EurodacDer biometrische Albtraum im Herzen des EU-Asylsystems

Die anstehende Eurodac-Reform ist viel mehr als reine technische Anpassung des Fingerabdruck-Systems. Sie können im Kontext des „Neuen Migrationspakts“ der EU die Gewalt gegen Menschen auf der Flucht massiv verschärfen.

Ein Zettel mit Fingerabdrücken von zwei Händen, im Hintergrund ein Computer-Monitor
Seit der Vorstellung von Eurodac ist das Fingerabdrucksystem immer wieder erweitert worden. – Alle Rechte vorbehalten IMAGO/Belga

Dieser Text erschien zuerst auf Englisch bei EU Observer. Übersetzung von Hannes Stummer und Angela Büttner.

Die Europäische Union wird am 10. April 2024 über ein neues Paket von Asyl- und Migrationsreformen abstimmen. Unter den vielen umstrittenen Änderungen, die im „Neuen Migrationspakt“ vorgeschlagen werden, blieb eine weitgehend unbemerkt – eine scheinbar harmlose Reform der EU-Asyldatenbank EURODAC.

Das System besteht seit 2003 und enthält bisher Fingerabdrücke von Asylsuchenden und illegalisiert eingereisten Personen. Allein im Jahr 2022 übertrugen die EU-Mitgliedstaaten 1,5 Millionen Fingerabdruck-Datensätze an die EURODAC-Datenbank.

Obwohl die geplanten Reformen als rein technische Anpassungen des Fingerabdruck-Systems dargestellt werden, ist die Realität weitaus schwerwiegender. Die Änderungen an EURODAC werden die Gewalt gegen Menschen auf der Flucht massiv verschärfen.

Die Reform dieser 20 Jahre alten Datenbank macht sie zum verlängerten Arm der feindlichen Asyl- und Grenzpolitik der EU. Zu diesem Zweck werden die problematischsten Überwachungstechnologien eingesetzt, die uns zur Verfügung stehen: nämlich die Erfassung, Verarbeitung und Analyse biometrischer Daten, die die vollständige Kontrolle über den Körper und die Bewegung von Schutzsuchenden ermöglichen.

Biometrische Daten zur Kontrolle von People of Color

Mit der Erfassung biometrischer Daten ist der Körper für viele längst zum „Reisepass“ geworden. Bei der Biometrie werden Daten aus den biologischen oder physiologischen Merkmalen einer Person gewonnen. Fingerabdrücke, Gesichtsbilder und Iris-Scans gehören zu den Formen der Biometrie, die von den Staaten am häufigsten zur eindeutigen Identifizierung einer Person verwendet werden.

Historisch gesehen ist die Identifizierung jedes einzelnen Individuums der Schlüssel für die Organisation staatlicher Kontrolle und Herrschaft über die Bevölkerung. Sie ermöglicht es den staatlichen Behörden insbesondere, die Bewegungen der Menschen zu verfolgen, zu überwachen und einzuschränken. Es überrascht also nicht, dass die Biometrie zum Kernstück der sich ausweitenden technologischen Überwachungssysteme der Staaten wird. Und es überrascht noch weniger, dass sie Teil der Migrationskontrollpolitik ist. Denn der Ursprung der biometrischen Überwachung geht auf koloniale Praktiken der Beherrschung und Diskriminierung marginalisierter Personengruppen zurück.

Im Zuge des transatlantischen Sklavenhandels wurden Technologien entwickelt, um People of Colour als Gefangene und Eigentum zu kennzeichnen, zu identifizieren und weltweit zu verfolgen. Die in den 1880er Jahren von Alphonse Bertillon entwickelten forensischen Erkennungsmethoden – die eine biometrische Erfassung von Gesichts- und Körpermerkmalen sowie Fingerabdrücken und Fotografien von kriminellen Verdächtigen umfassten – wurden vor allem in den Kolonien des französischen Reiches angewandt, um die Ordnung und den Fortbestand des Kolonialregimes zu gewährleisten.

Ebenso führten die britischen Kolonialherren das erste groß angelegte biometrische Erkennungsverfahren mit Fingerabdrücken zur Kontrolle in Indien durch. Es wurden große Anstrengungen unternommen, um die Identität von Migrant:innen festzustellen und die individuelle Überwachung von Arbeitsmigrant:innen und Reisenden auszuweiten, wie etwa die Verfolgung von chinesischen Arbeiter:innen in Indochina und Pilger:innen in Indien.

Das bedeutet, dass die biometrische Registrierung als Ersatz für die Dokumentenregistrierung für alle nicht weiß-gelesenen Menschen zum ersten Mal Realität wurde. Das betraf vor allem diejenigen, die auf der Flucht waren.Die Politik der EU ist eine Fortsetzung dieser Geschichte. Ihre erste zentrale biometrische Datenbank, die Europäische Datenbank für Asyl-Daktyloskopie (EURODAC), wurde eingerichtet, um Personen zu registrieren, die illegal Außengrenzen überqueren. Außerdem wollte man sogenannte Sekundärbewegungen von Asylbewerbenden innerhalb der EU regulieren, also wenn sie von ihrem ersten Einreiseland in das Kerngebiet der EU weiterreisen.

Mit der laufenden Reform von EURODAC wird die massenhafte und routinemäßige Identifizierung von Asylsuchenden, Flüchtenden und Migrant:innen durch die Verarbeitung biometrischer Daten zum Herzen des unmenschlichen Asylsystems der EU.

Die EURODAC-Reform vervielfacht die Schäden der gewalttätigen EU-Migrationspolitik

Die vorgeschlagene Reform wird als „reine Formsache“ dargestellt, doch in Wirklichkeit ist ihre Umsetzung hochpolitisch – sie wird die gewalttätige Behandlung von Migrant:innen in der EU technisch kodifizieren. Das bedeutet systematische Kriminalisierung, Inhaftierung unter gefängnisähnlichen Bedingungen und rasche Ausweisung. Die Überwachungsfunktionen von EURODAC werden verstärkt, um dieses feindliche und schädliche System umzusetzen.

Bislang konzentrierte sich die Datenbank auf Fingerabdrücke, künftig sollen aber etwa auch biometrische Fotos erfasst werden. Die Erhebung zusätzlicher biometrischer Daten wurde von den politischen Entscheidungsträger:innen damit begründet, dass Berichten zufolge einige Asylbewerber:innen ihre Finger freiwillig verbrennen und verletzen, um ihre Fingerabdrücke unkenntlich zu machen und eine Identifizierung zu vermeiden.

Für Menschen auf der Flucht bedeutet dieses Erkennungsverfahren das unmittelbare Risiko, inhaftiert zu werden, in einen anderen Mitgliedstaat zurückgeschickt zu werden, den sie zuvor in der Regel wegen der schrecklichen Aufnahmebedingungen und der geringen Chancen auf eine menschenwürdige Integration verlassen haben oder um in sogenannte „sichere Drittstaaten“ abgeschoben zu werden, wo ihnen Verfolgung und Folter drohen.

Dass Menschen gezwungen sind, sich selbst zu verletzen, um nicht identifiziert zu werden, sieht die EU nicht als Zeichen dafür , dass die Migrationspolitik humaner werden muss. Stattdessen hat die EU beschlossen, einen Weg zu finden, der Migrant:innen weiter überwacht und terrorisiert. Auch EURODAC wird zu einem Massenüberwachungsinstrument umfunktioniert, indem noch mehr Personengruppen als bisher ins Visier genommen werden. Dazu gehört auch die Erfassung der Daten von Kindern ab sechs statt wie bisher 14 Jahren.

Trotz einiger Bemühungen, die Datenerhebung auf „kinderfreundliche“ Weise durchführen zu lassen, werden Kinder dadurch einem ernsthaft invasiven, ungerechtfertigten und stigmatisierenden Verfahren ausgesetzt . Dabei sind in der EU Kinder unter 16 Jahren gemäß der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) nicht einmal in der Lage , der Verarbeitung ihrer personenbezogenen Daten freiwillig zuzustimmen. In der Zwischenzeit werden die Gesichter von Migrant:innenkindern gescannt und ihre Fingerabdrücke in Grenzlagern und Auffanglagern dokumentiert.

Zudem können die Polizeibehörden inzwischen ohne jegliche Vorab-Bedingung auf die EURODAC-Daten zugreifen. In der Praxis bedeutet dies, dass EURODAC prinzipiell die Illegalität aller Asyl- und Schutzsuchenden annimmt.

Die EURODAC-Reform ist ein Beispiel für rassistische Doppelmoral

Die biometrische Überwachung im Rahmen von EURODAC dient einzig und allein dem Zweck, die Macht und Kontrolle über Migrant:innen zu erhöhen, die durch ungerechte Migrationspolitik und -praktiken bereits eine der vulnerabelsten Gruppen sind. Sie ist übergriffig, unverhältnismäßig und steht im Widerspruch zu Europas selbst gesetzten Datenschutzstandards. Die EU baut also derzeit innerhalb ihres eigenen Rechtsrahmens für den Schutz der Privatsphäre und den Datenschutz eine Ausnahmeregelung auf, in der Menschen auf der Flucht anders behandelt werden.

Die Reform von EURODAC zeigt auch einen größeren Trend in Europa: Migrationsmanagement und Verbrechensbekämpfung werden vermischt, indem Menschen, die Sicherheit und Schutz suchen, in polizeilicher Logik mit Sicherheitsbedrohungen gleichgesetzt werden. Der besondere Fokus auf die Erstellung von Risikoprofilen, die auf diskriminierenden Annahmen und Assoziationen beruhen, führt dazu, dass nicht weiß-gelesene Menschen und Migrant:innen übermäßig überwacht und ins Visier genommen werden.

Mit der massiven Ausweitung zentralisierter Datenbanken wie EURODAC kann die EU diese rassistische Doppelmoral nicht länger verbergen.

Chloé Berthélémy ist Senior Policy Advisor bei European Digital Rights (EDRi), Laurence Meyer ist tätig bei Digital Freedom Fund, Weaving Liberation. Hannes Stummer arbeitet bei epicenter.work, Angela Büttner ist Soziologin, Sprachwissenschaftlerin und Mitglied bei D64.

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7 Ergänzungen

  1. „Mit der laufenden Reform von EURODAC wird die massenhafte und routinemäßige Identifizierung von Asylsuchenden, Flüchtenden und Migrant:innen durch die Verarbeitung biometrischer Daten zum Herzen des unmenschlichen Asylsystems der EU.“
    Der Artikel ist zum Glück als Gastbeitrag markiert.
    Jedenfalls kann man es bei solch einem radkalen Urteil über das Asylsystem der EU wohl nur wie Churchill halten: „Das Asylsystem der EU ist das unmenschlichste – mit Ausnahme aller anderen.“

    „Dass Menschen gezwungen sind, sich selbst zu verletzen, um nicht identifiziert zu werden, sieht die EU nicht als Zeichen dafür , dass die Migrationspolitik humaner werden muss. “
    Ich kann das Arugment nicht nachvollziehen. Mit dem selben Argument könnten doch dann auch ein paar Reichsbürger das deutsche Ausweisgesetz zu Fall bringen, wenn sie sich dafür die Finger verbrennen.
    Ein juristisches Arugment für oder gegen bestimmte Gesetze ist Selbstverletzung/verstümmelung jedenfalls nicht.

    „Stattdessen hat die EU beschlossen, einen Weg zu finden, der Migrant:innen weiter überwacht und terrorisiert.“
    Auch hier würde ich gerne wissen in welcher Form die EU „Terror“ gegen Migrant:innen ausübt. Die Wortwahl ist schon recht maximalistisch gehalten.

    Der Beitrag greift zwar einige Punkte auf, an denen man gerechtfertigte Kritik üben kann. Aber es wird auch viel zu sehr immer wieder auf eine historische Komponente verwiesen, oder mit Unterstellungen gegen einen nur vage benannnten „EU-Apparat“ hantiert.
    Ich hätte an dieser Stelle gerne einen aktuellen Artikel aus der Onlineausgabe des Legal Tribune empfohlen, aber musste leider feststellen, dass dieser zuletzt im September 2023 über die EURODAC-Reform berichtete. Zumindest ist darin aber etwas nüchterner festgehalten worum es geht:
    https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/asylreform-faeser-bundesregierung-parlament-eu-europaparlament-rat-innenminister-geas-asyl-aussengrenze-migration-fluechtling/

    1. > Auch hier würde ich gerne wissen in welcher Form die EU „Terror“ gegen Migrant:innen ausübt.
      > Die Wortwahl ist schon recht maximalistisch gehalten.

      Zur Wortwahl „terrorisiert“:
      1. durch Gewaltaktionen in Angst und Schrecken halten
      2. mit hartnäckiger Aufdringlichkeit belästigen, unter ‚Druck setzen.
      (Deutsches Universalwörterbuch, Duden)

      vgl. auch https://de.wiktionary.org/wiki/terrorisieren

    2. Was würdest du schreiben, wenn es dich selbst beträfe? Hier werden unter Zwang Maßnahmen an Menschen durchgeführt, die eigentlich nichts getan haben, außer in Europa anzukommen, nur weil ihnen unterstellt wird, sie wären eine Gefahr.

      1. Man kann halt nicht einfach „in Europa ankommen“. Wie alle souveränen Staaten entscheiden auch die Mitglieder der EU über Immigrationsmöglichkeiten.

        Wer generell offene Grenzen haben will, sollte das sagen. Und ausführen, wie das umgesetzt werden soll.

  2. Der Absatz zur Einwilligungsfähigkeit von Kindern ist irreführend.

    Art. 8 DSGVO regelt lediglich den speziellen Fall „bei einem Angebot von Diensten der Informationsgesellschaft“ und in einigen Ländern gelten herabgesetzte Altersgrenzen. Über die praktische Relevanz der Regelung lässt sich daneben streiten.

    Im Übrigen besteht bestenfalls ein sehr schwacher Bezug zu dem Problem, das der Artikel eigentlich behandelt. Es geht um Formen staatlicher Zwangsmaßnahmen auf Basis zu schaffenden Rechts. Einwilligungserklärungen spielen hierbei von vornherein keine Rolle.

    Die Frage ist, was im Rest des Textes ja auch rüberkommt, ob die geplanten Maßnahmen die Grundrechte der Betroffenen verletzten würden.

  3. Polen und Ungarn meinen ja, dass es nicht genug ist; für andere ist es viel zu viel – und kommt es vor der Europawahl zu keiner Einigung bleibt eben alles wie es ist. Ist das dann gut oder schlecht?

    1. > Polen und Ungarn meinen ja, dass …

      Wie bei uns und überall gibt es klügere und weniger klügere Meiner:innen. Bei letzteren hilft es, sie nach ihren eigenen bevorzugten Fluchtrouten zu befragen. „Dann kommen wir zu euch, wenn ihr dann noch Platz für uns habt,“ ist eine nicht sehr überraschende Antwort aus diesen Längengraden.

      Interessanterweise würden Italiener, Franzosen und Spanier ihre Rettung eher am nördlichen Ufer Afrikas finden wollen. Dort aber kreuzt FRONTEX und bringt die Wehrpflichtigen zurück.

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