Überwachungstest am Südkreuz: Geschönte Ergebnisse und vage Zukunftspläne

Während Innenminister Horst Seehofer die Leistungsfähigkeit der am Bahnhof Südkreuz getesteten biometrischen Überwachungstechnik preist, übt der Chaos Computer Club deftige Kritik an dem jüngst veröffentlichten Abschlussbericht. Die Liberalen im Bundestag bringen mit einer Kleinen Anfrage unterdessen irittierende Details zur zweiten Testphase ans Licht. Wir veröffentlichen die Antworten.

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Nach langem Warten war es letzte Woche soweit: Für den biometrischen Test am Berliner Bahnhof Südkreuz hat die Bundespolizei den Abschlussbericht vorgelegt – und erntet dafür drastische Kritik. Abgeschlossen ist die Südkreuz-Versuchsreihe damit allerdings noch nicht. Ab Anfang nächsten Jahres beginnt ein weiterer Test, zu dem durch eine parlamentarische Anfrage der Liberalen im Bundestag nun neue Details bekannt sind. Die Antworten der Bundesregierung zu beiden Testphasen in Südkreuz veröffentlichen wir.

Seit dem Sommer letzten Jahres lief der Test zur automatisierten Gesichtserkennung am Bahnhof Südkreuz. Für den Feldversuch waren freiwillige Biometrie-Probanden angelockt und für die sonstigen Passanten Schilder zum Ausweichen auf den Boden geklebt worden. In der Bahnhofshalle, auf einem Teil der Treppe und auf der Rolltreppe wurde dann mit mehreren Kameras Gesichtserkennungssoftware von drei unterschiedlichen Anbietern getestet.

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Die Bodenmarkierung vor der Treppe zeigt an, welcher Bereich biometrisch überwacht wird. - Benjamin Kees

Die Bundespolizei, das Bundeskriminalamt, das Bundesinnenministerium und die Deutsche Bahn zeichneten gemeinsam für den Versuch verantwortlich. Allzu auskunftsfreudig zu den technischen Details gaben sich die Behörden und das Ministerium von Anfang an nicht. Stattdessen inszenierte der damalige Innenminister Thomas de Maizière sein Prestigeprojekt medienwirksam durch einen Besuch und lobte dabei schon vor Ende des Tests die Leistungsfähigkeit der neuen Überwachungstechnik. Aussagekräftige Zahlen zum Test behielt er der Öffentlichkeit monatelang vor. Selbst die Namen der drei getesteten kommerziellen Anbieter ließ sich das Ministerium erst nach vielen Nachfragen aus der Nase ziehen: Anyvision von Elbex, Biosurveillance von Herta Security (mit Dell) und Morpho Video Investigator von Idemia.

Abschlussbericht: CCC kritisiert unwissenschaftliche Schönfärberei

Umstritten sind die nun endlich veröffentlichten Zahlen und die Testbedingungen, die dem Südkreuz-Abschlussbericht [PDF] zu entnehmen sind. In der dazugehörigen Pressemitteilung betonte das Innenministerium die Trefferrate von über achtzig Prozent, die in Kombination mit einer Falscherkennungsrate von unter 0,1 Prozent als Erfolg gewertet wird. Als nun zuständiger Minister erklärte Horst Seehofer, was sein Vorgänger schon zu wissen glaubte: Die biometrischen Systeme hätten sich in beeindruckender Weise bewährt. Wie de Maizière hält er die Technik für einsatzbereit durch die Polizei. So bewahrheitet sich die schon 2017 gemachte Vorhersage der Bundesregierung, der Südkreuz-Test werde ein Erfolg.

Nach einer Analyse des Chaos Computer Clubs (CCC) erhält diese Bewertung jedoch erhebliche Kratzer. In einer detaillierten Stellungnahme attestiert der Hackerverein dem Testbericht Schönfärberei, Realitätsferne und eine unwissenschaftliche Herangehensweise. Unter anderem geht es um die Erkennungsraten, die bei den Standorten der Kameras am Bahnhof teilweise inakzeptabel schlecht seien. Einer der drei getesteten Biometrieanbieter konnte beispielsweise am Eingang zur Bahnhofshalle nur eine Trefferrate von mageren 18,9 Prozent erreichen, die tagsüber sogar auf nur zwölf Prozent fiel. Bei solchen Werten könne man laut CCC den Test nicht als Erfolg hinstellen, vielmehr sei der Anbieter „glatt durchgefallen“. „Selbst das beste der drei getesteten Systeme“ hätte an diesem Kamerastandort nur eine Trefferquote von 65,8 Prozent erreicht.

Die angeblich so positive durchschnittliche Erkennungsrate von 80 Prozent sei in Wahrheit bei keinem der erprobten Hersteller gemessen worden, sondern sei eine imaginäre Zahl, die rechnerisch ermittelt und nur erreicht werden könne, wenn man alle drei Testsysteme gleichzeitig nutze. Insgesamt sei die Auswertung der Gesichtserkennungsergebnisse nicht überzeugend und auch „absichtlich geschönt worden“. Generell könne „die gesamte Auswertung nicht als wissenschaftlich angesehen“, sondern müsse „als PR-Bericht verstanden werden“. Der Schluss der Hacker: Der Bericht werde absichtlich zugunsten des politisch gewünschten Ergebnisses verzerrt.

Zugleich weist der CCC darauf hin, dass die statistischen Ergebnisse der Gesichtserkennung und generell die Diskussion um die Erkennungsraten nicht die politischen, juristischen und gesellschaftlichen Fragen der biometrischen Überwachung überdecken dürfen. Schließlich bedeutet eine permanente biometrische Identifikation durch Software im öffentlichen Raum eine bisher ungekannte Einschränkung der Freiheit.

Flächendeckender Einsatz trotz rechtlicher Zweifel?

In ihrer parlamentarischen Anfrage schlagen die Liberalen in dieselbe Kerbe und verweisen auf eine Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins [PDF]. Darin analysierte der DAV die geltende Rechtslage hinsichtlich des Südkreuz-Tests und verglich die „intelligente“ Videoüberwachung mit der herkömmlichen. Die Juristen kamen zu dem Schluss, dass bei dem Biometrie-Test anders als bei einer normalen Kamera eine Personenüberwachung durchgeführt wird. Dies ist nach Ansicht des DAV durch die derzeitige Rechtslage nicht gedeckt. Zudem verböten sich solche gravierenden grundrechtsrelevanten Einschränkungen des Persönlichkeitsrechts aufgrund verfassungsrechtlicher Erwägungen – zumal „ohne eine breite Diskussion in der Gesellschaft“.

Dieser Einschätzung widerspricht das Bundesinnenministerium in seiner Antwort an die FDP-Fraktion [PDF]: Das Gesetz über die Bundespolizei (BPolG) genüge als Rechtsgrundlage für den bis zum 31. Juli 2018 durchgeführten Südkreuz-Test. Schließlich hätten die Testpersonen in die Gesichtserkennung eingewilligt. Außerdem seien die erhobenen Daten „innerhalb der gesetzlichen Speicherfristen wieder gelöscht“ worden. Daher könne von einem grundrechtsrelevanten Eingriff nicht die Rede sein, jedenfalls keinem, „der über den mit der konventionellen Videoüberwachung einhergehenden Eingriff wesentlich hinausgeht“. Es sei auch „kein Ziel eines etwaigen Einsatzes von intelligenter Videoüberwachung“ durch die Bundespolizei, „sämtliche videografierten Personen automatisch anhand der Biometrie zu identifizieren“.

Konkret interessieren die Liberalen die Konsequenzen der Testergebnisse für einen etwaigen flächendeckenden Einsatz von biometrischen Gesichtserkennungssystemen. In ihrer schriftlichen Antwort drückt sich die Bundesregierung jedoch um eine greifbare Aussage. Man habe feststellen wollen, ob durch den Biometrieeinsatz ein „signifikanter Mehrwert für die Wahrnehmung der polizeilichen Aufgaben der Bundespolizei“ festgestellt werden könne. Das sei der Fall. Auf die eigentliche Frage nach den Konsequenzen für einen künftigen flächendeckenden Einsatz schweigt sich das Ministerium aus.

Die FDP-Abgeordneten lassen aber nicht locker und fragen explizit, ob die Bundesregierung einen flächendeckenden Einsatz an Bahnhöfen oder anderen öffentlichen Räumen plant und ab wann. Doch die „Meinungsbildung hierzu innerhalb der Bundesregierung ist noch nicht abgeschlossen“, winden sich die Ministerialen heraus.

FDP: Anonymität im öffentlichen Raum muss möglich bleiben

Auch auf eine Frage nach dem Risiko der fälschlichen Kriminalisierung von Unschuldigen durch fehlerhafte Identifizierungen reagiert die Bundesregierung ausweichend. Die Liberalen wollten wissen, wie sie mit der hohen Anzahl Falsch-Positiver-Fälle umzugehen gedenkt. Doch das Problem existiert nach Auskunft der Regierung gar nicht wirklich, schließlich habe es sich doch nur um einen Test gehandelt. Für den „Wirkbetrieb“ sei die Prüfung dieses Problems „noch nicht abgeschlossen“.

Die ausweichenden Antworten befriedigen Jimmy Schulz, Abgeordneter der FDP und Vorsitzender des Ausschusses für Digitale Agenda, nicht. Gegenüber netzpolitik.org erklärt er:

Völlig unklar bleibt, wie genau die Unterstützung der intelligenten Videoüberwachung bei der Polizeifahndung konkret geregelt wird. Eine fälschliche Erkennung könnte zu erheblichen Nachteilen für die betroffenen Personen führen – zum Beispiel durch verdeckte Überwachung bis hin zu einer vorläufigen Festnahme. Das wäre ein enormer Eingriff in die Grundrechte völlig unschuldiger Bürgerinnen und Bürger und muss unbedingt verhindert werden.

Denn auch über Details zu den juristischen Planungen nach dem Ende des Versuchs schweigt sich das Ministerium aus. Konstantin Kuhle, innenpolitischer Sprecher der FDP, fordert daher, Grenzen für die biometrische Überwachung zu definieren:

Intelligente Videoüberwachung ist ein stärkerer Eingriff in die Grundrechte als konventionelle Videoüberwachung. Keinesfalls darf das Maß an intelligenter Videoüberwachung nach dem Pilotprojekt am Berliner Südkreuz schleichend erhöht werden. Stattdessen müssen die Voraussetzungen und Grenzen intelligenter Videoüberwachung in einer bereichsspezifischen Rechtsgrundlage geregelt werden. In diesem Zusammenhang muss sichergestellt werden, dass Bürgerinnen und Bürger sich auch weiterhin anonym im öffentlichen Raum bewegen können.

Zweite Testphase: Kein Bedarf an ethischen Richtlinien

In einer zweiten Phase wird am Südkreuz künftig Software getestet, die automatisiert vordefinierte Gefahrenszenarien erkennen soll. Viele Details zu den kommerziellen Anbietern und dem Ablauf des Tests gibt die Bundesregierung in ihrer Antwort allerdings nicht preis. Man wolle „voraussichtlich im Januar 2019“ starten, der genaue Testbereich stehe aber noch nicht fest. Die Deutsche Bahn führe außerdem noch „mit drei Herstellern intelligenter Videoanalysesysteme Gespräche über eine Teilnahme“. Da sei noch nichts endgültig, so die Bundesregierung. Auch ein Datenschutzkonzept liege noch nicht vor. Für etwaige ethische Richtlinien, nach denen die Liberalen gefragt hatten, sieht die Regierung keinen Bedarf.

Die Liberalen wollten außerdem wissen, ob in dieser Testphase neben der Anomalieerkennung auch biometrische Bildabgleiche mit Testpersonen vollzogen werden. Das wird in der Antwort klar verneint, ein solcher Abgleich „erfolgt nicht“. Im zweiten Teilprojekt komme gar keine biometrische Gesichtserkennung zum Einsatz.

Ein Detail ist der Antwort der Bundesregierung allerdings zu entnehmen, das die Passanten in Südkreuz interessieren könnte: Man werde „mit Hilfe von freiwilligen Darstellern“ einzelne Testszenarien direkt im Bahnhof ausprobieren. Beispielsweise plane man, „liegende Personen zu simulieren“. Dadurch wolle man die Systeme zur intelligenten Videoanalyse testen.

Nachdem die Hinweise auf die biometrische Videoüberwachung inzwischen alle entfernt wurden, könnten Pendler und Touristen am Südkreuz also ganz neue Hinweisschilder entdecken: „Wir testen für Sie! Bitte gehen Sie ohne ruckartige Bewegungen weiter. Die am Boden liegenden Personen sind nur freiwillige Darsteller.“

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4 Ergänzungen

    1. Nun ja, dank ZITIS liefert dann eben ihr trojanisiertes Smartphone das biometrische Material.

      Das ist ja das tolle an einer (marktkonformen) Demokratie: Man darf laut blöken.

      Wie ein Schaf auf der Wiese.

      Geschoren wird es trotzdem.

      PS: Die FDP ist bei der kommerziellen Überwachungsindustrie unter Vertrag. Alles Nebelkerzen.

  1. Was man auch bedenken muss: Diese freiwilligen Teilnehmer hatten einen Anreiz, sich möglichst oft erkennen zu lassen. Das heißt, in den Ergebnissen ist schon enthalten, dass die erkannten Personen meistens absichtlich freundlich in die Kamera gelächelt haben statt aufs Handy zu schauen oder etwa einen Hut zu tragen.

    1. @Krabbler
      „Diese freiwilligen Teilnehmer hatten einen Anreiz, sich möglichst oft erkennen zu lassen.“
      „Nützliche Idioten“ verkaufen sogar den Strick,an denen man Sie aufknüpft.

Dieser Artikel ist älter als ein Jahr, daher sind die Ergänzungen geschlossen.