Antisemitischer Anschlag von HalleDer Livestream ist nicht das Problem

Nach dem gestreamten Anschlag von Halle war eine der Fragen, die Medien stellen, wie man Livestreaming in Zukunft verhindern könne. Doch die Frage führt in die falsche Richtung. Mit technischen Lösungen lässt sich rechter Terrorismus schlecht bekämpfen. Ein Kommentar.

Dach
Dach der Synagoge in Halle. [Bild mit Filter] CC-BY-SA 4.0 Allexkoch / Filter: netzpolitik.org

Der Attentäter von Halle hat seine Taten per Helmkamera live auf der Plattform Twitch ins Internet gestreamt. Es war Teil seines Konzepts, bei dem das internationale Publikum eine feste Rolle spielt.

Wie hätte man den Livestream unterbinden können? Wie bereits nach dem Attentat von Christchurch stellen Medien diese Frage. Sie führt aber in eine falsche Richtung, denn der Livestream ist nur ein Puzzlestück in dieser neuen Form des rechten Terrorismus, der sich seine tödliche Verschwörungstheorie aus den in der Gesellschaft weit verbreiteten Ideologien Antifeminismus, Rassismus und Antisemitismus zusammenstrickt.

Ideologie des „Großen Austausches“ auch in der AfD

Die wichtigen Fragen sind doch: Wie konnte es soweit kommen, dass einer der ideologischen Grundpfeiler des Attentäters, nämlich die Verschwörungsideologie des „Großen Austausches“, nicht nur unter Nazis, Identitären und AfDlern Anklang findet, sondern bis in die CDU/CSU diskutiert wird? Und warum erweisen etablierte Medien, allen voran die Bild-Zeitung, dem Attentäter einen Dienst und verbreiten seine Bilder? Während der Livestream auf der Gaming-Plattform Twitch laut Aussage des Unternehmens fünf Menschen erreichte, die Aufzeichnung später von 2.200 gesehen wurde, spielt die Bild-Zeitung Millionen Menschen den vollen Namen, die Bilder und die Botschaften des Attentäters in die Newsfeeds und in die Zeitung.

Warum zeigen Medien sein Gesicht, ikonisieren den Attentäter darüber zusätzlich? Warum nennen sie seinen Namen, machen ihn unsterblich dadurch? Warum dämonisieren sie ihn und werten ihn damit auf? Das alles hat der Kriminalpsychologe Jens Hoffmann treffend beschrieben. Nachahmungstäter werden durch diesen falschen medialen Umgang motiviert.

Und zuletzt müssen wir uns fragen: Warum werden zivilgesellschaftliche Initiativen gegen Rechtsextremismus von der Bundesregierung gegängelt und zusammengespart? Warum werden Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus verharmlost, indem sie ständig mit Linksextremismus gleichgesetzt werden?

Kein Tech-Fix gegen Terror

Eine Beschränkung des Livestreamings im Internet, zum Beispiel durch Zeitverzögerungen, würde nicht nur alle Live-Interaktionsformate zerstören. Sie wäre eine reale Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit. Einmal eingeführte gesetzliche Beschränkungen können ausgeweitet werden und zu einem Overblocking legitimer und legaler Inhalte führen. Wer garantiert, dass neue Regulierungen nicht von autoritären Staaten dazu genutzt werden, um die Verbreitung der Livestreams von demokratischen Protesten einzuschränken?

Livestreams bieten den Rezipient:innen einen weniger gefilterten Einblick auf Ereignisse und sind so ein wichtiger Pfeiler für die Meinungsbildung geworden. Livestreams haben das „Live“ demokratisiert. Sie erlauben heute, bei Veranstaltungen und Protesten dabei zu sein – auch wenn Fernsehsender nicht live übertragen.

Jede Einschränkung von Livestreams ist mit der Gefahr verbunden, dass wir diese mediale Fortentwicklung und damit Medienvielfalt verlieren. Wer die Verbreitung der Bilder und Botschaften von Attentätern wie in Halle eindämmen will, braucht dazu keine Livestream-Regeln. Eine Diskussion über den Pressekodex und vor allem die Anerkenntnis, dass Deutschland ein echtes Problem mit Rechtsterrorismus und den geistigen Brandstiftern von AfD & Co hat, wäre deutlich zielführender.

11 Ergänzungen

  1. Es gibt noch ein anderes Problem bei der Aufarbeitung des Anschlags.
    Der Attentäter war eindeutig rechtsradikal und antisemitisch. Aber erwischt hat es Andere und die werden in der öffentlichen Berichterstattung maximal als Fussnote erwähnt.
    Deren Schicksal scheint niemanden zu interessieren, obwohl sich bei dem Tathergang deutlich gezeigt hat das es jeden erwischen kann, egal welcher Weltanschauung man anhängt oder welche Hautfarbe man hat. Man muss nur zufällig im Weg stehen.
    Weiter zeigt sich das rechte Gewalttäter wohl doch etwas problematischer als Linke Autoanzünder (war ja damals in Berlin dann doch kein Anarchist sondern ein frustrierter Arbeitsloser) sind.
    Was die Gamer betrifft denen jetzt der Staat besonderes Interesse entgegenbringen will, die meisten die ich kenne wären außerstande eine echte Waffe richtig zu halten oder handzuhaben.

  2. >>die meisten die ich kenne wären außerstande eine echte Waffe richtig zu halten oder handzuhaben.
    Was (zum Glück) bei diesem Nazi-Idioten auch der Fall war, sonst hätte es noch weitaus mehr Opfer gegeben

    >der Livestream ist nur ein Puzzlestück in dieser neuen Form des rechten Terrorismus
    IMHO gibt es keine Unterscheidung bei Terrorismus, egal ob er on rechts, von links, radikal christlich (Breivik), radikal islamistisch (Enthauptungsvideos) oder sonstwie geprägt ist

  3. Das anderthalbfache Doppel-D Problem: „[D]igital“ führt zu „[d]ie da wo sind“, und das trifft dann immer alle, [d]ie irgendwo sind.

    Die Vorstellungskraft ist begrenzt und der Konsens scheint zu sein, Demokratie abzubauen, egal wie, der Kompromiss an sich ist offenbar Mittel zu diesem Zweck. Hier zeigt sich die Schwäche des Parteiensystems, weil es viel zu schwierig ist, Leute wieder rauszu-x-en, vor allem, wenn das mit der repräsentativen Demokratie mangels Verantwortungsbewusstsein nicht hinhaut. Das ist das anderthalbfache Doppel-H Problem: Die [H]emmschwelle ist dann nämlich oft „meine [Heinrichs] sind doch die Besseren [Heinrichs]“.

    Systeme die so bauen, können unmöglich langfristig bestehen. Kurze Frist ist jetzt König, also warum gibt man den [Doppel-] [Heinrichs] dann nicht eben eine solche „kurze Frist“?

  4. „per Helmkamera live auf der Plattform Twitch ins Internet gestreamt“ zusammen mit „Twitch is the world’s leading live streaming platform for gamers and the things we love.“ und „Twitch is a live streaming video platform owned by Twitch Interactive, a subsidiary of Amazon.“ und nicht vergessen „You agree that you will comply with these Terms of Service and Twitch’s Community Guidelines and will not: i. create, upload, transmit, distribute, or store any content that is inaccurate, unlawful, infringing, defamatory, obscene, pornographic, invasive of privacy or publicity rights, harassing, threatening, abusive, inflammatory, or otherwise objectionable; “

    Amazon hat also alles richtig gemacht.

      1. Ich, glaube ich auch nicht.

        In der „Rundfunklizenzen für Streamer?“ Debatte gab’s mal eine Absatz beim heise.de
        „Ganz überflüssig sei die für klassische TV-Sendern geschaffenen Regeln der Medienaufsicht aber auch bei YouTubern und Twitch-Streamern nicht, betonte Schmid: „Medien haben auf die Gesellschaft eine andere Wirkung als eine Schraubenfabrik“. Auch habe das Bundesverfassungsgericht die besondere Wirksamkeit audiovisueller Medien bestätigt, die eine staatliche Aufsicht notwendig mache.“

        Wer etwas überträgt, trägt eine gewisse Verantwortung, und imho ein Zeitversatz für Leute die Sport, Hobby oder Veranstaltungsberichte übertragen wollen, wäre zumutbar und eben im Zeitversatz moderierbar – die Platformbetreiber bekommen eine Haftung. Alle anderen, die ‚live‘ brauchen, melden sich als natürliche Person an und leben damit.

        1. Das verhindert garnichts. Die Idioten leugnen den Holocaust unter Klarnamen und die anderen Idioten werden den Anschlag „unter Klarnamen“ durchführen.

          Das weist also in die Richtung des „Waffenscheines für den Streamer“, ergo Zugangskontrolle alias Zensur.

          Wenn überhaupt, so ist der Zeitversatz Folge einer Teilautomatisierten Prüfung des Inhaltes, was dann aber wieder entweder höhere Latenz, wie sie eh immer mal sein kann wäre, oder eben einer Aufzeichnung gleichkommt. Aufzeichnung…. Zugangskontrolle…. großflächige Zensur.

          Also vielleicht KI-basierte Prüfung mit Menschen, die Stichprobenartig und auch auf Zuruf der KI draufgucken … also kostet Streaming Geld, und anbieten kann es … Google, F…. GMAFIA. „Zumutbar“ für Milliardenkonzerne – zufällig greifen da auch andere Filter, und die nächsten zwei, drei Schritte für das ganze Gefiltere kennen doch hoffentlich schon alle auswendig, oder?

  5. Ich bin mir nicht sicher ob das Weglassen von Bild und Name nicht auch in andere Richtungen kontraproduktiv sind. Wer auf Reddit, in den Sozialen Medien etc. in der Zeit nach dem Anschlag aktiv war, der hat bestimmt mehrfach mitbekommen wie aktiv falsche Informationen verbreitet wurden: Es sei ein Islamist, er käme aus dem Irak und vergleichbares. Trotz der Bilder des Täters hielten sich diese mehr oder minder bis der Name und die Herkunft durch die Presse gingen. Erst dann ebbte die Missinformation ab.

    Daher bin ich eben nicht sicher ob ein Weglassen von solchen Informationen dann nicht eben einen Raum schafft, der mit Verschwörungstheorien und Falschinformationen gefüllt wird – oftmals solchen, die eben genau die Art von Rechtsterrorismus selbst befördern. Genau diese Diskussion gibt es ja bei einigen schweren Straftaten (Mord, Vergewaltigung, …), dass eine nicht-Nennung des Namens angeblich immer ein Zeichen dafür ist, dass sie von einer Person mit Migrationshintergrund ausgeführt worden wäre und „die Mainstreammedien“ dies mal wieder verschweigen oder unter den Tisch kehren wollen.

    Vielleicht muss man also einen Mittelweg finden. Zum Beispiel bei dem die Polizei bei solchen Taten im Sinne des öffentlichen Interesses (und auch nur nach z.B. richterlicher Aufhebung des Namensschutzes) den vollen Namen und das Bild veröffentlicht, gleichzeitig aber die Presse dies eben (freiwillig) nicht tut. Auf diese Weise übernimmt die Institution, welche auch die Ermittlungen führt gleichzeitig die Aufgabe der gesicherten Auskunft, aber diese existiert nur an einer Stelle und wird nicht öffentlich breit glorifiziert.

    1. Gegenüber dem Weglassen von Informationen steht vielleicht auch das Prinzip, wer am schnellsten am lautesten schreit. Welche ethische Basis kann man von Medien erwarten?

      Vielleicht könnte man die Informationspflicht verschärfen, d.h. Medien, die berichten, dürfen nicht „weglassen“… dann wiederum die Frage, wer die tatsächlich verfügbaren „Informationen“ kontrolliert.

      Das ist ohne freiwillige Ethikverpflichtung und Praxis schwer vorstellbar, es sei denn durch Einführen von Zwangs-Presse-Informationsstellen, die im günstigen Falle zusammentragen und aufbereiten, was es wo auch immer gibt, im typischen Falle aber zur Kontrolle der Information benutzt würden.

      Die Idee, das mit Humor zu lösen, und die Infomationsgewalt der Satireszene zu überlassen, finde ich ja garnichtmal so schlecht. Denn nur, wenn ab und zu der Recherchewille der Beteiligten geprüft wird… das könnte ein echtes Konzept sein, um unterscheiden zu können, wieviel Mühe sich die Medien so geben [können].

      1. Wer weiß was als nächstes kommt … Kinos, Theater, Mehrzweckhallen… vielleicht wenn die „digital first“ Welle so weit geschwappt ist, dass den Innenministern droht, etwas wieder zurückehmen zu müssen… dann kommt die „reale Welt“ wieder dran, um den Pegel anzugleichen. Ewiges Wachstum… bis die Physik einschreitet.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.