Nach der WahlAnlasslose Massenüberwachung erwartbar

Im Kern ähneln sich viele innenpolitische Vorstellungen von Union und SPD: Kommt es zur Koalition, ist ein massiver Ausbau anlassloser Massenüberwachung absehbar. Außerdem stellte Merz am Wahlabend klar: Die deutsch-amerikanische Freundschaft ist dahin. Das wird vermutlich auch eine Zeitenwende in der Datenbeziehung zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland einleiten.

Kanzlerkandiat Friedrich Merz am Podium der INSM
CDU-Kanzlerkandiat Friedrich Merz (Archivbild) CC-BY-ND 2.0 INSM

Aktuell ist es wahrscheinlich, dass Deutschland eine Regierung aus CDU, CSU und SPD bekommen wird, wenn sich die Herren der Christenunion mit den verzwergten Sozialdemokraten auf eine Koalition einigen können. Aus dem Blickwinkel digitalpolitischer Fragen sind keine grundsätzlich verschiedenen Schwerpunkte auszumachen, die eine solche Einigung stark erschweren würden. Es dürften also andere politische Fragen sein, bei denen Kompromisse erstritten werden müssen.

Die neue Koalition wird allerdings deutlich mehr Opposition erfahren: von den Grünen und von der erstarkten Linken, aber auch von der AfD, die unerhört viele neue Abgeordnete in den Bundestag senden und die Parlamentsarbeit schon wegen dieser Größe stark verändern wird. Die Nachfolger von Robert Habeck und auch Heidi Reichinnek werden einer schwarz-schwarz-roten Koalition sicher nichts schenken. Aber ob sie erwartbare Massenüberwachungsvorhaben in einer innenpolitisch weitgehend einigen Koalition bremsen können, bleibt abzuwarten.

Koalitionspartner bei anlassloser Massenüberwachung

Mit Blick auf die Wahlprogramme von CDU/CSU und SPD ist in Fragen der anlasslosen Massenüberwachung wenig Dissens zu erwarten: Der nächste Anlauf für eine gesetzliche Regelung einer Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten wird wohl nicht lange auf sich warten lassen. Die Union fordert das seit langem. Die SPD blieb im Wahlprogramm zwar etwas vage. Zuletzt hatte aber die SPD-Fraktion im Bundestag klargestellt, dass sie eine Vorratsdatenspeicherung befürwortet, „insbesondere die Speicherung von IP-Adressen“. Es dürfte wohl nur noch um Fragen des Umfangs und der Speicherlänge gehen.

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Auch anlasslose biometrische Massenüberwachung mit Systemen zur automatisierten Gesichtserkennung befürworten sowohl Unionschristen als auch Sozialdemokraten. Ebenfalls nur wenig strittig dürfte die Frage werden, ob die Polizeien des Bundes künftig auf automatisierte, auch KI-basierte Datenanalysen setzen dürfen. Das bejahen sowohl CDU/CSU als auch SPD.

Die Unionschristen setzen zwar noch auf die zusätzliche Auswertung von „sozialen Netzwerken“, aber im Kern ähneln die politischen Vorstellungen denen der SPD. Zuweilen gingen die Sozialdemokraten in Sachen Überwachungsideen über Forderungen der Konservativen hinaus. Die SPD-Innenministerin hatte gar Vorschläge in einen Referentenentwurf gießen lassen, die nicht mal der Union eingefallen waren: Sie wollte künftig heimlich in Wohnungen einbrechen, um Staatstrojaner leichter installieren zu können.

Einzig bei der Chatkontrolle bleibt abzuwarten, wie sich die potentiellen Koalitionspartner zu dem europäischen Vorhaben stellen werden. In den Wahlprogrammen blieb das Thema ohne Erwähnung.

„Echte Datenchancenpolitik“ statt Datenschutz

Merz hatte im Wahlkampf in Datenfragen einen deutlichen Hang dazu, den Datenschutz abzuwerten. Das zeigte sich etwa bei seiner geäußerten Idee zur Nutzung von Gesundheitsdaten. Man müsse Datenschutzbedenken zurückstellen und könne „zum Beispiel zehn Prozent niedrigere Krankenversicherungsbeiträge“ zahlen, wenn dafür die Gesundheitsdaten rausgerückt würden.

Die Union spiegelt diese Haltung auch in ihrem Programm, sie wolle eine „echte Datenchancenpolitik“. Der Grundsatz der Datenminimierung solle abgeschafft werden. Viel Widerspruch ist von der SPD nicht zu erwarten, sie hatte in ihrem Programm beim Datenschutz kaum Akzente gesetzt.

Louisa Specht-Riemenschneider, die neue Bundesdatenschutzbeauftragte, wird sich warm anziehen müssen, wenn sich diese Merzsche Haltung zum Datenschutz als Regierungspolitik durchsetzt. Auch zu dem zweiten wichtigen Bereich ihrer Behörde ist nichts Gutes zu erwarten: Informationsfreiheit und Transparenz hatten sowohl die Union als auch die Sozialdemokraten in ihrem Programm erst gar nicht erwähnt.

„Unabhängigkeit von den USA“

Eine enorme politische Veränderung kündigte Merz gestern nach der Wahl in der sogenannten Elefantenrunde an. Er verabschiedete sich faktisch von der bisher als Staatsräson behandelten deutsch-amerikanischen Freundschaft. Die stellt US-Präsident Donald Trump und seine Entourage derzeit auf eine harte Probe.

Merz fand so klare Worte dafür, dass trotz seiner bekannten Emotionalität und Wankelmütigkeit anzunehmen ist, dass er dies tatsächlich politisch umzusetzen versuchen wird. Er sagte konkret: „Für mich wird absolute Priorität haben, so schnell wie möglich Europa so zu stärken, dass wir Schritt für Schritt auch wirklich Unabhängigkeit erreichen von den USA.“ Er merkte dann an, dass er selbst überrascht sei, etwas Derartiges in einer Fernsehsendung äußern zu müssen.

„Spätestens nach den Äußerungen aus der letzten Woche von Donald Trump ist klar, dass den Amerikanern – jedenfalls diesem Teil der Amerikaner, der amerikanischen Regierung – das Schicksal Europas weitgehend gleichgültig ist.“ Er sei nicht einmal sicher, ob es künftig die NATO in der „gegenwärtigen Verfassung“ noch geben werde. Merz mache sich „keine Illusionen“ darüber, was in den USA gerade stattfinde.

Auch dass US-Regierungsberater Elon Musk grobe Verbalattacken gegen die deutsche Regierung losließ und wochenlang offensiv die AfD unterstützte, erwähnte Merz in diesem Zusammenhang. „Schauen Sie bis in die jüngsten Tage hinein, was da von einem Herrn Elon Musk an Interventionen in den deutschen Wahlkampf stattgefunden hat. Das ist ein einmaliger Vorgang.“ Er nennt diese Einmischung „drastisch und unverschämt“ und fügt an, sie sei nicht weniger dreist als „die Interventionen, die wir aus Moskau gesehen haben“. Deutschland stünde nun „von zwei Seiten unter Druck“.

Mehr als ein kleines bisschen dürfte sich Merz auf den Schlips getreten gefühlt haben, dass der zweite starke Mann in Washington derart schamlos für die CDU-Konkurrenz AfD geworben hat, wie es in der Geschichte in der Bundesrepublik bisher undenkbar schien. Aber wenn man diese Äußerungen ernst nimmt, müsste auch eine Zeitenwende in der Datenbeziehung zwischen den Vereinigten Staaten und Deutschland beginnen.

Denn wer eine „Unabhängigkeit von den USA“ anstrebt, kann nicht weiter strukturell abhängig von deren Tech-Konzernen bleiben. Und auch die engen Datenverflechtungen zu den US-Geheimdiensten müssen dann dringend auf den Prüfstand.

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8 Ergänzungen

  1. Nunja, die einzige Alternative zur einer Koalition mit der SPD ist eine CDU Minderheitsregierung. Es gibt keine andere Mehrheitskoalition ohne AfD.

    Und mit wechselnden Mehrheiten bekäme Merz Zugriff auf AfD-Stimmen und damit vermutlich mehr durch.

  2. „Die deutsch-amerikanische Freundschaft ist dahin“, 2025 – vs. „Abhören unter Freunden – das geht gar nicht“, 2015.

    Was nochmal genau, machen die Innenminister*innen beruflich?

  3. Wenigstens ist der Punkt, sich von privat aus Übersee überwachen sei harmloser, jetzt wohl entgültig gegessen, wenn man mal über den Teich guckt. Wir reden da, bzw. ein GOP-Senator o.ä., von „Information Warfare“ gegenüber einer 90er-Kampagne. Interessant wird es, wenn man mal nachguckt, ob zufällig „Information Warfare“ auch bzgl. Europa stattgefunden hat, bzw. stattfindet. Immerhin kommt das aus einem anderen Land, drahtziehermäßig. Bzw. aus mehreren. Das bei gegebener Gefahr, dass das Drein- bzw. Aussteigen der USA im Ukrainekontext durchaus für echten Krieg sorgen könnte. Echt mit Europa bzw. Restnato. Das ist wegen der Äußerungen und des Verhaltens, inkl. vorgelegter Vertragssorten, nicht vom Tisch. Andere Szenarien sind auch nicht vollends vom Tisch, aber vielleicht sollten wir aufhören, den Menschen mit Ablenkung ein gutes Gefühl zu geben, sondern allmählich wieder etwas analytische Klarheit reinbringen? Nur so eine Idee…

  4. „Robert Habeck und Heidi Reichinnek werden einer schwarz-schwarz-roten Koalition sicher nichts schenken.“

    Ja, denn Robert Habeck ist zurückgetreten und wird keine Führungsrolle in der Partei mehr einnehmen. Das wird also im wahrsten Sinne des Wortes nicht sein Problem werden.

  5. Alles in allem und auf den Punkt gebracht: Mein Beileid.

    Und weiter:
    >“Er sei nicht einmal sicher, ob es künftig die NATO in der „gegenwärtigen Verfassung“ noch geben werde.

    Um eine europäische kümmern.

  6. Es ist demnach zu erwarten, dass das transatlantische Projekt des Überwachungskapitalismus und verbündeter Überwachungsstaaten durch ein deutsch- oder EU-nationalistisches Projekt von Überwachungskapitalismus und Überwachungsstaat ersetzt wird. Statt (nur noch) von der NSA und anderen US_Diensten werden wir dann eben vollumfänglicher von BND, DGSE, Europol und Co. überwacht werden. Statt Google und Microsoft werden dann Bertelsmann, Thales und Co. privilegiert, um die besseren Geschäfte mit unseren Gesundheits-, Bewegungs- und Identitätsdaten zu machen. Aus Sicht von Freiheits- und Grundrechten wäre das leider keine Verbesserung, wenn die größten Überwacher und Ausbeuter zwar etwas näher an uns dran wohnen aber politisch unantastbar bleiben.

  7. Es könnte übrigens spannend werden zu sehen, wohin sich die Codierung und die Narrative für eine anlasslose Massenüberwachung entwickeln. Vom klassischen Abwehrkampf deutscher Innenpolitiker*innen gegen die Schreckgespenster der „vier Reiter der Infokalypse“, über die zeitgemäßen digitalkapitalistisch-techsolutionistischen Spins von „Massenüberwachung bedeutet Innovation, Wirtschaftswachstum, Lebenserleichterung und ist für den Kampf gegen den Klimawandel hilfreich“ könnte schon bald durch Merz und irgendwelchen austauschbaren Sozialdemokrat*innen und EU-Kommissionen bald ein Narrativ verbreitet werden, das in etwa so klingen könnte: „Jetzt aber müssen wir alle völlig alternativlos mehr Massenüberwachung akzeptieren und unsere Grundrechte aufgeben, um Europa zu retten! Wer das nicht tut, ist ein schändlicher Verräter der europäischen Idee und hilft unseren Feinden!“.

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