Im Sommer ließ der französische EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton aufhorchen. Nach teils gewalttätigen Protesten gegen Polizeigewalt in Frankreich stellte er in Aussicht, soziale Netzwerke notfalls abzuklemmen, sollten sie zu wenig gegen illegale Inhalte wie Aufrufe zu Mord unternehmen. Rechtliche Grundlage für solche Netzsperren wäre der schrittweise in Kraft tretende Digital Services Act (DSA), sagte Breton in einem Fernsehauftritt.
Der Aufschrei der europäischen Zivilgesellschaft ließ nicht lange auf sich warten, schließlich sind solche drastischen Maßnahmen eher aus autoritären Ländern als aus Demokratien bekannt. Irritiert war auch der EU-Abgeordnete Moritz Körner. Der FDP-Politiker stellte eine schriftliche Anfrage an die EU-Kommission und wollte wissen: Plant die Kommission die Abschaltung ganzer Plattformen in der EU nach dem Vorbild autoritärer Staaten? Und ferner: Unter welchen Umständen und innerhalb welcher Frist würde die Kommission eine Abschaltung ganzer Plattformen anordnen?
Breton hält sich Abschaltoption offen
Letzte Woche erhielt Körner eine Antwort von Breton. Darin klingt der Franzose schon etwas weniger aufgeregt als im Live-TV. Er betont die Rolle, die der DSA als „umfassendes Regulierungsinstrumentarium für eine wirksame Beaufsichtigung von Online-Plattformen in der EU“ spielen soll. Aber er hält sich die Option von zeitweiligen Sperren für komplette soziale Netze offen: „Als letztes Mittel für den Fall, dass die Plattformen nicht die erforderlichen wirksamen Maßnahmen ergreifen“.
Das stellt Körner nicht zufrieden. „Die Idee hinter dem DSA war es, einen liberalen Rechtsrahmen für die Onlinewelt zu schaffen“, so der EU-Abgeordnete zu netzpolitik.org. In der Auslegung Bretons könnte das EU-Gesetz jedoch zu einem Instrument des Mundtotmachens verkommen. Allein die Drohung könnte schon spürbare Auswirkungen haben: „Die Gefahr dieser Drohung liegt darin, dass bereits aufgrund der angedrohten Abschaltungsgefahr Anbieter ein Overblocking durchführen werden, und sicherheitshalber lieber zu viel als zu wenig löschen werden“, warnt Körner.
Wiederkehrende Debatte
Vom Tisch ist diese Gefahr also nicht, schon gar nicht in Frankreich. Denn ursprünglich war es Präsident Emmanuel Macron, der die Debatte losgetreten hatte. Zwar mussten er und seine Regierung nach den umstrittenen Äußerungen zurückrudern. Verebben dürften Forderungen nach drakonischen Maßnahmen jedoch nicht, selbst wenn das französische Verfassungsgericht einen liberalen Rahmen vorgibt. Erst kürzlich hatte die Regierung etwa einen Gesetzentwurf vorgestellt, der Browser-Hersteller zur Implementation von Sperrlisten verpflichten soll.
Die wiederholten Anläufe Frankreichs, restriktive Gesetze zur Regulierung sozialer Medien zu erlassen, bereiten Eliška Pírkova von der Grundrechteorganisation Access Now Sorge. „Es bringt keinen Vorteil, Online-Plattformen willkürlich zu sperren“, schreibt Pírkova in einer E-Mail an netzpolitik.org.
Die Einschränkung des Online-Zugangs führe immer zu einer groben Verletzung von Grundrechten, so die Regulierungsexpertin. Insbesondere in Krisenzeiten könne der Zugang zu Informationen Leben retten und sollte immer Vorrang haben. Das Blockieren von Online-Diensten wie sozialen Medien ohne angemessene Sicherheitsvorkehrungen wäre hingegen „ein Mittel der Wahl für autoritäre Regime, die zur Zensur und Unterdrückung eingesetzt werden“, schreibt Pírkova.
Gemeinsam mit dutzenden anderen Nichtregierungsorganisationen hatte sich auch Access Now an Thierry Breton gewandt und um Klärung gebeten. Die Antwort des Kommissars fiel aus Sicht der NGO zwar größtenteils zufriedenstellend aus, restlos glücklich ist Pírkova aber nicht – auch weil Frankreich immer wieder problematische Digitalgesetze vorschlage und immer wieder die gleiche Debatte geführt werde.
Soziale Medien als Abbild der Gesellschaft
Dabei sei es „äußerst schwierig, einen eindeutigen kausalen Zusammenhang zwischen den auf Online-Plattformen geteilten Inhalten und der tatsächlichen Gewalttat herzustellen“, schreibt Pírkova. „Was wir heute in den sozialen Medien sehen, ist lediglich eine Folge tief verwurzelter gesellschaftlicher Probleme, die nicht auf Facebook oder TikTok entstanden sind.“
Allerdings weist sie zugleich darauf hin, dass automatisierte Inhaltemoderation und die Empfehlungssysteme der Online-Dienste problematische oder illegale Inhalte verstärken und auf diese Weise realen Schaden anrichten können. Doch während es den Online-Diensten oft nicht gelinge, angemessen gegen die Verbreitung von Aufstachelung zu Gewalt im Internet vorzugehen, würden überzogene Maßnahmen zur Regulierung von Online-Rede die bestehenden Ungleichheiten nur verschärfen und die bestehende Kluft in der französischen Gesellschaft vertiefen – „die Blockierung von Facebook oder Twitter sollte keinesfalls als nachhaltige Lösung angesehen werden“, so Pírkova.
Der FDP-Abgeordnete Körner bedauert jedenfalls, dass Breton die Gelegenheit ungenutzt verstreichen ließ, seine ursprüngliche Drohung zu beschwichtigen. Stattdessen betreibe er ein „doubling down“ und zitiere als verhältnismäßige Maßnahme die Abschaltung von Plattformen auf Anordnung der EU-Kommission. „Es wäre nicht verhältnismäßig gewesen, die Demonstrationen in Frankreich durch Plattformabschaltungen zu behindern“, sagt Körner. „Es ist demokratischen Institutionen unwürdig, mit der Beschränkung des Meinungsaustausches zu liebäugeln.“
Es geht um Verhältnismäßigkeit. Was konkurrierende Kreise in einer Gesellschaft als verhältnismäßig erachten, wird im öffentlichen Diskurs erstritten.
Freiheitlich demokratische Staaten müssen auf rechtsstaatlicher Basis jedoch Handlungsoptionen für Bedrohungslagen haben, bei denen Gewalteskalationen in der Fläche zu erwarten sind oder schon nicht mehr eingedämmt werden können. Auch Aufrufe zur Gewalt in Medien, die zur Destabilisierung führen können, müssen unterbunden werden können.
Bürger erwarten zu Recht von ihrem Staat, dass sie in Freiheit und ohne von Gewalt bedroht zu werden leben können. Ein Staat, der das nicht mehr gewährleisten kann ist schon im Verfall begriffen. Das gilt es abzuwenden, um Recht und Freiheit in Demokratie zu erhalten. Es geht nicht darum, unliebsame Opposition stillzulegen, die muss ausgehalten werden. Zur Abwehr von extremistischer Gewalt, propagiert mittels Medien, muss es wirksame staatliche Abwehrmaßnahmen geben, die im Ernstfall auch schnell angewendet werden können, bevor die Generäle das Sagen haben.
Ich möchte zu bedenken geben, dass ausländische Plattformen ein hohes Risiko darstellen, wenn sie sich gesellschaftlichen, politischen und juristischen Einfluss entziehen. Bei großer Gefahr muss dann eben auch technologisch der Stecker gezogen werden können.
Muss können, ja OK.
Aber wann warum bei wem, und wie sehen die Prozesse dazu aus?
Beispiel: Einstufung als Terror, Gummibärchen.
„Bürger erwarten zu Recht von ihrem Staat, dass sie in Freiheit und ohne von Gewalt bedroht zu werden leben können“. das bezieht insbesondere Maßnahmen der Staaten ein, welche die Freiheiten der Bürger, z. b. freie Meinungsäußerung, beschränken oder Gewalt durch konstruierte Kriminalisierung anwenden, z. b. auch vorbeugende Haft ohne Gerichtsbeschluß. Dagegen muß sich die bürgerliche Zivilgesellschaft wehren und auch übermächtige Einschüchterungs- und Zensur- versuche des Staates abwehren. Insofern wäre Abschalten oder Blocken nur nach rechtskräftigem Gerichtsbeschluß zulässig und nicht nach politischem Wind, der gerade in der EU weht. Leider ist der Trend in Richtung rechts und Totalitarismus unübersehbar.
Das erste förmliche Verfahren im Rahmen des DSA gegen X lässt nichts Gutes erwarten. Ich kenne zwar die Details nicht, aber alleine der Umstand, dass das erste Verfahren ein Zusammenhang mit „terroristischen“ Inhalten zum Nahostkonflikt hat, der bekanntermaßen aus komplexen geopolitischen Gründen sehr einseitigen Informationsflüßen und einer repressiven Regulierung unterliegt, hinterlässt bei mir den Eindruck, dass die Auslegung von Breton und Macron keine Einzelmeinung ist.