Schweiz gegen Chatkontrolle„Niemand wird sich der Kontrolle entziehen können“

Obwohl das Land kein Teil der EU ist, stimmt der Nationalrat des Schweizer Parlaments gegen die Chatkontrolle. Das Votum macht klar, dass die geplante Verordnung nicht nur EU-Bürger*innen betrifft. Auch in anderen europäischen Staaten stimmte das Parlament gegen den Plan der EU-Kommission.

Die Schweizer Abgeordnete Judith Bellaiche sieht die überwältigende Mehrheit des Nationalrats hinter sich – und fordert die Regierung auf, sich gegen die EU-Chatkontrolle zu stemmen. – Alle Rechte vorbehalten www.swico.ch / Schweizer Nationalrat / Montage: netzpolitik.org

Der Nationalrat des Schweizer Parlaments will das eigene Land vor der sogenannten EU-Chatkontrolle beschützen. Mit überwältigender Mehrheit fordert der Nationalrat die Regierung auf, die Einwohner*innen der Schweiz vor der Überwachung ihrer privaten digitalen Kommunikation zu schützen und das Recht auf Privatsphäre durchzusetzen. Es ist nicht das einzige Parlament in Europa, in dem es Widerstand gegen das umstrittene EU-Vorhaben gibt.

Chatkontrolle widerspricht Schweizer Verfassung

Im letzten Jahr hatte die EU-Kommission einen Verordnungsvorschlag eingebracht, der sexuellen Missbrauch an Kindern bekämpfen soll. Dieser sieht vor, dass private Anbieter zum Scannen privater Kommunikation verpflichtet werden können. Die Verordnung betrifft alle Unternehmen, die ihre Dienste in der EU anbieten. Dies ist ein Grund für den Antrag im Nationalrat des Schweizer Parlaments. „Niemand wird sich dieser Kontrolle entziehen können, auch wir in der Schweiz nicht, denn jeder Dienst, der irgendwie in der EU tätig ist, wird von dieser Kontrollpflicht erfasst“, sagte die Abgeordnete Judith Bellaiche in der Rede zu ihrem Antrag.

In diesem Antrag heißt es weiter: „Rund um die Uhr soll der gesamte elektronische Verkehr unbescholtener Menschen mit einer noch zu definierenden Technologie überwacht werden. Darin fallen ganz alltägliche Nachrichten, Familien- und Ferienfotos, private und intime Videos, aber auch der vertrauliche Austausch zwischen Unternehmen, Mitarbeitenden und Kunden.“ Dies widerspreche dem in der Schweizer Verfassung verankerten Recht auf Schutz der Privatsphäre. „Der unverhältnismäßige und andauernde Eingriff in unsere persönliche Freiheit lässt sich durch nichts rechtfertigen, auch nicht durch die legitime Bekämpfung von Kinderpornografie“, so die Grünliberale Bellaiche.

Den Antrag hat der Nationalrat am Montag mit einer Dreiviertel-Mehrheit angenommen (144 Ja-Stimmen, 24 Nein-Stimmen, 21 Enthaltungen). Damit stimmte die Mehrheit der Nationalrät*innen gegen die Position der Schweizer Regierung, dem Bundesrat. Dieser hatte auf die laufenden Verhandlungen in der EU zur Chatkontrolle verwiesen. Außerdem behauptet der Bundesrat: „Eine kontinuierliche, anlasslose staatliche Überwachung digitaler Kommunikation ist im Vorschlag der EU-Kommission nicht vorgesehen.“ Tatsächlich sieht der Kommissionsentwurf vor, dass nach einer behördlichen Anordnung alle Nachrichten bestimmter Anbieter automatisch gescannt werden, um zu entdecken, ob sie Darstellungen von Kindesmissbrauch enthalten oder ein Versuch von Grooming sind.

Der Nationalrat ist die große Kammer des Schweizer Parlaments. Damit der Antrag („Motion) für die Schweizer Regierung bindend wird, muss auch die andere Kammer, der Ständerat, zustimmen.

Österreich und Niederlande

Auch in anderen europäischen Parlamenten gab es Widerstand gegen die „Verordnung zur Festlegung von Vorschriften zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern“.

In Österreich hat der EU-Unterausschuss des Nationalrats Ende 2022 eine Stellungnahme zur Chatkontrolle verabschiedet. Darin fordern die Parlamentarier*innen den Ausschluss von allgemeinen Überwachungspflichten für Online-Dienstanbieter sowie den Schutz von Ende-Zu-Ende-Verschlüsselung. Die Stellungnahme ist für die österreichische Regierung prinzipiell bindend.

In den Niederlanden hat die zweite Kammer – gegen den Willen der zuständigen Ministerineine Erklärung verabschiedet, die Client-Side-Scanning verbietet, also das Scannen von Textnachrichten oder Dateien auf dem Endgerät der Nutzerin, bevor sie verschlüsselt werden.

Einigung der EU-Länder steht noch aus

Beide Regierungen lehnen den bisherigen Kompromissvorschlag des EU-Ministerrats ab, ebenso Polen. Auch Deutschland konnte dem Beschluss nicht zustimmen. Da dieser keine sichere Mehrheit fand, verschwand das Thema kurzerhand von der Tagesordnung des zuständigen Ministerrats. Für die weiteren Verhandlungen im Rat ist nun entscheidend, ob die Allianz der Staaten gegen die Chatkontrolle hält.

Hinweis (27.09.): Nach einem Hinweis der Schweizer Journalistin Adrienne Fichter auf Twitter haben wir den Text präzisiert, um klar zu machen, dass der Antrag nur in einer der beiden Kammern beschlossen wurde.

3 Ergänzungen

  1. „Niemand wird sich entziehen können“

    Das Privileg ist idR nicht, sich dem entziehen zu können. Das Privileg ist, damit gut leben zu können.

    Andi Scheuer zB kann sich alles leisten, von der Leyen auch.

    1. „Das Privileg“ – in der Hollywoodfassung, also in der Realität der Reichen und Mächtigen. Die beschriebene Variante bedeutet natürlich auch eine Exponiertheit und die Gefahr, fallengelassen zu werden. Denn nicht belangt zu werden, bedarf der stetigen Anstrengung eines Systems, das auf Macht basiert, und nur mit solcher aufrechterhalten werden kann. So hat es bereits erfolgreich die Gesetzgebung infiziert. Der Kampf ist noch nicht vorbei!

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