Nutzung des Schengener Informationssystems zur „verdeckten Registrierung“ von Reisenden nimmt um 30 % zu

sisII_EnDie heimliche Verfolgung von Personen und Sachen steigt nach einem Bericht der EU-Kommission rapide an. Der jüngste „Halbjahresbericht zum Funktionieren des Schengen-Raums“ meldet eine 30 %ige Zunahme bei der Zahl der betreffenden Ausschreibungen im Schengener Informationssystem (SIS). Dies sei Statistiken zu entnehmen. Gründe werden in dem Papier nur angedeutet: Demnach habe sich die Kommission „effektiv“ daran beteiligt, Lösungen für eine „intensivere Nutzung“ der digitalen SIS-Spitzelei zu finden.

Die „verdeckte Kontrolle“ bzw. „verdeckte Registrierung“ war zunächst als Artikel 99 im Schengener Durchführungsübereinkommen (SDÜ) geregelt worden. Damit erstrecken sich die Maßnahmen nicht nur auf das Gebiet der Europäischen Union, sondern auch die am Schengener Abkommen teilnehmenden Länder Schweiz, Island und Norwegen.

Von Interesse sind Daten über Personen oder Fahrzeuge, darunter auch Wasserfahrzeuge, Luftfahrzeuge und Container. Während das Antreffen von Personen lediglich unbemerkt protokolliert wird, können die Sachen auch durchsucht werden. Die Maßnahme darf sowohl zur Strafverfolgung als auch zur Gefahrenabwehr vorgenommen werden: Etwa wenn „konkrete Anhaltspunkte“ vorliegen, dass schwere Straftaten geplant oder begangen werden. Als Erwägungsgrund gilt aber auch, wenn eine „Gesamtbeurteilung des Betroffenen“ erwarten lasse, dass auch künftig außergewöhnlich schwere Straftaten begangen würden. Schließlich eröffnet der ebenfalls vorgesehene Einsatz im Falle einer „erheblichen Gefährdung oder anderer erheblicher Gefahren für die innere oder äußere Sicherheit des Staates“ weitere Anlässe für eine „verdeckte Kontrolle“ mithilfe des SIS.

Nachträgliche Unterrichtung kann unterbleiben

Die Forderung nach einer „verdeckten Kontrolle“ bzw. „verdeckten Registrierung“ kann von jedem EU-Mitgliedstaat vorgenommen werden. Immer wenn die heimlich Verfolgten innerhalb des Schengen-Raums angetroffen werden, erfolgt eine Meldung an diese ausschreibende Polizeidienststelle. Bei „Grenzkontrollen und sonstigen polizeilichen und zollrechtlichen Überprüfungen“ werden der ausschreibenden Stelle dann eine Reihe von Daten übermittelt. Hierzu gehören Ort, Zeit und Anlass der Überprüfung, Reiseweg und Reiseziel, Begleitpersonen oder Insassen sowie mitgeführte Sachen. Die Fahrzeuge können auch unter einem Vorwand durchsucht („kontrolliert“) werden. Sofern dies in einem einzelnen Mitgliedstaat aus bestimmten Gründen unzulässig ist, wird aus einer „verdeckten Kontrolle“ automatisch eine „verdeckte Registrierung“.

In der Neufassung des „Schengener Informationssystems“ der zweiten Generation (SIS II) wurde der frühere im SDÜ festgelegte Artikel 99 nun als Artikel 36 gefasst. Neu hinzugekommen ist ein Paragraf, der nach Beendigung der Maßnahme eine nachträgliche Benachrichtigung vorsieht. Sofern Ausschreibungen von deutschen Polizeibehörden in das SIS eingegeben worden sind, erfolgt die Benachrichtigung im Einvernehmen mit dem Bundeskriminalamt (BKA). Eine etwaige Löschung müssen die ausschreibenden Landes- oder Zollbehörden gegenüber dem BKA bestätigen. Sofern eine Unterrichtung dann trotzdem unterbleiben soll, braucht es eine gerichtliche Zustimmung. Fünf Jahre nach Beendigung der Ausschreibung kann das Gericht dem „endgültigen Absehen von der Benachrichtigung“ zustimmen.

Komplizierter ist die nachträgliche Unterrichtung, wenn ein anderer Mitgliedstaat die Daten in das EU-Fahndungssystem eingegeben hat. Sind etwa deutsche Staatsangehörige betroffen, darf das BKA eine Auskunft nur erteilen, wenn dem ausschreibenden Mitgliedstaat vorher Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wird. Auch hier kann die Auskunftserteilung unterbleiben, wenn dies aus polizeilicher Sicht „unerlässlich ist“.

Bei der Umsetzung des neuen SIS II kommt es anscheinend zu weiteren Problemen bei Ausschreibungen. Im Bericht der Kommission heißt es hierzu, mehrere Mitgliedstaaten würden diese nicht fristgerecht löschen. Nicht mehr relevante Ausschreibungen könnten den betroffenen Personen aber „Unannehmlichkeiten bereiten und Schäden zufügen“. Als Hauptgründe für das verspätete Löschen führt die Kommission das Fehlen von Verfahren und Kontrollen durch die zuständigen nationalen Behörden an, auch fehle es teilweise an klaren Rechtsvorschriften. So sei häufig kein Zeitpunkt, wann eine Ausschreibung gelöscht werden muss, festgelegt.

Andere Ausschreibungen seien sogar ungültig, etwa wenn eine Aufforderung zur Festnahme nicht mit einem Europäischen Haftbefehl verknüpft würde. In welchen Ländern die Verfehlungen vorkommen, teilt die Kommission nicht mit. Man wolle aber an die „betroffenen Mitgliedstaaten“ herantreten, „um die Situation zu klären“. Gegebenenfalls würden aber auch Untersuchungen eingeleitet.

Höhere Trefferquote durch Abfragen mehrerer Kategorien

Das SIS erweise sich laut der Kommission als ein „wichtiges Hilfsmittel bei der Verfolgung von Terroristen und reisenden kriminellen Banden“. Seit einem Jahr kann das SIS auch Anhänge, darunter biometrische Daten, speichern. Womöglich hat dies zum Anstieg der heimlichen Kontrollen geführt: Denn die Kommission lobt das SIS als auch in jenen Fällen erfolgreich, in denen Personen ihre Identität geändert haben oder gefälschte Ausweispapiere genutzt wurden.

Mit der Einführung des SIS II wurden in den einzelnen Mitgliedstaaten auch neue Endnutzersysteme eingerichtet oder Upgrades der bestehenden Systeme vorgenommen. Laut der Kommission hätten viele Mitgliedstaaten Lösungen umgesetzt, um parallel mehrere SIS-II-Abfragen nach verschiedenen Kriterien vornehmen zu können. Die Trefferquote habe sich dadurch im Vergleich zum früheren SIS um 3,5 % erhöht. Die Kommission will nun eng mit den Mitgliedstaaten zusammenarbeiten, um die neuen Funktionen des SIS II „in vollem Umfang zu nutzen“.

Sachverständige der neuen Agentur für IT-Großsysteme sowie aus den Mitgliedstaaten bewerten nun mit dem Europäischen Datenschutzbeauftragten die Effizienz nationaler Sicherheitsmaßnahmen. Die Empfehlungen sollen bis Ende Juni vorliegen. Auch der Hackerangriff auf die dänische Kontaktstelle des SIS von 2011 wird ernst genommen. Inwiefern sich die Prüfung auf das Verfahren wegen des Hacks in Dänemark auswirkt, bleibt unklar: Bislang gilt der Pirate Bay-Mitgründer Gottfrid Svartholm Warg als Täter, er bestreitet jedoch jede Schuld. Pikantes Detail: Das dänische SIS-Endnutzersystem wurde zum Zeitpunkt des Hacks von einer Tochterfirma des US-Konzerns Computer Sciences Corporation (CSC) betrieben. Die auch in Deutschland aktive CSC ist wie Booz Allen Hamilton für ihre allerbeste Kooperation mit US-Geheimdiensten bekannt.

Weiterer Ausbau der heimlichen SIS-Fahndungen angestrebt

Nun zeichnet sich ein weiterer, womöglich drastischer Anstieg von „verdeckten Kontrollen“ oder „verdeckten Registrierungen“ ab: Diese sollen vermehrt gegen sogenannte „ausländische Kämpfer“ („foreign fighters“) genutzt werden. Gemeint sind Personen, die sich in einem Mitgliedstaat „radikalisieren“ und dann islamischen bewaffneten Gruppen anschließen, etwa in Syrien. Anschließend kehrten sie gut ausgebildet in die EU zurück und erwiesen sich teilweise als „tickende Zeitbomben“.

Der „Terrorismusbeauftragte“ der EU hatte mit dem Auswärtigen Dienst vergangenen Sommer ein Papier vorgelegt, in dem Maßnahmen gegen „ausländische Kämpfer“ vorgeschlagen werden. Schon damals war die Rede von der Nutzung des SIS als „Alarmsystem“. Dann könnten auch neue Zwangsmaßnahmen erfolgen: Das Magazin FOCUS berichtet, die Innenminister der 16 deutschen Bundesländer wollten nächste Woche in Bonn über Ausreiseverbote für „in Deutschland lebende Salafisten“ diskutieren.

Der bayerische Innenminister schlägt hingegen vor, die betreffenden Personen zwar ausreisen zu lassen, sie jedoch an einer Wiedereinreise nach Deutschland zu hindern. Anschläge wie jener in Brüssel, der mutmaßlich von dem französischen Staatsbürger Mehdi Nemmouche verübt wurde, sollen derart verhindert werden. Denn auch Nemmouche war bereits im SIS II oder einem anderen grenzüberschreitenden Fahndungssystem gespeichert: Deutsche Grenzpolizisten hatten den Weg des aus Syrien Zurückgekehrten über Malaysia, Singapur und Bangkok rekonstruieren können und eine Meldung an den französischen Geheimdienst gemacht.

Neue Vorratsdatenspeicherungen anvisiert

Schon jetzt gibt es zahlreiche Möglichkeiten des polizeilichen Datentauschs unter EU-Mitgliedstaaten. Ein Ende neuer Datensammlungen und damit verbundener Repressalien ist nicht abzusehen. Auf ihrem jüngsten Treffen in Luxemburg haben die EU-Innenminister beschlossen, noch mehr Informationen zu sammeln und auszutauschen. Auch die zunächst verworfene Einrichtung einer Passagierdatensammlung wurde anlässlich des Anschlags in Brüssel wieder aus der Versenkung geholt.

Der deutsche Innenminister de Maizière war mit seinem Staatssekretär Ole Schröder angereist. Beide warben für die Einrichtung einer weiteren, monströsen Datensammlung: In einem „Einreise-Ausreisesystem“ sollen alle Reisenden an Außengrenzen der Europäischen Union ihre Fingerabdrücke hinterlassen. Sogenannte „Vielreisende“ können ihre biometrischen Daten vorab auf einer Chipkarte hinterlegen und automatische Kontrollgates nutzen.

Anstatt die Nutzung dieser neuen Vorratsdatenspeicherung wie üblich nur für grenzpolizeiliche Zwecke zu erlauben, soll das „Einreise-Ausreisesystem“ nach Willen des deutschen Innenministeriums von Beginn an auch für die polizeiliche Nutzung offenstehen.

2 Ergänzungen

  1. Gestern habe ich ganz zufälllig in den Fernsehnachrichten gehört, dass die Innenminister eine bessere Zusammenarbeit der Geheimdienste fordern, damit man heimkehrende Syrienbesucher mit EU-Pass, die möglicherweise Terroranschläge in Europa planten, erkennen könne. Wenn ich den Artikel richtig lese, ist das bereits jetzt mit SIS kein Problem.

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