernard Cazeneuve erahnen. Während eines Treffens der EU-Innenminister rief Cazeneuve zur verstärkten Überwachung des Internets auf, was unter anderem schnellere Vorgänge zur Löschung illegaler Inhalte sowie Verherrlichungen von Terrorismus, Gewalt oder Hass beinhaltet.

Gegenüber der französischen Presse erklärte er:

Wir haben sehr stark hervorgehoben, dass wir eine verstärkte Kooperation mit Internet-Unternehmen brauchen, um die Meldung und Löschung von illegalen Inhalten und besonders jenen Inhalten zu garantieren, die Terrorismus verherrlichen oder zur Gewalt aufrufen. Die EU-Kommission wird Initiativen in diese Richtung starten und wir hoffen, dass diese verabschiedet werden.

Hier wird man unweigerlich an Artikel 27 ACTA (siehe EDRi Analyse, pdf) erinnert, der eine solche „Kooperation im Wirtschaftsleben“ forderte, um mit privatisierten Maßnahmen ohne richterlichen Beschluss oder Gesetzen das Urheberrecht durchzusetzen. Dieser Logik schließt sich auch Premierminister Valls an, der nun den „moralischen Druck“ auf Internetdienste erhöhen möchte. Er erinnerte nur einige Tage später die versammelten Repräsentanten von Facebook, Google und Twitter während des Internationalen Cybersecurity Forums (FIC 2015) in Lille an ihre „Aufsichtsrolle“.

Zweifelsohne eine Überreaktion: Denn die Radikalisierung der Brüder Kouachi und Amedy Coulibaly fand nicht über das Internet statt. Im Gegenteil: Chérif Kouachi war Teil der „ Buttes-Chaumont“-Gruppe, die den Namen des Pariser Viertels trägt, wo bereits mehrere islamistische Mentoren zu Besuch waren. Dann wurde er während seines ersten Gefängnisaufenthaltes vom Salafisten Djamel Beghal unterrichtet. Seine Internet-Nutzung limitierte sich bekanntermaßen auf Seiten, die den Gebrauch von Waffen erklärten. Amedy Coulibably lernte Chérif Kouachi in Fleury-Mérogis kennen, dort landete er wegen wiederholten Diebstahls und Drogenhandels. Laut Polizeiberichten nutzte er lediglich Online-Pokerseiten.

Die lange Liste der französischen Überwachungsmaßnahmen

Aber zurück zu Frankreichs Überwachungsmaßnahmen. Dort wurde seit 2001 eine beträchtliche Anzahl an Gesetzen zur inneren Sicherheit verabschiedet. Es scheint also, als sei in Frankreich viel Geld ausgegeben worden, als seien viele Mühen der Gesetzgeber dafür draufgegangen, ineffiziente, unverhältnismäßige Maßnahmen abzunicken, anstatt auf Prävention, Integration und gezielte Ermittlungen zu setzen. Hier eine Übersicht:

2014

Im November 2014 verabschiedete die Nationalversammlung ein Anti-Terrorismus-Gesetz (text). Das Gesetz führt Internetsperren für „terroristische Inhalte“ ein – ohne klare Kriterien oder Richtervorbehalt.

Im März 2014 zeigten neue Snowden-Dokumente, dass der französische Geheimdienst bereits umfassend und ohne Kontrolle Bürger belauschen kann. Profitiert haben sie dabei von der Hilfe der Telefongesellschaft France Télécom/Orange.

Im Februar 2014 erhielt Frankreich von der EU-Kommission 17 Millionen EUR für eine Vorratsdatenspeicherung von Fluggastinformationen. Diese Unterstützung scheint geholfen zu haben, das System soll im September 2015 an den Start gehen, obwohl das EU-Parlament noch gar nicht über einen EU-Vorschlag abgestimmt hat.

2013

Frankreich führte im Dezember 2013 ein neues Militärplanungsgesetz eingeführt, das das Abfangen von Daten ohne eine vorherige richterliche Verfügung erlaubt (LPM, Loi de programmation militaire 2014-2019). Durch Artikel 20 erhalten nicht nur Militärstellen und Polizei, sondern auch das Wirtschafts- und Haushaltsministerium Zugang zu Verbindungsdaten, ohne dass es dafür einer richterlichen Verfügung bedarf.

2011

Im Februar 2011 wird in Frankreich die EU-Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung umgesetzt (text) – gespeichert werden Passwörter, IP-Adressen, Pseudonyme, E-Mail-Konten, Telefonnummer etc.

Im März 2011 wird das Gesetz „LOPPSI 2“ (Loi d’Orientation et de Programmation pour la Performance de la Sécurité Intérieure) verabschiedet, inklusive Internetsperren, Verlängerung der Online-Durchsuchung, Erweiterung der Datenbanken der Polizei (u.a. durch genetische Informationen), Einführung von Ganzkörperscannern, verstärkte Kameraüberwachung (Ende 2011 soll eine Zahl von 60.000 Kameras erreicht werden – Budget: 23 Millionen €uro), Ausgangssperre nach 23 Uhr für Jugendliche unter 13, Einsatz von Trojanern und Keyloggern auf verdächtigen Computern.

2009

Das Gesetz zur Videoüberwachung von 2007 wird von der Durchführungsverordnung (décret) vom 22. Januar 2009 in die Praxis umgesetzt.

Frankreich verfügt im Jahr 2007 über 36 Polizeidatenbanken, zwei Jahre später sind es bereits 45.

2006

Im Januar 2006 wird das Gesetz zur Terrorismus-Bekämfung angenommen (LCT, la loi relative à la lutte contre le terrorisme), welches die Vorratsdatenspeicherung von Kommunikationsdaten auf Cybercafés ausweitet.

Dekret Nr 2006-358 vom 24. March 2006: Kommunikationsdaten müssen von allen Netzbetreibern für ein Jahr auf Vorrat gespeichert werden.

2004

Im Juni 2004 wird das Gesetz für das Vertrauen in die digitale Wirtschaft angenommen (LCEN, la loi pour la confiance dans l’économie numérique), welches die Vorratsdatenspeicherung auf Hostingprovider und Plattformbetreiber ausweitet.

2003

Im März 2003 wurde das Gesetz zur inneren Sicherheit verabschiedet (LSI, Loi Sarkozy II).

Außerdem wird das Gesetz von 2001, das eine Ausnahmeregelung bleiben sollte, durch eine Änderung auf unbestimmte Zeit verlängert.

2002

Im August 2002 wird das Gesetz zur Programmation der inneren Sicherheit (LOPSI, loi d’orientation et de programmation pour la sécurité intérieure) angenommen, was zur Zusammenführung mehrerer Datenbanken führte.

2001

Nach 9/11 wurde eine vorrübergehende Maßnahme zur Stärkung der „täglichen Sicherheit“ (LSQ) verabschiedet, die eigentlich nur bis Ende 2003 laufen sollte. Dieses Gesetz führte die Vorratsdatenspeicherung von Kommunikationsdaten ein.

16 Ergänzungen

  1. Im Text wird von der in Frankreich „flächendeckende[n] Videoüberwachung (die dort Videoschutz heißt)“ gesprochen.
    Das Wort „Videoschutz“ wird allerdings auch in Deutschland gebraucht.
    In vielen Regionalbahnen werden die Überwachungskameras durch die Aufkleber mit dem Text „Mit Videoschutzanlage ausgerüstet“ dokumentiert.

    1. In Frankreich ist der Neusprech-Begriff „Videoschutz“ mit dem Sicherheitspaket „LOPPSI 2“ im Jahr 2011 gesetzlich verankert worden. Siehe auch Le Monde.

  2. Na zum Glück leben in Frankreich nur knapp 66 Mio. Terroristen und nicht über 80 Mio wie hierzulande…
    Außerdem lässt sich mit Angst so gut Politik machen, da wären doch wirksame Maßnahmen eher kontraproduktiv?

  3. War doch zu erwarten. ABM, gegen die jetzt keiner was sagen kann.

    Mehr Sorgen macht mir eigentlich die französische Atomflotte im Golf. War m.E. blöd die in der derzeitigen Anspannung losschippern zu lassen. Wenn da irgendwas passiert und die ticken aus, das wäre nicht witzig.

    janes.com/article/47824/charles-de-gaulle-to-sail-for-gulf-possible-participation-in-islamic-state-air-strikes

  4. Die sollen mal „ihre“ Algerier (genauer Franzosen algerischer Abstammung) besser behandeln. Unter den sogenannten Français de souche (Blutsfranzosen) gelten die maghrebinischer Einwanderer als „gueule d’Arabe“ = Araberfresse und der Umgang ist dann auch entsprechend. Da reicht jedesmal eine Kleinigkeit und es knallt wieder.

    siehe auch Artikel in der FAZ von 2005
    http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/frankreich-der-minister-aus-der-banlieue-1281743.html

  5. OT: Muss das eigentlich sein mit dem direkt einbinden von Twitter Zitaten? Da würde doch auch ein ganz normales Zitat im Artikel reichen. Ich find das jetzt nicht so toll, dass Twitter protokollieren kann was für Artikel ich so lese…..

  6. Vielen Dank für die Zusammenfassung Netzpolitik !

    * Ergänzend möchte ich noch anmerken, das die Anzahl der Überwachungsanfragen nach Wegfall des Richtervorbehalts ( http://m0.libe.com/infographic/2014/11/25/62cccecd-2851-4e21-ad4f-16b5f8f1a7cf.svg , Vergleich vorher/nachher. In diesem Fall ist „demain“ bereits heute :-) ) wie von vielen antizipiert, explosionsartig angestiegen ist. So explosionsartig, das sich die zuständige Überwachungsbehörde „Commission nationale de contrôle des interceptions de sécurité“ (CNCIS, also die Überwacher der Überwacher) veranlasst sah Alarm zu schlagen. Die Zahlen sprechen für sich:
    – 2012, 6.145 Anträge
    – 2013, 6.182 Anträge
    – 2014, >350.000 Anträge
    ( http://www.liberation.fr/politiques/2015/01/23/ecoutes-la-commission-de-controle-debordee_1187468 ).
    Leider werden zukünftige Zahlen schwerer zu ermitteln sein, da Teile des Überwachungsapparates seit 11/2014 dem Militär zugeordnet wurden. D.h. sie fallen seither unter – secret défense – und werden damit nicht mehr veröffentlicht.

    * apologie publique du terrorisme:
    Seit 7.1.2015 sind wegen „öffentlicher Verherrlichung von Terrorismus“, >150 Verfahren eröffnet worden, welche bedingt durch das in Frankreich mögliche schnelle Aburteilungsverfahren bereits in Vollzug sind. Darunter befinden sich, nach meiner Ansicht, einige bizarre Fälle.
    ( http://www.liberation.fr/societe/2015/01/19/cent-cinquante-procedures-en-deux-semaines_1184250 , und auch http://www.lemonde.fr/police-justice/article/2015/01/19/des-peines-tres-severes-pour-apologie-du-terrorisme_4558796_1653578.html )

    * Amerikanischer Patriot Act vs. Patriot Act à la française, ein Vergleich
    Conclusion: „En réalité, la France est même plutôt « en avance », avec son respect légendaire des droits de la défense et des mesures comme le blocage administratif des sites ou le délit d’apologie du terrorisme, impensables aux États-Unis.“
    ( https://blogs.lexpress.fr/passe-droits/patriot-act/ )

    In diesem Sinne, « Pour votre sécurité, vous n’aurez plus de libertés » ,
    Bernd

      1. Eine Strafanzeige, über die heute berichtet wird, muss ich noch nach legen :
        Un enfant de 8 ans au commissariat pour «apologie du terrorisme»
        http://www.liberation.fr/societe/2015/01/28/un-enfant-de-8-ans-au-commissariat-pour-apologie-du-terrorisme_1190778

        Einen Tag nach den Morden, am 8.1.15 wurde der 8 jährige Ahmed, während über die Vorfälle am Vortag diskutiert wurde, vom Lehrer gefragt: «Êtes-vous Charlie ?» Ahmed verneint. „Warum nicht?“, will der Lehrer von ihm wissen. Antwort: «Parce qu’ils ont caricaturé le prophète. Moi, je suis avec les terroristes.»
        Der Lehrer meldet den Vorfall dem Direktor. Der spricht einen Verweis aus.
        Hier könnte die Geschichte eigentlich enden … doch der Direktor legt am 21.1. mit einer Strafanzeige gegen den Schüler und seinen Eltern nach. Vorwurf „Verherrlichung von Terrorismus“.
        Interessant sind auch die Auszüge aus dem Vernehmungsprotokoll des Schülers, die der Anwalt der Familie via Twitter veröffentlichte.

  7. Überwachungsmaßnahmen im weitersten Sinne gedacht: Rüstungsindustrie
    In Deutschland wurden strengere Regeln und Maßnahmen getroffen, um nicht jedem eine Waffe verkaufen zu können. In vielen Ländern sind diese Regelungen noch immer zu locker. Dazu gehört auch Frankreich. KMW ein Traditionsunternehmen möchte in naher Zukunft mit Frankreich, Nexter fusionieren. Was die hier machen wollen leuchtet doch sofort ein. Die wollten die deutsche Regierung und ihre Maßnahmen aushebeln, da Frankreich viel offenere Rüstungsregeln hat als Deutschland. An dieser Stelle sollten Regierungen auch ansetzen und nicht uns nur zu zu müll’n mit wir müssen alle Bürger überwachen….denn es ist ja für Ihre Sicherheit.

  8. Charlie Hebdo wird sich im Grab umdrehen, bzw froh sein nicht miterleben zu müssen wie Ihr Unglück auf diese weise instrumentalisiert wird.

  9. Gibt es eigentlich Untersuchungen über die Auswirkungen der Vorratsdatenspeicherung auf die Internetnutzung in Frankreich?

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.