Wochenrückblick KW 49Grenzen setzen durch Maßnahmen

Advent, Advent, ein Lichtlein brennt, man kennt’s. Diese Woche blicken wir zurück auf polarisierende Satire, vielerlei Ausspähen und Millionenstrafen.

Cameltoe
Zur Feier des Tages gibts heute nur einen Cameltoe, anstatt eines ganzen Kamels. – Gemeinfrei-ähnlich freigegeben durch unsplash.com Picture Seeker

Ein Cameltoe ist nicht nur eine Kamelzehe, sondern auch die sichtbare Form der Vulvalippen beim Tragen von engen Hosen. Franziska Lohberger wollte den Cameltoe anhand eines Instagram-Posts normalisieren, doch dies geschah nicht konfliktfrei. Hendrik Nitsch alias „Udo Bönstrup“ macht sich über den Beitrag lustig, ahmt ihn vor 161.000 Followern nach und setzt eine Welle aus Hass gegen Lohberger frei. Daraufhin solidarisieren sich mehrere Feminist:innen, um der digitalen Gewalt ein Ende zu setzen.

Diese Woche beschäftigte uns eine breite Palette an Themen, vom Sexismus im Netz bis hin zu neuen geplanten Überwachungsmöglichkeiten für Staat und Firmen. Außerdem haben wir unseren Datenscham-Rechner vorgestellt und berichten über unsere laufende Spendenkampagne.

Spähen unter Freund:innen und Feind:innen

Zwischen Villen und Bio-Supermärkten demonstrierte vergangenes Jahr das satirische Quartiersmanagement Grunewald in Berlin. Die Bundespolizei stellte Kameras auf und überwachte fast alle Teilnehmenden als vermeintliche Schutzmaßnahme. Nun klagen die Veranstalter – dies soll finanziert werden anhand einer Crowdfunding-Kampagne. Ziel der Klage ist es, Aktionen dieser Art zukünftig als rechtswidrig zu deklarieren, da die Videoüberwachung von Demonstrationen das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit einschränke.

Ein neues BND-Gesetz ist in den letzten Zügen. Der 139 Seiten lange Entwurf ist noch umstritten. Massenüberwachung, Abschnorcheln und Hacken werden ausgeweitet und legalisiert. Beispielhaft sollen zukünftig auch Verbindungsdaten von Deutschen gespeichert werden dürfen und Kommunikationsanbieter könnten zur Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst gezwungen werden. Doch das Bundesverfassungsgericht fordert Einschränkungen und Volumenbegrenzungen. Den gesamten Gesetzentwurf stellen wir euch hier zur Verfügung

Die Stadt Karlsruhe will mehr Sicherheit in der Innenstadt schaffen, doch für polizeiliche Videoüberwachung ist die Kriminalitätsrate zu niedrig. Was nun? Der Energiekonzern EnBW will gemeinsam mit der Stadtverwaltung eine besondere Form der Videoüberwachung installieren. EnBW würde infolgedessen die Sicherheitslage der Stadt einschätzen und gegebenenfalls die Polizei kontaktieren, für drei Jahre wären die Dienste sogar kostenlos.

Staatstrojaner sollen Teil sein des neuen Bundespolizeigesetzes. Das heimliche Hacken und Überwachen war bisher dem BKA, Zoll, Landespolizeien und bald 19 Geheimdiensten gestattet. Die Bundespolizei soll zukünftig „Telekommunikationsüberwachung an der Quelle“ durchführen, sprich nur laufende Kommunikation darf überwacht werden. Es ist noch umstritten, ob sogar gespeicherte Kommunikationsinhalte abgehört werden dürfen.

Der österreichische Forscher und Datenschützer Wolfie Christl wies auf Twitter auf eingebaute Überwachungstools bei Microsoft 365 hin. Dies trat eine Lawine an Kritik gegen die Betreiber:innen los. Die Nutzer:innenzahlen von Microsoft Teams und Office 365 sind seit dem ersten Lockdown rasant gestiegen. Die Programme sind fürs Homeoffice praktische Wegbegleiter, doch datenschutztechnisch bedenklich, kritisiert Wolfie Christl. Arbeitgeber:innen hatten bisher die Befugnis, das Arbeitsverhalten einzelner Angestellter zu kontrollieren. Diese Möglichkeit wird nun zwar als Reaktion des Unternehmens auf die Kritik eingeschränkt. Andere bedenkliche Tracking-Funktionen bleiben aber bestehen.

Google verletzte das US-amerikanische Arbeitsrecht, dies deklarierte die Arbeitnehmerschutzbehörde NLRB. Google überwachte Mitarbeiter:innen und entließ zwei von ihnen, weil sie gegen das Vorgehen protestierten. Die Mitarbeitenden organisieren sich aus verschiedensten Gründen immer wieder. Kündigungen, Einschüchterungen und weitere Praktiken dieser Art nutzt Google vermehrt um Aktivismus am Arbeitsplatz unterdrücken. Falls der Konzern sich nicht auf eine Einigung einlässt, wird der Fall vor einem Verwaltungsgericht landen.

Das US National Institute of Standards and Technology (NIST) hat 152 unterschiedliche Gesichtserkennungsalgorithmen geprüft. Hierbei kam heraus, dass die Technologie bereits fortgeschrittener ist, als vermutlich viele erwartet haben. Maskierte Gesichter sind nun, mit einer Fehlerquote von nur fünf Prozent, identifizierbar. Dies sah in der Vorgänger-Studie von Juli noch ganz anders aus, mit einer damaligen Fehlerrate von 50 Prozent. Gesichtserkennungstechnologien verletzten Grundrechte – das Bündnis „Gesichtserkennung stoppen“ will nun endgültig diese riskante Technologie verbieten lassen.

Weniger Sicherheit etwa durch Schnüffelpuppen

Wir verfallen der Nostalgie: die traditionellen, analogen Puppen werden vermehrt durch digitale Alternativen abgelöst. „Smarte“ Puppen weisen, sowie viele andere digitale Formate, Sicherheitslücken beim Datenschutz auf. Sie sind mit einer Abhörfunktion und Netzanbindung ausgestattet und gelten als verbotene Sendeanlage. Die Bundesnetzagentur warnt vor dem ach so harmlosen Spielzeug, da es sich als Schnüffelpuppe enttarnen könnte.

Am vergangenen Wochenende mobilisierte in Frankreich die polizeiliche Misshandlung eines schwarzen Musikers hunderttausende Menschen. Sie demonstrierten gegen Polizeigewalt, Pressefreiheit und ein neues Sicherheitsgesetz. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen: Die Polizei setzte Tränengas gegen Demonstrierende ein, attackierte Journalist:innen. Das „Globale Sicherheitsgesetz“ sieht zukünftig Haftstrafen bis zu einem Jahr und bis zu 45.000 Euro Bußgelder vor, wenn etwa Gesichtsmerkmale von Polizeibeamten, beispielsweise per Videoaufnahme, verbreitet werden. Der Trend zu „mehr Sicherheit“ wird in Frankreich fortgesetzt.

Der Bundesdatenschutzbeauftrage kritisiert in seinem Jahresbericht die Weitergabe von Daten zivilgesellschaftlicher Organisationen an das Bundesamt für Verfassungsschutz. Dass diese Herausgabe von Daten nicht nur ohne gesetzliche Grundlage geschieht, sondern die betroffenen Organisationen weder bei Ausschreibungen noch zu späterem Zeitpunkt über diese informiert werden, hält das Bundesinnenministerium nicht für bedenkenswert. Nun soll das Berliner Verwaltungsgericht über den Fall entscheiden.

Diese Woche geht der von netzpolitik.org entworfene Privacy-Score-Rechner unter dem etwas provokanten Titel datenscham.org an den Start. Ob dich dein digitales Verhalten eher zur Datenschleuder oder zum Privacy-Ninja macht, kannst du hier herausfinden. Ingo Dachwitz erklärt, warum der Titel des Rechners nicht allzu ernst genommen werden sollte und warum uns Sensibilisieren wichtiger als Shaming ist.

Rechter Wahnsinn

Ralf Ludwig ist Anwalt aus Leipzig und inszeniert sich als Bürgerrechtler, er ist Teil der „Querdenken“-Bewegung, sein Wort hat dort Gewicht.Eine Initiative sammelt Spenden, um gegen Corona-Maßnahmen zu klagen. Unser Kollege Daniel Laufer und der Journalist Ole Elfenkämper folgten ihrer Spur zu einer Briefkastenfirma in den Niederlanden und einem mutmaßlichen Reichsbürger im Odenwald.

Die AfD hasst den Rundfunkbeitrag, sowie vermutlich auch einige Bürger:innen. Öffentlich rechtliche Medien sind Feinde rechter Medien – sie entwirren Lügengeflechte und schaffen Rationalität. Leonhard Dobusch debattiert, wieso die künstliche Debatte um die Erhöhung des Rundfunkbeitrages um 86 Cent rechten Ideologien in die Hände spielt.

2021 soll ein neues Gesetz zur Regulierung politischer Werbung vorgelegt werden. Die EU-Kommission hat das als Teil eines Aktionsplan angekündigt, der sich gegen Desinformation und Wahlmanipulation im Netz richtet. Der Europäische Aktionsplan für Demokratie wurde gestern in Brüssel vorgestellt, konkrete Gesetzesentwürfe folgen im nächsten Jahr – wir haben euch die wichtigsten Punkte des Plans zusammengefasst.

Und sonst so?

Wenn die Bilder und Hashtags harmloser Proteste auf Social Media Plattformen gesperrt werden, dann könnte Overblocking hierfür verantwortlich sein. Im Dannenröder Forst demonstrierten Umweltaktivist:innen gegen die Abholzung des Waldes unter dem Hashatag #dannibleibt. Twitter verwechselte diesen Wortlaut wohl mit verwandten gesperrten Begriffen berühmter Pornodarstellerinnen, wie etwa Danni Rivers oder Daniella Levy, vermutet Datenanalyst Luca Hammer. Das umstrittene Bauprojekt polarisiert selbst das Bündnis90/Die Grünen, umso wichtiger ist die Freigabe der Twitter-Beitäge der Protestbewegung.

Nach zwei langen Jahren soll das IT-Sicherheitsgesetz jetzt endlich fertig sein. Das Innenministerium hat einen Entwurf veröffentlicht, der noch im Dezember verabschiedet werden soll. Das geht den Expert:innen der AG KRITIS zu schnell, die sieht nämlich noch erhebliche Probleme in dem Gesetzestext. Vom Hackerparagrafen bis zu undurchsichtigen Zertifikaten und Bußgeldregelungen ist da noch viel Arbeitsbedarf.

Die EU-Grenzpolizei steht in der Kritik, denn sie ist an Menschenrechtsverletzungen beteiligt. An den EU-Außengrenzen sind sie für Pushbacks verantwortlich gewesen, wie die Nichtregierungsorganisation FragDenStaat belegt. Frontex zieht nun gegen die Transparenzaktivist:innen vor Gericht. Bereits Ende 2019 klagte FragDenStaat erfolglos gegen die Behörde, nun starten sie einen erneuten Anlauf.

Bevor „Die Wikipedia Story: Biographie eines Weltwunders“ dieses Jahr für Verwandte unterm Weihnachtsbaum liegt, nochmal die Rezension unserer Redaktion konsultieren? Obwohl ihm eine kritische Auseinandersetzung  mit den Schwächen der Plattform sowie ein Ausblick in die Zukunft fehlt, hatte Leonhard Dobusch Spaß beim Lesen der zahlreichen Anekdoten, die die fast 20-jährige Geschichte von Wikipedia geprägt haben. 

Vor dem Hintergrund zunehmender Repressionen gegen Journalist:innen richtet sich unser Blick auf die Philippinen, wo ein Geschäftsmann die kritische Journalistin Maria Ressa wegen eines getwitterten Screenshots eines Artikels aus dem Jahr 2002 anklagt. Die mehrfach international ausgezeichnete Journalistin wehrt sich nun unter Berufung auf das Oberste Gericht gegen den Vorwurf der Cyber-Verleumdung. 

In den letzten fünf Jahren irgendetwas verpasst in Sachen Kampf gegen Ende-zu-Ende-Verschlüsselung seitens der EU-Mitgliedstaaten? Kein Problem, Matthias Monroy rekapituliert Jahr für Jahr den Prozess seit 2015 und geht ausführlich auf die diesjährigen Entwicklungen vor dem Hintergrund eines neuentflammten Terrorismus in Europa und der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ein. 

Unser Grafiker Ole hat sich darüber hinaus die Mühe gemacht, gestalterisch tätig zu werden und euch zahlreiche Webbanner und Share-Pics zur Verfügung zu stellen, mit denen ihr uns supporten und datenscham.org reichweitetechnisch durch die Decke gehen lassen könnt. Ob für Facebook Post, Instagram Story oder Twitter Fleet – ihr könnt alle Banner und Share Pics sind im entsprechenden Format downloaden. 

Und zum Schluss blicken wir zurück und nach vorne. Wie waren die Zahlen im September? Es war der beste September der Geschichte von netzpolitik.org! Die Einzelspenden sind deutlich gestiegen, es wurden 60.000 Euro gespendet, eine Steigerung von 76 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Doch bis zur Ausfinanzierung unserer Arbeit fehlen uns bis Jahresende noch rund 116.000 Euro an Spenden. Falls ihr noch nicht gespendet habt, bitten wir Euch um eure Unterstützung. Mit dieser wird unser unabhängiger Journalismus überhaupt erst ermöglicht.

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