Wochenrückblick KW9Datenstau auf Deutschlands Straßen

Die Digitalisierung in Deutschland ist und bleibt eine große Baustelle. Wo es Erfolge zu vermelden gibt, leidet oft der Datenschutz. Und manchmal auch der Steuerzahler. Wer gerade nicht im Zug sitzt oder sich außerhalb eines Wohngebiets aufhält, erfährt mehr im netzpolitischen Wochenrückblick.

So kann man sich Deutschland in Sachen Digitalisierung vorstellen (Symbolbild) – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Daniel Gregoire

Das Bundesland Brandenburg speichert Millionen Kfz-Kennzeichen in einer riesigen Datenbank. Stündlich kommen bis zu 2.300 neue Kennzeichen dazu. Die Rechtslage ist umstritten – jetzt will die Bundesregierung regulieren. Die Auto-Vorratsdatenspeicherung soll verboten werden, der Einsatz von Kennzeichenscannern trotzdem erlaubt bleiben, berichtet Andre Meister. Aber nur, solange sie zur Fahndung nach konkreten Kennzeichen genutzt werden. Einige Bundesländer, angeführt von Brandenburg, wehren sich gegen die Verbots-Pläne. Ein Grund dafür könnten die kostspieligen Anschaffungen von „automatisierten Kennzeichenlesesystemen“ sein, deren kommerzielle Hersteller mitunter Überwachung in Saudi-Arabien anpreisen.

Maßnahmen in der Corona-Pandemie führen dazu, dass Arbeitslose und Bezieher:innen von Hartz4 bei Kontrollen im öffentlichen Nahverkehr bloßgestellt werden und Kontrolleur:innen unnötig viele Daten preisgeben müssen. Diese Stigmatisierung kritisiert jetzt die Berliner Datenschutzbeauftragte.

Weniger Gedanken um sensible Daten muss sich die Polizei machen – vor allem, wenn es um ihre schweren Geschütze geht. Das Bundesinnenministerium verweigerte die Herausgabe von Informationen über Polizeipanzer und provozierte mit seiner Geheimniskrämerei einen Rechtsstreit. Der Kläger staunte nicht schlecht, als das Ministerium dem Richter erklärte, dass es gar nicht im Besitz der erfragten Informationen sei. Die Verhandlung war dementsprechend kurz, doch der Ärger groß, schreibt Constanze Kurz.

Europa Neurotisch

„Du hast multiple Persönlichkeiten…und Komplexe in vielen Facetten“, singt Stereo Total in ihrem Song „Europa Neurotisch“. Man möchte es bei folgenden Nachrichten fast glauben: In einem Fall aus Estland entscheidet der Europäische Gerichtshof, dass die Nutzung von anlasslos gespeicherten Daten auf schwere Straftaten und Bedrohungen der nationalen Sicherheit beschränkt sein muss, berichtet Brüssel-Korrespondent Alex Fanta. Es ist nicht das erste Urteil gegen die Vorratsdatenspeicherung. Erst im Herbst 2020 urteilte das EU-Gericht über eine Klage von Grundrechteorganisationen aus Frankreich, Belgien und Großbritannien. Die pauschale Verpflichtung zur massenhaften Datenspeicherung sei illegal, entschied das Gericht.

Weiter westlich wird in die entgegengesetzte Richtung geprescht – trotz Grundrechtsbedenken drängen Frankreich, Spanien, die Niederlande und weitere Staaten auf ein Ausweitung der massenhaften Speicherung von Kommunikationsdaten. Ein von netzpolitik.org veröffentlichtes Dokument zeigt, wie sich die Staaten dabei über Einwände des EU-Gerichts hinwegsetzen wollen.

Bei der Vorhersage von Straftaten setzen Europol und Frontex auf Künstliche Intelligenz. Die EU-Polizeiagentur erhält demnächst eine neue Verordnung, wonach heikle Personendaten für Forschungszwecke genutzt werden dürfen. Entsprechende Projekte laufen bereits. Schon im nächsten Jahr will die EU-Grenzagentur einen KI-gestützten Lügendetektor zur Einreisekontrolle einsetzen. Die verstärkte Nutzung von Algorithmen zur Strafverfolgung hatte die EU-Kommission vor einem Jahr angekündigt. Das mit knapp 7 Millionen Euro ausgestattete und von der Rüstungssparte des Airbus-Konzerns angeführte Projekt „Immerse Interact Investigate“ (INFINITY) soll „riesige Datenmengen“ nach Auffälligkeiten durchsuchen. Hört sich doch super an.

Deutschland ≠ Digitalisierung

Deutschland und Digitalisierung, zwei Begriffe, die zusammen eine eigentümliche Dissonanz verursachen, die in der Pandemie noch verstärkt wird. Dabei versucht es Vater Staat doch krampfhaft mit der digitalen Wende. Das Registermodernisierungsgesetz zeigt, dass es viele Fallstricke gibt. Trotz aller Warnungen von Datenschützern wird in Zukunft die Steuer-ID als Personenkennzahl genutzt werden, an der staatliche Register zusammenführt werden können. Das hat der Bundesrat nicht ohne Auto-Metaphern vom brummenden Verwaltungsmotor beschlossen. Doch das Gesetz könnte verfassungswidrig sein, weil sich das Bundesverfassungsgericht 1983 genau gegen solche Pläne gestellt hatte.

Die Corona-Krise hat sichtbar gemacht, wie viel Aufholbedarf es hierzulande bei der digitalen Bildung gibt. Aber das ist noch kein Grund, alles gleich negativ zu sehen. Aus jedem Fehler erwächst die Möglichkeit, es in Zukunft besser zu machen – wenn man die Chancen richtig nutzt: Das Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen hat rund 2,5 Millionen Euro für eine Dreijahreslizenz des Brockhaus Online-Nachschlagewerks ausgegeben. Die Meldung hat vergangene Woche Spott und Unverständnis ausgelöst, der Wikimedia Deutschland e. V. stellte die berechtigte Frage, warum die öffentliche Hand stattdessen nicht in freie Bildungsinhalte investiert. Verpatzt? Verpasst? Ja.

Deutschlands digitale Bräsigkeit bleibt auch dem Ausland nicht verborgen: Wer ins Land der Dichter und Denker einreist, hat gerade die einmalige Gelegenheit, den Zustand der Digitalisierung mit eigenen Augen miterleben zu dürfen. Grund dafür ist die berüchtigte „Einreise-SMS“. Unser Redakteur Markus Reuter hat die desaströse User-Experience von vorne bis hinten durchgespielt.

Weniger chaotisch geht es bei der Digitalisierung des Gesundheitssystems zu. Seit letztem Jahr gibt es in Deutschland Apps auf Rezept. Patient:innen können sich sich elf verschiedene Apps und Browseranwendungen von der Krankenkasse erstatten lassen. Sie versprechen Hilfe bei Erkrankungen wie Adipositas, Angststörungen, Migräne, Tinnitus, Depressionen und Arthrose. Doch was wäre Digitalisierung ohne Kompromisse beim Datenschutz? Bei der Nutzung der Apps fallen personenbezogene Gesundheitsdaten an. Die könnten am Ende in den USA landen, weiß Jana Ballweber.

Wer gelegentlich ein paar Schritte außerhalb des Dorfes oder der Stadt macht, kennt das Problem: Das Signal ist weg. Die TKG-Novelle sollte unter anderem den katastrophalen Empfang lindern, berichtet unser Redakteur Tomas Rudl. Doch das Recht auf schnelles Internet bleibt weiter umstritten. Bei einer Anhörung im Bundestag warfen Sachverständige der großen Koalition vor, mit ihrer Novelle des Telekommunikationsgesetzes nur EU-Mindestvorgaben umzusetzen.

Deutschland ♥ Überwachung

Kritik erntete die TKG-Novelle auch im Hinblick auf Überwachung: Das Bundesinnenministerium (BMI) will kurzfristig noch in die Novellierung des Telekommunikationsgesetzes (TKG) hereinverhandeln, dass Nutzer:innen von WhatsApp, Zoom, Skype, Signal, Threema, Telegram, iMessage, Facebook-Messenger, E-Mail und allen anderen „nummernunabhängigen interpersonellen TK-Diensten“ ihre Personalien bei den jeweiligen Anbietern verifiziert hinterlegen müssen. Dabei enthält die TKG-Novelle selbst schon viele Punkte, die zu mehr Überwachung führen. Manch einer hält deswegen die „Wunschliste des Grauens“ für eine Blendgranate, welche die Debatte vom eigentlichen Inhalt der TKG-Novelle ablenkt, weil alle plötzlich nur noch über die Maximalforderungen des BMI reden.

Das rheinland-pfälzische Innenministerium strukturiert seine polizeilichen Datenbanken über Fußballfans neu. Obwohl die Dateien „Szenekundige Beamte“ dabei datenschonender werden, ist das kein Anzeichen für den Willen zu einer konstruktiveren Beziehung zwischen Fans und Behörden, berichtet Jana Ballweber. Die Fußballfan-Daten landen weiter massenweise bei der Polizei. 

Böse Zungen behaupten, der Zeitpunkt wäre nicht zufällig gewählt: Erst ganz zum Schluss ist bei geplanten Änderungen der Strafprozessordnung die heimliche Beschlagnahme im Gesetzentwurf der Bundesregierung aufgetaucht. Behörden sollen leichter auf E-Mails und Cloud-Inhalte zugreifen können. Die Betroffenen würden das nicht erfahren. Die geplante Regelung mag unscheinbar daherkommen, lautet die Überschrift schließlich nur „Zurückstellung der Benachrichtigung des Beschuldigten; Offenbarungsverbot“. Es bahnt sich mit diesem Vorschlag jedoch ein Paradigmenwechsel in der Strafprozessordnung an, der rechtspolitisch und verfassungsrechtlich bedenklich ist, beschreibt unser Gastautor Mayeul Hiéramente die Situation.

Nicht zu vergessen, Missachtung von Datenschutz ist kein reines Staatsgeschäft. Wegen gravierender Verstöße gegen die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) hat sich die „Deutsche Wohnen“ 2019 ein Bußgeld in Millionenhöhe eingefangen. Der Immobilienkonzern wehrte sich erfolgreich gegen den Bescheid. Die Berliner Datenschutzbeauftragte Maja Smoltczyk hat jetzt Beschwerde eingelegt. Die nächste Runde im Rechtsstreit mit Deutsche Wohnen steht an. Der Fall ist wichtig, weil sich an ihm auch entscheidet, ob große Unternehmen für Datenschutzverfehlungen haftbar gemacht werden können, analysiert Vincent Först.

Und überhaupt: Persönliche Daten sollen in Deutschland eigentlich (immer dieses „eigentlich“) nicht zentral gespeichert werden – außer, man ist Ausländer:in. Mit einem neuen Gesetzentwurf will die Regierung den Datenpool erneut erweitern, berichtet Chris Köver. Informationen über Asylentscheidungen im Ausländerzentralregister wären nicht nur ein Datenschutzproblem, sondern eine konkrete Gefahr für die Betroffenen.

Gut gemeint…und schlecht umgesetzt

Vor knapp einem Jahr hat der Volksentscheid Transparenz der Berliner Stadtregierung die Unterschriften von 33.000 Bürger:innen übergeben. Das Bündnis mit mehr als 40 zivilgesellschaftlichen Organisationen hatte einen eigenen Entwurf für ein Transparenzgesetz geschrieben, der die Berliner Verwaltung zu mehr Transparenz und zur proaktiven Veröffentlichung wichtiger Informationen verpflichten soll. Anstatt sich mit der Initiative zu befassen, hat der rot-rot-grüne Senat nun ein eigenes Transparenzgesetz vorgelegt – das den Status Quo sogar verschlechtert, wie Ingo Dachwitz schreibt.

Wenn Google davon spricht, dem Tracking von Nutzer:innen im Netz einen Riegel vorschieben zu wollen, springen bei vielen Menschen die Alarmglocken an. „Menschen sollten nicht akzeptieren müssen, im gesamten Web getrackt zu werden, um die Vorteile relevanter Werbung zu genießen“, heißt es in einem Blogpost des Konzerns. Ein Update in Googles Browser Chrome soll in wenigen Wochen einer verbreiteten Form der Datensammelei im Netz ein Ende bereiten. Doch der vermeintliche Schlag gegen Tracking könnte die Dominanz Googles stärken, schreibt Alex Fanta.

Der EU-Vorsitz fordert ein europäisches Waffenregister, berichtet Matthias Monroy. Feuerwaffen und ihre Besitzer:innen sollen im Rahmen der sogenannten Prüm-Beschlüsse aufgenommen werden. Der etwas holprige Begriff steht für ein dezentrales System, in dem die Polizeien der EU-Mitgliedstaaten DNA-Dateien, Fingerabdrücke, Kraftfahrzeugdaten und bald auch Gesichtsbilder vernetzen. Die in Ermittlungen automatisierte Abfrage der Daten soll nun auf Feuerwaffen erweitert werden.

Und sonst so?

Wie läuft eine Intendant:innenwahl beim ZDF ab? Seit dieser Woche ist bekannt, dass der aktuelle Intendant Thomas Bellut nicht wieder antreten wird. Mitglied des ZDF-Fernsehrats Leonhard Dobusch, der auch regelmäßig für netzpolitik.org schreibt, gibt Einblicke hinter die Kulissen.

Wer Youtube auf längere Zeit nutzt, kennt die mitunter penetranten Videoempfehlungen der Plattform. Zu einem interessanten Ergebnis kommt eine aktuelle Studie der Landesmedienanstalten. Die besagt, dass die Empfehlungsalgorithmen von Youtube derzeit relativ wenige irreführende Inhalte verbreiten würden. Ausgehend von Suchergebnissen zu „Covid-19-Pandemie“, „Klimawandel“ oder „Flüchtlinge“ würden Nutzer:innen überwiegend auf seriöse Nachrichtenquellen gelenkt. Tomas Rudl hat sich die Studie genauer angesehen, dass hier nur ein kleiner Einblick in die Funktionsweise von Youtube gewährt wird.

Eine Reihe an alteingesessenen Medienhäusern und Verlagen wurde in den letzten Jahren von Tech-Giganten zur Schlachtbank geführt. Es hagelte Umsatzeinbußen, Insolvenzen, Kurzarbeit. Jetzt eröffnet Facebook nach dem Vorbild von Google einen neuen Newsfeed für journalistische Inhalte und zahlt den Veranwortlichen erstmals Geld dafür. Was folgt, ist das Schweigen der Lämmer: Details zu den Verträgen und Geldbeträgen bleiben geheim. Das Nachsehen werden nicht nur die Fans des Leistungsschutzrechts haben, sondern auch Medien wie netzpolitik.org, die kein Geld von Facebook wollen…

… sondern lieber ihre Unabhängigkeit durch eine Leser:innenfinanzierung wahren.

 

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