Emine Erdoğan mag extravagante Designer-Handtaschen. Doch als im letzten Sommer ein Foto der Ehefrau des türkischen Präsidenten Recep Erdoğan wieder auftauchte, die sie mit einer über 40.000 Euro teuren Hermes-Tasche zeigte, machte sich Unmut im Land breit.
Nicht nur untergrub das Bild die damalige Forderung Erdoğans, französische Produkte zu boykottieren. Es zeigte auch, dass an der Selbstdarstellung Erdoğans, der sich als einfacher Mann des Volkes präsentiert, nicht viel dran ist.
Trotzdem erfuhr man in der Türkei nur relativ wenig davon. Journalist:innen hielten sich in ihrer Berichterstattung lieber zurück. Sie mussten fürchten, wie ihr Kollege Ender İmrek vor Gericht zu landen. Er hatte schon zuvor über das Faible der Präsidentengattin berichtet, aus Sicht der Staatsanwaltschaft eine strafbewehrte Beleidigung (İmrek wurde im Dezember freigesprochen).
Zensur im Netz
Die Einschüchterungsversuche der autoritären Erdoğan-Regierung machten nicht Halt bei der Presse. Laut der türkischen NGO Free Web Turkey wurden auch Online-Plattformen angewiesen, das umstrittene Foto oder Berichte darüber zu entfernen.
In einer Untersuchung fand Free Web Turkey heraus, dass zwischen November 2019 und Oktober 2020 mindestens 1919 URLs, Domains oder Postings in sozialen Medien blockiert wurden. 42 Prozent davon hatten mit Erdoğan und seiner Familie oder seiner AKP, der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, zu tun. Eine breiter gefasste Untersuchung der Grundrechte-NGO Freedom of Expression Association (İFÖD) zeigt zigtausende weitere Sperraktionen.
Seit fast zwei Jahrzehnten ist Erdoğan inzwischen an der Macht. Stück für Stück hat er als Präsident die türkische Demokratie abgebaut, die unabhängige Justiz untergraben und die Meinungsfreiheit eingeschränkt. Kritik wird nicht gern gesehen, unabhängige Medien genauso wenig: Auf regierungskritische Berichterstattung folgen oft Klagen, Geldstrafen oder von oben verordnete Sendepausen.
Neues Gesetz macht Druck auf Umwegen
Im vergangenen Oktober hat die Erdoğan-Regierung die Zügel noch straffer angezogen. Ein umstrittenes Social-Media-Gesetz macht Online-Diensten mit über einer Million Nutzer:innen neue Auflagen: Unter anderem müssen sie Nutzer:innendaten im Inland speichern, eine Vertretung im Land benennen und gerichtlichen Entfernungsaufforderungen innerhalb kurzer Zeit nachkommen.
Auf dem Papier sind die Bestimmungen nicht notwendigerweise problematisch. Riesige Dienste, die die Größenordnung ihrer Produkte nicht in den Griff bekommen, sollten schließlich zur Verantwortung gezogen werden können. Nicht umsonst enthält etwa der EU-Vorschlag für ein Gesetz für digitale Dienste einige ähnliche Bestimmungen.
Verweise der türkischen Regierung auf das deutsche Netzwerkdurchsetzungsgesetz sind deshalb nichts anderes als Ablenkungsmanöver. Problematisch sind weniger gerichtlich angeordnete Löschgesuche, sondern eine Richterschaft, die im Dienste der Regierung arbeitet.
Datenschutzbedenken dürften für Pflicht zur lokalen Datenspeicherung eine kleinere Rolle gespielt haben als der Wunsch, dass türkische Ermittlungsbehörden nun leichter an persönliche Daten von Nutzer:innen kommen. Und eine Ansprechperson im Land, die für angebliche Majestätsbeleidigung persönlich haftbar gemacht werden kann, wird sich staatlichen Anordnungen eher fügen als eine im Ausland.
Die meisten Plattformen machen mit
Von dem Gesetz betroffene Plattformen zögerten zunächst, die meisten fielen der Reihe nach aber um. Facebook erklärte sich am vergangenen Montag bereit dazu, den Vorgaben nachzukommen, und folgte damit Youtube, Tiktok, Linkedin, Dailymotion und Vkontakte.
Diese Entscheidung ändere weder Facebooks Gemeinschaftsregeln noch den globalen Prozess, sich um Aufforderungen von Regierungen zu kümmern, sagt eine Facebook-Sprecherin in einer Stellungnahme an netzpolitik.org. „Wir werden die Repräsentanz abziehen, sollte Druck einen der beiden Mechanismen ausgeübt werden“, teilt die Sprecherin mit. Im ersten Halbjahr 2020 entfernte Facebook 368 Inhalte, lässt sich dem letzten Transparenzreport entnehmen.
Am Dienstag hagelte es erste Sanktionen für Twitter, seinen kurz vor der Abschaltung stehenden Video-Dienst Periscope und die Online-Pinnwand Pinterest. Die Anbieter haben bislang versäumt, eine Ansprechperson zu benennen. Nun will sie die türkische Regierung dort treffen, wo es am meisten wehtut: Auf diesen Diensten dürfen ab sofort keine Anzeigen geschaltet werden. In einem nächsten Schritt könnte der Zugriff auf die Dienste gedrosselt werden, sagte der stellvertretende Infrastrukturminister Omer Fatih Sayan der Nachrichtenagentur AP.
Ob es sich um eine bewusste Entscheidung der Unternehmen handelt, auf das Geschäft in der Türkei zu verzichten, bleibt vorläufig unklar. Ein Twitter-Sprecher wollte auf Anfrage die „Vorgänge in der Türkei“ nicht kommentieren, Pinterest antwortete bislang nicht.
Online-Dienste müssen Transparenz schaffen
Menschenrechtsorganisationen reagierten bestürzt auf die Entwicklung. Wie Dominosteine seien die Unternehmen umgefallen, sagt Milena Büyüm von Amnesty International in einer Stellungnahme, um einem „drakonischen neuen Gesetz nachzukommen, das Widerspruch abwürgt“. Die Entscheidung von Facebook, Google und Co. bringe sie in große Gefahr, zum Erfüllungsgehilfen staatlicher Zensur zu werden.
Die Unternehmen könnten sich keinesfalls darauf zurückziehen, nationale Gesetze befolgen zu müssen, sagt Lena Rohrbach von Amnesty International in Deutschland. „Nach den UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte haben Unternehmen eine eigenständige Verantwortung, die Menschenrechte zu respektieren“, sagt die Expertin für Menschenrechte. „Diese menschenrechtliche Verantwortung geht über die Einhaltung nationaler Gesetze hinaus und kann sogar bedeuten, dass Unternehmen nationale Gesetze nicht befolgen sollten, wenn dies zu Menschenrechtsverletzungen führen würde“.
Im Extremfall wäre ein solcher Rückzug sogar verpflichtend, weist Rohrbach auf internationales Recht hin. Jedoch kann das ein zweischneidiges Schwert sein: „Dies ist allerdings gerade im Fall von Social Media Plattformen eine schwierige Abwägung, denn diese sind oftmals die letzte Möglichkeit für die Zivilgesellschaft, Informationen frei zu teilen, wenn etwa die Pressefreiheit bereits stark eingeschränkt ist“, sagt Rohrbach.
Sarah Clarke von der Grundrechte-NGO Article 19 forderte die Unternehmen auf, den Zensurwünschen der türkischen Regierung nicht nachzukommen. Zudem dürften sie ihre Nutzer:innen nicht dem Risiko aussetzen, willkürlich verfolgt oder verhaftet zu werden, indem sie türkischen Behörden private Daten aushändigen.
„Facebook und die anderen Tech-Unternehmen, die eine Präsenz in der Türkei einrichten, müssen jetzt öffentlich spezifische Maßnahmen bekannt machen, mit denen sie das Recht auf freie Meinungsäußerung schützen“, sagte Clarke – „in Anbetracht des zweifellos kommenden Drucks seitens der Behörden und der fehlenden richterlichen Unabhängigkeit“.
[Update, 25. Januar: Stellungnahmen von Facebook und Lena Rohrbach hinzugefügt.]
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