PressefreiheitFragDenStaat-Chefredakteur vor Gericht

Arne Semsrott steht wegen der Veröffentlichung von Gerichtsdokumenten vor Gericht. Es geht um weit mehr als um seine Schuld. Der Chefredakteur von FragDenStaat will das Recht auf Pressefreiheit stärken und dafür einen umstrittenen Paragrafen verfassungsrechtlich prüfen lassen. Morgen ergeht das Urteil.

Arne Semsrott auf der diesjährigen re:publica – Alle Rechte vorbehalten IMAGO / foto2press

Mittwoch neun Uhr am Landgericht Berlin: Der Chefredakteur von FragDenStaat, Arne Semsrott, steht vor dem Eingang des Gerichtsgebäudes und einem Presseteam Rede und Antwort. Menschen drängen sich hinter ihm durch die Tür, um das Gericht zu betreten. Nachdem er alle Fragen beantwortet hat, reiht er sich in die Schlange, die sich mittlerweile gebildet hat.

Semsrott wirkt gelassen. Dass er jetzt vor Gericht steht, ist für ihn keine Überraschung. Im August 2023 hatte er Dokumente aus einem laufenden Strafverfahren auf FragDenStaat.de veröffentlicht.

Solche Veröffentlichungen sind nach § 353d Nr. 3 Strafgesetzbuch eigentlich verboten. Dessen war sich Semsrott bewusst, er erwähnt das Verbot und seinen Paragrafen auch in seiner Veröffentlichung. Die Berliner Staatsanwaltschaft nahm kurz nach der Veröffentlichung Ermittlungen gegen Semsrott auf. Im Februar dieses Jahres klagte sie ihn wegen der Veröffentlichung an.

Letzte Generation hat großes Interesse

Hinter dem Sicherheitscheck im Gerichtsgebäude trennen sich die Wege der Zuschauenden und des Angeklagten. Semsrott geht mit seinen Verteidigern die große Treppe der Haupthalle empor, die Zuschauenden nehmen das Seitentreppenhaus. Vor der Tür zum Saal 700 stehen zwei Leute, die sich beschweren, dass die Tür bereits verschlossen sei.

Nach energischem Klopfen öffnet ein sichtlich genervter Justizbeamter und bittet um Geduld. „Geht gleich los“, sagt er. Die zwei Wartenden zeigen sich erleichtert: „Wir haben großes Interesse an dem Fall“, sagen die beiden und geben sich als Aktivist:innen der Letzten Generation zu erkennen.

Bei den von Semsrott veröffentlichten Dokumenten handelt es sich um drei Gerichtsbeschlüsse zur Letzten Generation. Die Generalstaatsanwaltschaft München wirft ihnen vor, eine kriminelle Vereinigung nach § 129 Strafgesetzbuch zu bilden. Dieser auch als „Schnüffelparagraf“ bezeichnete Paragraf gibt den Behörden ein breites Überwachungsarsenal an die Hand.

Im Fall der Letzten Generation veranlasste die Staatsanwaltschaft München mehrere Razzien, die Beschlagnahmung der Webseite und das Abhören von Telefonanschlüssen der Letzten Generation. Dabei haben die Ermittlungsbehörden auch Pressegespräche mit Journalist:innen abgehört. Genehmigt wurden diese Aktionen vom Amtsgericht München in drei Gerichtsbeschlüssen, die Semsrott mit wenigen Schwärzungen veröffentlichte.

Großer Andrang am Gericht

Von diesen Gerichtsbeschlüssen waren sie damals nicht direkt betroffen, sagen die beiden Aktivist:innen vor dem Gerichtssaal. Bei einem der beiden sei aber in einem anderen Fall schon einmal eine Hausdurchsuchung durchgeführt worden.

Als sich die Tür zum Gerichtsaal endlich öffnet und der Prozess beginnen kann, ist der holzvertäfelte Saal, der erkennbar aus der Kaiserzeit stammt, bis auf den letzten Platz gefüllt.

Auf der Anklagebank sitzt Arne Semsrott, daneben seine Verteidigung, Lukas Theune, Hannah Vos von FragDenStaat und Benjamin Lück von der Gesellschaft für Freiheitsrechte. Ihnen gegenüber sitzt der Staatsanwalt. In der Mitte das Richterteam, bestehend aus dem Vorsitzenden Richter Bo Meyer, einem zweiten Richter und zwei Schöffinnen.

Durch alle Instanzen

Nachdem der Vorsitzende Richter die Sitzung für eröffnet erklärt, folgt die Anklageverlesung des Staatsanwalts. Unmittelbar danach stellt Semsrotts Verteidiger Lukas Theune den Antrag, das Verfahren auszusetzen und das Bundesverfassungsgericht zu fragen, ob das Veröffentlichungsverbot verfassungswidrig ist.

Das ist das Ziel von Arne Semsrott und seinem Team in diesem Verfahren. Sie wollen nicht die Unschuld des Angeklagten beweisen – der gar nicht bestreitet, die ihm vorgeworfene Tat begangenen zu haben. Stattdessen wollen sie gerichtlich feststellen lassen, dass § 353d Nr. 3 Strafgesetzbuch verfassungswidrig ist.

Dazu hat das Landgericht Berlin, in dem der Fall aktuell verhandelt wird, nicht die Befugnis, das kann nur das Bundesverfassungsgericht. Doch bevor der Fall in Karlsruhe verhandelt wird, muss er alle vorherigen Instanzen durchlaufen.

Ein Relikt aus der Kaiserzeit

Semsrott stellt sich und seine Arbeit vor. Als Leiter und Chefredakteur des Recherche- und Informationsprojekts FragDenStaat arbeitet er mit einem 20-köpfigen Team für Presse- und Informationsfreiheit. Sie handeln dabei nach dem Grundsatz, dass Originaldokumente frei zugänglich und Recherchen transparent gemacht sein müssen. Seit der Gründung von FragDenStaat im Jahr 2011 haben auf der Plattform mehr als 150.000 Menschen rund 280.000 Anfragen nach dem Informationsfreiheitsgesetz gestellt.

Semsrott hat die Dokumente bewusst veröffentlicht und er kannte den Paragrafen, der eine solche Veröffentlichung verbietet. „Es ist passend, dass wir diesen Fall hier heute behandeln“, sagt Semsrott gegenüber dem Gericht. Genau wie die Kaiserloge im Gerichtssaal sei auch der § 353d ein Relikt aus der Kaiserzeit. Gesellschaft und Medienberichterstattung hätten sich seitdem aber grundlegend verändert, so Semsrott. Desinformation und Rechtsruck müsse man mit präziser und transparenter Berichterstattung begegnen.

Es geht um die Pressefreiheit

Die Veröffentlichung der Gerichtsbeschlüsse aus einem Verfahren gegen die Letzte Generation erfolgte nicht wahllos. Über die Gruppe wurde damals bundesweit hitzig diskutiert. „Über die Aktionsform und Forderungen der ‚Letzten Generation‘ lässt sich freilich streiten“, schreibt Semsrott in seiner Veröffentlichung.

Doch die Eingriffe in Grund- und Persönlichkeitsrechte sowie die Pressefreiheit, die die polizeilichen Maßnahmen bedeuteten, hätten ihn dazu bewogen, die Beschlüsse zu veröffentlichen. Solche schwerwiegenden Konsequenzen müssen in Gerichtsbeschlüssen diskutiert und abgewogen werden, die veröffentlichten Beschlüsse erwähnen sie allerdings nur am Rande.

Die Beweismittelaufnahme gestaltet sich zäh. Mehrere Online-Artikel werden in voller Länge vorgelesen, auch jener Text, in dem Semsrott die Gerichtsbeschlüsse veröffentlichte.

Im Anschluss wird die Kommunikationswissenschaftlerin Franziska Oehmer-Pedrazzi als Sachverständige angehört. Sie unterstreicht die Bedeutung von direkten Zitaten in der Berichterstattung, da diese die Glaubwürdigkeit von Medien in Zeiten der Desinformation stärken würden. Dass Prozessbeteiligte dadurch negativ beeinflusst würden, wie es die Staatsanwaltschaft vermutet, sieht sie durch die Forschung nicht bestätigt.

Einstellung dankend abgelehnt

Der Richter wiegt Pressefreiheit und das Recht auf einen fairen geregelten Prozess gegeneinander ab. Mit Blick auf die ehrenwerten Motive des Angeklagten bietet er Semsrott an, das Verfahren nach § 125 Strafprozessordnung wegen geringer Schuldlast auszusetzen und von einer Strafe abzusehen.

Die meisten Angeklagten hätten dieses Angebot wahrscheinlich erleichtert angenommen. Doch würde Semsrott dem zustimmen, könnten er sein Vorhaben nicht länger verfolgen, die Verfassungsmäßigkeit von § 353d prüfen zu lassen. Seine Verteidiger:innen lehnen dankend ab. Der Richter setzt daraufhin den nächsten Verhandlungstag auf Freitag an und schließt die Sitzung.

Als Arne Semsrott nach dem Verfahren das Gerichtsgebäude verlässt, wendet er sich den wartenden Journalisten zu. Er freue sich auf seine Verurteilung am Freitag, sagt er lächelnd. Dann gehe es in die Revision vor den Bundesgerichtshof – und dann endlich vor das Bundesverfassungsgericht.

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2 Ergänzungen

  1. Guter Artikel, lieber Ben!

    Arne wünsche ich viel Erfolg! D.h. erreichen und gewinnen der letzten Instanz.
    Alles andere wäre eine Spaßbremse.

  2. Es gibt noch einen weiteren Aspekt, zu dem das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer Prüfung (erneut) Stellung nehmen könnte: Was ist eigentlich Terrorismus?

    §129 a, wie auch viele andere Gesetze, die die Grundrechte bis weit über das gefühlt zumutbare eingrenzen, und den Behörden Blankochecks geben, weitere Grundrechte ohne angemessene Kontrollen aus zu hebeln, wurden vor dem Hintergrund der RAF-Terroranschläge in den 1970iger Jahren erlassen. Damals wurde – gefühlt – der Staat als solcher, die Demokratie mit Bomben und Maschinengewehren angegriffen. Zumindest nach Darstellung von Regierung und Medien herrschte damals Krieg in deutschen Städten.
    Mit diesem gefühlten „Kriegszustand“ wurde, nach Art des Kriegsrechts, die massive Einschränkung von Grundrechten gerechtfertigt.

    In der aktuellen Situation basteln sich Regierung und Behörden gerne schon aus einzelnen Farbbeutelwürfen, Twitter-Nachrichten, geheimen Geheimdiensterkenntnissen oder eben Straßenblocken angebliche „Terrorbedrohungen“, um den Rechtsstaat aus zu hebeln und Überwachungs- und Verfolgungsorgien zu rechtfertigen, die absolut unzulässig wären, wenn Polizei und Staatsanwälte die Vorwürfe als ordinäre Kriminalität verfolgen würden.

    Genau diesen Punkt has Bundesverfassungsgericht hat vor einigen Jahren angemerkt. Dass es eben nicht reicht, wenn eine Ministerin oder ein Staatsanwalt „Terrorismus“ kräht. Eine Einschränkung von Grund- und anderen Rechten von Beschuldigten aufgrund von Terrorparagraphen käme nur in Frage, wenn der Staat, die Demokratie als solche in ihren Grundfesten bedroht seien. Wenn quasi Krieg herrscht auf Deutschlands Straßen. Flächendeckend.

    Egal, wie man zur letzten Generation und zu Straßenblockaden steht: Davon sind die – bislang gewaltlosen! – gelegentlichen Proteste noch ganz weit entfernt.

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