Rechtsradikale auf TwitterSendungsbewusstsein außerhalb der Echokammer

Desinformation und Echokammern in sozialen Netzwerken gelten als Gefahr für die Demokratie. Jetzt kommt durch eine Studie raus: Die Nutzer*innen sind sich der Echokammern bewusst – und treten regelmäßig außerhalb dieser in Aktion.

Frau steht in den Bergen und ruft laut
Nutzer*innen verlassen ihre Echokammer (Symbolbild) – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Nico Smit

Wissenschaftler*innen haben in einer Studie das Verhalten von deutschen Twitter-Nutzer*innen bei der Europawahl untersucht. Als Ergebnis haben sie die Annahme widerlegt, dass rechtsradikale Nutzer:innen abgeschlossene Echokammern bilden würden. In Echokammern konsumieren die Nutzer*innen – ähnlich wie bei einer Filterblase – nur Meldungen, die in ihr Weltbild passen. Sie bestärken ihre Ansichten in diesen Kammern gegenseitig und radikalisieren sich auf diese Weise. Die Befunde der Forscher*innen legen nun aber vielmehr „die Existenz einer selbstbewussteren Form von Echokammern nahe.“

Die in der Studie als „kontrovers“ bezeichneten rechten bis rechtsradikalen Nutzer*innen bleiben demnach nicht nur in ihrer Kammer. Sie verbreiten ihre Meinung auch unter seriösen Nachrichten-Tweets, sowie unter den Tweets der „nicht-kontroversen“ Nutzer*innen. Dabei sind sie besonders unter Nachrichten-Tweets aktiv, die sich sachlich mit Themen wie Flucht, Islam und Einwanderung auseinandersetzen. Des Weiteren teilen sie oft Artikel von den etablierten Publikationen „Welt“ oder „Bild“. 

Für die Studie haben die Forschenden zwischen dem 2. April und dem 2. Juni 2019 etwa 77 Millionen Tweets und 6,9 Millionen Nutzerprofile statistisch ausgewertet. Hierbei haben die Wissenschaftler*innen nur Tweets in deutscher Sprache in den Datensatz aufgenommen.

Rechte und rechtsradikale Medien als Indikator

Sie haben die Personen, die Inhalte von tendenziöser beziehungsweise extremer Medien verbreiten, den extremen Nutzer*innen zugeordnet. Personen, die hingegen seriöse oder etablierte Medien verbreiten, haben die Wissenschaftler als gemäßigte Nutzer*innen kategorisiert. Zu den tendenziösen bis extremen Medien gehörten laut der Studie Epoch Times, Philosophia perennis, Journalistenwatch, Tichy’s Einblick und die Junge Freiheit – allesamt Publikationen aus dem rechten bis rechtsradikalen Spektrum.

Die „nicht-kontroversen“ Nutzer wiederum interagieren nicht mit Tweets der kontroversen User*innen. Sie ignorieren vielmehr diese Inhalte. So antworten sie zum Beispiel nicht unter Tweets, in denen  rechte Medien geteilt werden.

Zwar seien die extremen Nutzer*innen in der Minderheit, aber ihre Tweets hätten eine deutlich größere Reichweite, als die von gemäßigten Nutzern, heißt es in der Studie. Grund dafür sei die gute Vernetzung dieser Klientel, das generiere viel Einfluss auf Twitter.

Außerdem haben die Forschenden untersucht, mit wem die User*innen auf der Plattform interagieren. Auf diese Weise konnten sie Communitys, welche durch enge Interaktion gekennzeichnet sind, aufdecken.  Diejenigen, die zu einer Community gehören, haben „untereinander einen signifikant höheren Kontakt, als mit Benutzern aus anderen Gruppen.“

Einschränkungen der Studie

Auch wenn es sich um eine große statistische Forschung handelt, weisen die Wissenschaftler*innen auf einige Einschränkungen der Arbeit hin: Sie haben beispielsweise nicht versucht,  (mögliche) Bots aus dem Datensatz herauszufiltern. „Wir haben uns entschieden, das von Bots verursachte Rauschen zu ignorieren, da aktuelle Berichte aktuelle Erkennungslösungen infrage stellen“, verweisen sie auf die Schwierigkeit Bots überhaupt zu erkennen.

Außerdem sei es möglich, dass die Gruppe der gemäßigten Nutzer*innen nicht komplett richtig erfasst ist. Denn alle, die keine Artikel von den tendenziösen bis Extremen Medien geteilt haben, wurden automatisch den gemäßigten Nutzer*innen zugeordnet. „Wir argumentieren jedoch, dass die auf diese Weise eingeführte Ungenauigkeit geringere Auswirkungen hat“, haben die Forscher ihr Vorgehen erklärt.

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15 Ergänzungen

    1. Vorm Online-Zeitalter hätte man die Studie einfach käuflich als Buch erworben und niemand hätte sich aufgeregt, dass sie nicht kostenlos überall herumliegt. Und diese wird sicher auch demnächst über eine Bibliothek zur Verfügung stehen.

  1. Ich weiß nicht, wie ich’s ausdrücken soll, aber eine Studie zu verlinken, die nur Leute lesen können, die entweder Zugang über eine Institution haben (ich glaube mein Arbeitgeber hätte) oder gerne mal 25€ an Elsevier zahlen … ist ein bisschen grenzwertig.

    Netzpolitik.org setzt sich sehr für Offenen Zugang ein und ich würde erwarten, das zumindest Teile der Publikation ohne Geld lesbar sind.

    1. Herr Engstrand! Dafür, dass Sie zuerst nicht wussten, wie Sie es ausdrücken sollten, haben Sie es aber ganz schön auf den Punkt gebracht. :}

      Uhm, aber welchen Einfluss haben wir denn auf Elsevier? Wäre die Konsequenz, dann nicht darüber zu berichten?

      1. @Constanze
        Korrekt. Elsevier gehört der Hahn abgedreht. :) Alternative wäre noch ein Link auf SciHub.

        1. Man dreht leider Elsevier nicht dadurch den Hahn ab, wenn man über wissenschaftliche Studien nicht mehr berichtet. Was SciHub angeht: Tu Dir keinen Zwang an, den Link zu posten.

      2. Also, es hätte ja auch sein können, das ein freier Zugang existiert, aber der Autor den „falschen“ Link kopiert hatte …

        Dann stellt sich die Frage, wer bei Netzpolitik.org dafür gezahlt hat? Und ob man nicht hinweisen könnte, das die Studie eben Paywalled ist? (Aus dem eigenen Umfeld kenne ich das auch, das die Originalautoren zumindest eine Zusammenfassung freigeben, auf Anfrage)

        Ich verstehe auch, das es ein berichtenswertes Thema ist, aber ich habe speziell bei so „Sehen sie hier bitte die Korrelation, aber fragen sie mich nichts genaueres“ Studien, die noch nicht mal im Original lesbar sind, etwas Bauchschmerzen.

  2. @Philip

    Über eine Anfrage würden sich die untengenannten Autoren sicherlich freuen.

    Dissecting chirping patterns of invasive Tweeter flocks in the German Twitter forest

    Jan Ludwig Reubold a
    Stephan Escher b
    Johannes Pflugmacher b
    Thorsten Strufe ab

    a Karlsruhe Institute For Technology, Am Fasanengarten 5, Karlsruhe, 76131, Baden Württemberg, Germany

    b Technical University of Dresden, Nöthnitzer Str. 46, Dresden, 01187, Saxony, Germany

  3. Hum, fragend:
    – Bildzeitung
    – Sensationspresse kein Begriff? Von wegen Reichweite…
    – Wer Reichweite sucht, der findet sie?
    – Organisierte Cliquen und Bewegungen besser vernetzt, z.B. durch Weitergabe von „interessanten Informationen“, oder sogar Links auf „interessante Informationen“.
    – Ohne Botfilterung bei Twitter u.ä., gerade bei Rechten? Nicht wenigstens Identisches herrausgepickt oder Plagiatssoftware drübergergekippt? Oder war der totsichere Russenpropagandafilter aktiv?

    So Netzwerkanalysen für sich sind aber schon auch irgendwo immer mal interessant.

    1. „besser vernetzt“

      Die Qualität für bestimmte Zwecke zu untersuchen wäre noch mal interessant. Warum oder wofür auch immer die Netzwerke jetzt bestehen, was passiert in bestimmten Ausnahmesituationen? Funktionieren die dann besser z.B. für gegenseitige Hilfe, als sich as-hoc bildendende Netzwerke unter den bisher nicht vernetzten?

      Dem entgegen steht schon mal das Beispielbild im Stile „divide and conquer“, im Sinne der Vereinzelung der Menschen, wo dann am Ende nur noch Regierung, Mafia und Rechtsradikale vernetzt sind.

      Also helfen die sich gegenseitig auch bei irgendwas? Oh, oder ist es so, dass die nicht so im Netz vernetzten besser IRL vernetzt sind? Ich vermute nicht unbedingt, wäre aber mal interessant, wenn schwierig bei wenig Intrusion durchführbar. Vielleicht könnte man Internetvernetzung gegenüberstellen Bekanntschafts- und Familienzahlen IRL o.ä. Oder man betrachtet den Nutzen für nur für Informationsausbreitung mittels des Internets, z.B. für den Krisenfall, wobei der eben für die besprochenen Netzwerke ja noch zu klären wäre (Propaganda, Hetze, Bots, PR-Klitschen, steuern wenige effektiv Viele?).

  4. Eigentlich ist das auch aus der Erfahrung leicht zu sehen, wie Rechtsextreme die Foren und Tweets fluten. Die Echokammern dienen nur der Koordination dazu. Das hat aber auch Böhmermann schon vor einigen Jahren aufgezeigt („Reconquista Germanica“-Netzwerk).
    Problematisch ist eher, dass scheinbar bürgerliche Medien eigentlich große Sympathien für Rechtsextreme haben und diese in den Foren bevorzugt behandeln. Beispiel Axel Springer Verlag. Die Foren von Welt und co sind mittlerweile rein rechtsextreme Pinnwände geworden, wer auch nur einen Millimeter links on der AfD ist, wird von den Admins dort gesperrt. Rechtskonservative sind es also mal wieder, die die Rechtsextremen „rein lassen“.

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