In Brüsseler Fluren sorgt die Marktmacht und Dominanz der Datenkonzerne Google und Facebook für immer größeren Missmut. Die Frage, wie solche Plattformen reguliert werden sollten und vor allem, wie diese mit vermeintlich illegalen Inhalten umgehen, füllt ganze Konferenzräume. Noch gibt es keine konkreten Vorschläge, aber seit mehreren Monaten wird gemunkelt, dass die e-Commerce-Regeln in Europa in der kommenden Legislaturperiode geändert werden sollen. Plattform-Regulierung ist mehr als ein Schlagwort: Das Thema konkretisiert sich und könnte in der Tat zur nächsten großen Lobby-Schlacht werden.
Worum es geht
Die e-Commerce-Richtlinie der Europäischen Union regelt zentrale Fragen rund um den elektronischen Geschäftsverkehr und vor allem die Haftung und Verantwortlichkeit von Providern.
Die Richtlinie bietet Diensteanbietern seit mehr als 15 Jahren einen sicheren Hafen. Sie schreibt vor, dass Anbieter unter bestimmten Bedingungen nicht für die Inhalte verantwortlich sind, die Nutzer*innen bei ihnen hochladen und teilen. Die Regel hat dazu beigetragen, dass sich das Internet revolutionär entwickeln konnte. Durch sie müssen Anbieter nicht fürchten, für jede Rechtswidrigkeit ihrer Nutzer vor Gericht geschleppt zu werden.
Die Richtlinie erklärt (Erwägungsgrund 40):
Die Diensteanbieter sind unter bestimmten Voraussetzungen verpflichtet, tätig zu werden, um rechtswidrige Tätigkeiten zu verhindern oder abzustellen. Die Bestimmungen dieser Richtlinie sollten eine geeignete Grundlage für die Entwicklung rasch und zuverlässig wirkender Verfahren zur Entfernung unerlaubter Informationen und zur Sperrung des Zugangs zu ihnen bilden.
Was ist „Notice und Takedown“?
Die e-Commerce-Richtlinie hat in Europa indirekt ein sogenanntes „Notice und Takedown“-Verfahren eingerichtet. Laut Artikel 14 dieser Richtlinie können Provider von einer Haftungsbefreiung profitieren, wenn sie den Zugang zu Informationen schnellstmöglich entfernen oder deaktivieren, sobald sie Kenntnis von deren rechtswidrigem Charakter erlangen. Die Regeln gelten für jegliche Art von illegalen oder rechtswidrigen Inhalten.
Zudem bestimmt Artikel 15 der Richtlinie, dass Diensteanbieter nicht zur Internetpolizei ernannt werden dürfen – jedenfalls dürfen sie nicht zu einer allgemeinen, aktiven Überwachung aller Inhalte gezwungen werden.
Trotz der weiten Verbreitung bezeichnet der Begriff „Notice und Takedown“ nur eine von vielen Mechanismen, die ein Provider ergreifen kann. Passender wäre eigentlich „Notice und Action“, da der Begriff die verschiedenen Verfahren umfasst, um illegale oder rechtsverletzende Inhalte von ihren Plattformen aufgrund von einer erhaltenen Meldung zu beseitigen. Provider können auf unterschiedliche Weise auf Meldungen reagieren. Sie können entweder sofort handeln und den Inhalt sperren oder blockieren, oder auf eine Antwort des Nutzers oder der Nutzerin warten und entsprechend reagieren, nachdem sie per Gegen-Meldung eine Verteidigung erhalten haben.
Grundrechte und Kollateralschäden
„Notice und Action“-Mechanismen haben eine direkte Auswirkung auf die Meinungsfreiheit, da sie regeln, wie Inhalte aus dem Netz entfernt oder gesperrt werden sollen. Von Providern wird seit der e-Commerce-Richtlinie erwartet, dass sie über die konkurrierenden Rechte und Interessen entscheiden. Dies ist natürlich insofern problematisch, da Privatunternehmen nicht qualifiziert sind, Gerichte in einer derart wichtigen Aufgabe zu ersetzen. Dies wird auch oft als „privatisierte Rechtsdurchsetzung“ bezeichnet.
Weigern sich Plattformen, Inhalte zu löschen, laufen sie in Gefahr, für diese Inhalte haftbar zu werden. Gewinnorientierte Unternehmen wollen Kosten minimieren und vermeiden nach Möglichkeit Rechtsstreitigkeiten und Gerichtsverfahren. Daher ist es wahrscheinlich, dass eine Plattform ein Verfahren anwendet, das eher zu viel als zu wenig löscht. Es ist nicht verwunderlich, dass in vielen Fällen die Prüfung des möglichen illegalen Charakters des Inhalts und die Abwägung der betroffenen Rechte minimal bleibt. Dies dürfte zur präventiven Übersperrung von völlig legitimen Inhalten führen, auch „Overblocking“ genannt.
Schließlich sind die internen Prozesse der großen Plattformen intransparent. Das macht es unmöglich, objektiv zu analysieren, wie effektiv oder präzise die von ihnen geschaffenen Maßnahmen sind.
Wohin die Reise geht
Seit der Verabschiedung der e-Commerce-Richtlinie haben einige wenige Plattformen im Internet eine große Marktmacht erlangt, sie nehmen eine immer aktivere Rolle ein und verfügen über unglaubliche Mittel – technologisch wie auch finanziell. Es stellt sich also immer mehr die Frage, ob die Regeln zum Haftungsausschluss noch zeitgerecht und angemessen sind.
Hinzu kommt ein kontroverser Trend auf EU-Ebene, der die Regeln der e-Commerce-Richtlinie über den Haufen wirft: Plattformen müssen vermutlich bald proaktive Maßnahmen einsetzen, um Inhalte zu identifizieren und zu filtern oder den Zugang zu ihnen zu sperren – was meist automatisierte Technologien bedeutet, etwa Uploadfilter.
Die EU-Kommission schlug in den vergangenen Jahren mehrfach Regelungen vor, die auf automatisierte Systeme hinauslaufen. Ein Beispiel ist die Urheberrechtsreform, aber auch die Revision der Richtlinie über audiovisuelle Mediendienste und der Vorschlag zur Verhinderung der Verbreitung terroristischer Online-Inhalte. Im Hinblick auf den Schutz der Meinungsfreiheit wäre es ratsam, den horizontal geltenden sicheren Hafen für Provider nicht abzuschaffen – jedoch wird dieser bereits durch die genannten legislativen Initiativen vertikal ausgehebelt.
Die Frage ist also nun, wie die e-Commerce-Richtlinie überarbeitet wird. Fest steht, dass eine Revision auch Chancen bietet. Bisher unscharfe Begriffe könnten geklärt, es könnte endlich harmonisiert sowie mehr Rechtssicherheit geschaffen werden. Es könnte endlich ein weitaus klareres, abgestuftes System für Europa eingeführt werden, das die Meinungsfreiheit wahrt und Vorschläge der Zivilgesellschaft sowie aus der Wissenschaft beachtet. Beispiele dafür sind die „Prinzipien“ von Manila oder Santa Clara.
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